Kuba | Nummer 406 - April 2008

Reformierte Hoffnung

Ein stimmungsbericht aus Havanna nach den Wahlen

Der Wechsel von Fidel Castro zu Raúl Castro ist keine Interimslösung mehr. Nach den Wahlen zum Staatsrat am letzten Februarwochenende und der Kür von Raúl Castro zum Staatspräsidenten gibt es in der kubanischen Bevölkerung Hoffnung, aber keinen Enthusiasmus.

Rainer Schultz

Havanna schwitzt. Während Raúl Castro seine Antrittsrede hält, zeigt das Thermometer über 30 Grad, ungewöhnlich heiß für den kubanischen Winter. Männer, für die bauchfreie Hemden verpönt sind, ziehen sich die Shirts über den Bauch hoch, damit die gelegentliche Brise vom Meer den Körper etwas kühlt.
Jede Schlange, an den Kinos, Bäckereien oder Bus­haltestellen, sucht unweigerlich den spärlichen Schatten. Oft werden dabei einige Worte über die neue Regierung gewechselt. „Dass Raúl gewählt wurde, war ja zu erwarten, aber Machado Ventura? Das ist kein gutes Zeichen“, fasst Sonia, eine 20-jährige Architekturstudentin die Meinung vieler junger Leute zusammen. Der 76-jährige Ventura gehört zur alten Garde der Parteiführung und gilt als kommunistischer Hardliner. Als erster Stellvertreter des Regierungschefs hat er nun die gleiche Position wie zuvor Raúl und würde in dessen Abwesenheit das Land regieren. „Viele von uns haben auf Carlos Lage gehofft. Es geht so einfach nicht weiter, es muss sich etwas ändern“, sagt Raiza, eine 60-jährige Englischlehrerin, die sich in den 1990er Jahren, während des Traumas der Spezialperiode, entgegen den meisten anderen Familienmitgliedern entschieden hat, in Kuba zu bleiben, weil sie von den Vorteilen der Revolution nach wie vor überzeugt ist.
Insgesamt zieht sich eine interessante Linie durch die Generationen: Diejenigen, die wie Raiza oder Orphelia noch die Zeit vor der Revolution erlebt haben, stehen trotz aller Schwierigkeiten hinter dem Projekt. Orphelia, 71, die durch ihre Eltern auch einen spanischen Pass besitzt und Verwandte in Spanien, den USA und anderen Ländern besucht hat, konnte sich nie dazu durchringen, ihr Land zu verlassen.
Die Generation, die mit der Revolution groß geworden ist und jetzt in ihrer produktiven Lebensphase steht, hat entweder eine Position im Staatsapparat oder in einem der neuen dynamischen Wirtschaftsbereiche gefunden – oder sie ist frustriert und spielt mit dem Gedanken, anderswo das Glück zu suchen.
Aber vor allem die jüngste Generation, diejenigen, die mit dem weltweiten Zusammenbruch des Sozialismus groß wurden und ihre Kindheit in den schwersten Tagen der Spezialperiode verbrachten, haben oftmals Schwierigkeiten mit den harten Realitäten eines blockierten und sich reformierenden sozialistischen Staats.
Auf einer Geburtstagsfeier junger Schauspieler­Innen und FernsehmoderatorInnen der Jugendmagazine beispielsweise kommt die Hoffnung auf ökonomische Liberalisierung an erster Stelle. Warum werden keine neuen Lizenzen für die Pizzastände oder Restaurants an der Straße ausgegeben, warum kann nicht jemand mit guten Ideen oder Geschick seine Dienste anbieten und damit anderen helfen, fragt Felix, ein 25-jähriger bleicher Layouter für Internetseiten, der vor allem nachts arbeitet.
Die offizielle Antwort: Seit 1993, in der tiefsten Krise nach dem Wegfall des europäischen Staatssozialismus, waren Kleinhandel und Dienstleistungen erlaubt, weil der Staat sich außer Stande sah, grundlegende Bedürfnisse zu decken. Seit dem neuen Jahrtausend jedoch, ist das Bruttoinlandsprodukt wieder an die 1990er Marke herangewachsen und die Hauptprobleme bei Transport, Wohnung und Ernährung haben abgenommen, auch wenn sie noch lange nicht zufriedenstellend gelöst sind. Seither zieht der Staat die Schrauben wieder an, vergibt weniger Lizenzen für neue „Unternehmen“. Je mehr Privatinitiative, umso ungleicher die Einkommen, so die Logik, auch wenn schon bisher private Restaurants oder Unterkünfte starken Auflagen unterliegen.
Wenn die Deviseneinkünfte beispielsweise aus dem Tourismus zentral über den Staat verwaltet werden würden, könnten sie besser auf die gesamte Bevölkerung umverteilt werden, also auch die 40 Prozent der Bevölkerung erreichen, die bisher keinerlei Zugang zur harten Währung haben. Bei Durchschnittslöhnen von umgerechnet 338 Pesos (circa 20 US-Dollar) ist es trotz der (unzureichenden, wenn auch fundamental wichtigen) staatlichen Subventionen für grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung, Transport, Bildung und Gesundheit, schwierig, zurechtzukommen. Rudolfo, ein 70-jähriger Militärarzt, der in Angola und Nicaragua gearbeitet hat und sich ganz und gar mit dem System identifiziert, flüstert mir am Imbiss zu: „Sie müssen hier ja stehlen, die Angestellten“. Er hatte mich nach seiner Auszeichnung zum 50. Jahrestag der revolutionären Streitkräfte zu einem Bier eingeladen und zu wenig Wechselgeld erhalten.
Inzwischen gibt es jedoch eine Vielzahl von Einkünften, die vor allem den Menschen in der Hauptstadt helfen, über die Runden zu kommen. Fast jeder musste sich etwas einfallen lassen: Miguel, Leiter eines pädagogischen Instituts, begann in den 1990er Jahren Reifen zu flicken. Gabriela, Dozentin an der Universität Havanna, vermietet ihre Wohnung an TouristInnen. Es kursieren Gerüchte über Reformen zur Vermietung von privaten Wohnungen.
Alisont, der in einem britischen Tourismusunternehmen in Havanna arbeitet, erzählt mir, dass in Zukunft sein Lohn auch offiziell in Devisen ausgezahlt werden soll, „damit der Staat darauf dann Steuern erheben kann“ – zwischen 10 und 20 Prozent seien geplant.
Unter dem Lack sozialistischer Errungenschaften, der jeden Tag im staatlichen Fernsehen und Radio poliert wird, werden Kratzer und Beulen sichtbar, mit denen ein künftiger Regierungschef eventuell anders umgehen wird. Eine offizielle oder auch nur öffentliche Debatte um Kubas künftige Regierungszusammensetzung gibt es jedoch nicht, ebenso wenig eine Debatte um ein etwaiges Programm oder notwendige Maßnahmen. Der jüngste Parteikongress, laut Statut alle fünf Jahre zu halten, fand zuletzt 1997 statt. Was man auf Nachfragen hört, sind deshalb zumeist Gerüchte.
In seiner Antrittsrede vor dem Parlament Mitte Februar kündigte Raúl Castro eine Reihe einschneidender und notwendiger Reformen an. Der Staat solle kompakter und effizienter werden, eine Vielzahl von Organismen, Regelungen und Verboten soll abgebaut werden, da sie aus einer anderen Epoche stammen, so der neue Präsident. Hierfür gibt es große Zustimmung aus der Bevölkerung und lediglich ein – allerdings einflussreicher und von den Reformen betroffener – Teil der Staatsbürokratie dürfte diesen Prozess bremsen.
Raúl Castros Andeutungen auf Veränderung während der 40-minütigen Rede blieben vage und so gibt es Hoffnung, aber keinen Enthusiasmus.
Ganz oben auf der Erwartungsliste der KubanerInnen stehen vor allem eine einheitliche Währung statt zwei Parallelwährungen (peso und peso convertible), mehr ökonomische Effizienz sowie eine weitere Verbesserung des Transports, der Wohnungssituation und der Ernährung. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Themen, die das alltägliche Leben erschweren.
Nach dem endgültigen Rückzug Fidels eine Woche vor den Wahlen zum Staatsrat erklang zunächst ein Orchester von Solidaritätsstimmen in den staatlichen Medien. Intellektuelle, Gewerkschaften, StudentInnen in Kuba und linke Gruppen und Regierungen weltweit wurden im kubanischen Fernsehen gezeigt. Die zentrale Botschaft: Alles bleibt so, wie es ist (todo se queda igual), nichts ändert sich (nada cambia). Dies stellte vor allem eine Reaktion auf die GegnerInnen der Revolution dar, vor allem in Washington, die sogleich die Notwendigkeit eines Übergangs betonten.
Seitdem laufen auf dem meterhohen Display der US-amerikanischen Interessenvertretung an der Flaniermeile Malecón in großen roten Buchstaben die US-amerikanischen Bedingungen für Wechsel und „Annäherung“: Freilassung politischer Gefangener, Mehrparteiendemokratie, etc. Diese Propaganda war darauf ausgerichtet, aus weiter Entfernung und für viele sichtbar zu sein, doch die kubanische Regierung vereitelte diese ideologische Offensive mit einem schwarzen Fahnenmeer.
„Als das Display neu installiert wurde, waren wir neugierig“, erklärt mir Lisandra, aber „inzwischen interessiert das keinen mehr, die Botschaften wiederholen sich eh nur,“ sagt sie mit einem Ausdruck von Entäuschung. Ein beliebtes Thema, insbesondere unter der Jugend, ist die (Un-)Möglichkeit, in andere Länder zu reisen. Kuba ist eines der wenigen Länder, das von seinen StaatsbürgerInnen eine Ausreisegenehmigung verlangt. Zwar ist es nicht unmöglich zu verreisen, und oftmals sind es auch die reichen Industrieländer, die sich vor dem Zuzug schützen, aber insbesondere für junge, gebildete KubanerInnen ist es sehr schwierig.
„Warum kann ich als junger Kommunist nicht auch nach Bolivien reisen, dorthin, wo Che gekämpft hat?“, fragte Eliecer Ávila während einer Diskussionsrunde an der Universität für Informatik UCI den alten und neuen Parlamentspräsidenten Ricardo Alarcón. Die Kritik erntete viel Beifall selbst unter den StudentInnen, die als Elite des neuen Staates gelten. Es mag sein, dass auch hier eine Änderung ansteht, man weiß es jedoch nicht, sagt mir Pedro, Dozent an der Uni und insgeheim hoffend, bald in die USA reisen zu können. Das Thema der Reisefreiheit macht ein weiteres Dilemma der kubanischen Revolution deutlich: Ein Staat, der millionenschwer in eine traditionell hochwertige Bildung investiert, kann es sich nicht leisten, sein teures Humankapital einfach verschwinden zu lassen. Denn es sind oftmals die hochqualifizierten Arbeitskräfte, die sich ins Ausland absetzen, weil sie sich auf dem staatlich reglementierten Arbeitsmarkt in Kuba stark unterbezahlt sehen.

Die meisten KubanerInnen denken nicht in Schwarz oder Weiß, USA oder Kuba,
Kapitalismus oder Sozialismus.

Auch Ivan, ein Mechaniker aus dem ärmeren Bezirk Cotorro, träumt davon, sich in die USA abzusetzen. Er ist aus diesem Grund dafür, dass die Gebrüder Castro an der Regierung bleiben. Denn „ohne sie wird die USA-Regierung sofort die kubanischen Sondergesetze aufheben“. Bisher werden KubanerInnen zu einer todesmutigen Migration aufgestachelt. Während die USA-Regierung ihr offizielles Visa-Abkommen (20 000 pro Jahr) jahrelang nicht erfüllte, bekommt jedeR KubanerIn , der oder die es bis an die Küste Floridas schafft, eine finanzielle Starthilfe; auf der anderen Seite werden mexikanische EinwandererInnen deportiert. Eine Überfahrt mit einem Schlepperboot kostet 10.000 Pesos convertible (ca. 8.000 Euro) und viele KubanerInnen, die sich für diesen Weg entscheiden, sind jahrelang verschuldet.

Nach der Rede von Raúl gibt es Hoffnung, aber keinen Enthusiasmus.

Ist es also ein wachsender Individualismus versus einer alten, bevormundenden Staatsmaschine, die sich gegenüberstehen? Sicher ist dies ein Teil des Problems. Aber die Widersprüche überlagern sich und sind nicht leicht aufzulösen. Dies macht es auch so schwer für DissidentInnen oder ausländische Medien, die permanent auf der Suche nach solchen sind, nennenswerten Zulauf zu erhalten. Die meisten KubanerInnen denken nicht in Schwarz oder Weiß, USA oder Kuba, Markt oder Staat, Sozialismus oder Kapitalismus. Sie glauben an die Reformfähigkeit des Systems oder an eine weitere Revolutionierung. Sie erkennen viele der Errungenschaften – trotz aller Probleme – an und identifizieren sich mit der Kultur, die aus ihnen geboren ist.

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