Argentinien | Musik | Nummer 582 - Dezember 2022

RISKANTE ZERBRECHLICHKEIT

In ihrem ersten Solo-Album Nómade entblößt die Sängerin, Komponistin und Improvisationskünstlerin Lucía Boffo Gefühle und Emotionen, wie sie es nie zuvor getan hat

Von Belén Marinato, Übersetzung: María Rath

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Das Albumcover von Nómade zeigt das Gesicht der Sängerin, Komponistin und Improvisationskünstlerin Lucía Boffo – und das neun Mal. Neun Facetten derselben Person, neun Arten, sich diesem Wesen zu nähern. So wie die neun Lieder, aus denen das Album besteht.

Nómade ist das gewagteste Album der Sängerin, nicht wegen der kompositorischen Komplexität, sondern wegen des Maßes an persönlicher Entblößung. Jedes Lied stellt ein Mikro-Universum dar, in dem sie Emotionen so offenbart, wie sie es nie zuvor getan hatte. Es ist ein Blick nach innen, der uns einlädt, sie in ihrer Intimität kennen zu lernen, die Landschaften zu erkunden, in denen sie aufgewachsen ist, sowie die Musik, die sie beeinflusst hat – Musik, die heute ihren Stil definiert, der ebenso persönlich wie eigen ist.

Während „Quiero que me encuentres”wie eine heimliche Hommage an Luis Alberto Spinetta wirkt, hören wir im Hintergrund von „Volvernos canción” aus der Ferne eine mögliche, verblasste drexlianische Melodie [Ausdruck bezieht sich auf den uruguayischen Sänger Jorge Drexler, Anm. d. Red.]. In Liedern wie „Mensajes transatlánticos”, „Lenga” oder „Cerremos el telón”ist dagegen die Prägung durch die argentinische Folklore entscheidend. Auch in „Desaparecer”, wo selbst Urban Music einen Platz findet. Im gesamten Album sind die Jazzsprache und vor allem die Improvisation allgegenwärtig. Und der Flirt mit dem französischen Impressionismus fast genauso. Besonders in „Los ojos”, eines der Lieder, das vielleicht am meisten auf frühere Werke (vor allem mit dem Pianisten Andrés Marino) verweist.

In einer Zeit des fragmentierten Zuhörens besteht Nómade auf der Einheit. Das Album beginnt mit einer Art Manifest als Vorgeschmack dessen, was noch kommt: Kompositionen, die in dem unermesslichen und schwer fassbaren Begriff „Canción (Lied) eingebettet sind. Und es endet mit „Cerremos el telón”, was doppeldeutig sowohl für eine zerfallende Beziehung wie auch für das Ende des Albums steht. Dazwischen passiert so ziemlich alles.

Stimme, Klavier und Gitarre bilden das Rückgrat der Lieder, die dieses Album enthält. Hinzu kommen Streicher- und Bläser-Arrangements, (Kontra-)Bass, Synthesizer und Effekte. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Stimme in Lucía Boffos Musik jedoch nach wie vor das herausragende Element. Und das nicht nur wegen der Qualität ihrer Interpretation und der offensichtlichen technischen Finesse, sondern auch, weil die Sängerin deutlich macht, dass die Stimme, sobald sie von Worten befreit ist, ein Instrument wie jedes andere ist. Sie improvisiert so natürlich wie sie spricht. Oder wie sie atmet.

Das Nomadentum ist Bewegung, Verwandlung und die ständige Besiedlung neuer Räume. In diesem Kommen und Gehen liegt ein Verlassen, aber auch eine unendliche Ansammlung von Erinnerungen, Erfahrungen und Begegnungen. Nómade ist zwischen Ushuaia, Buenos Aires und Berlin entstanden, was sich in den Landschaften, Geschichten und Mitwirkenden dieses Albums niederschlägt. Und was für Mitwirkende. Quique Sinesi, Violeta García, Ingrid Feniger, Daniel Schnock und Juan Ignacio Sueyro sind einige der Musiker*innen, die sich in diesen Mikrowelten einmischen. Gar nicht schlecht für ein Debüt. Denn Nómade ist Lucías erstes Soloalbum. Und wenn die Gerüchte wahr sind und wir Glück haben, ist es das erste von vielen.

Lucía Boffo // Nómade // ears&eyes Records // Argentinien // 2022 // www.luciaboffo.com

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