Mexiko | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Schneckentrompeten aus dem Urwald

Die EZLN hat die politische Macht in die Hände von Ratsversammlungen gelegt

Mit einem großen Fest Anfang August haben die ZapatistInnen die neuen Regierungen der Autonomen Gemeinden eingeweiht. Der Impuls soll die gesamte mexikanische Zivilgesellschaft erfassen und zu mehr Demokratie führen. Die nationale Regierung hat diese neuen Regierungen in den Autonomen Gemeinden für verfassungsmäßig erklärt. Aber Subkommandante Marcos, EZLN-Sprecher und Sprachrohr der Autonomen Gemeinden, war bei dem Fest im lakandonischen Urwald nicht persönlich anwesend.

Harry Thomaß

Am Wochenende des 9. August 2003 versammelten sich im Norden des lakandonischen Urwalds im Ort Oventic mehr als 10.000 Indigenas, ZapatistInnen und deren SympathisantInnen. Die ZapatistInnen hatten eingeladen, um den politischen Prozess der indigenen Autonomie weiter voranzutreiben. Und nicht nur um die indigene Autonomie sollte es gehen. Wie bei den Zusammenkünften in der Vergangenheit, den so genannten „Aguascalientes“, bei denen die komplette mexikanische Bevölkerung angesprochen war, ging es auch diesmal um die Demokratisierung der gesammten Gesellschaft.
Die Zusammenkunft bekam den Namen Caracol, das spanische Wort für Schnecke. Und der durchdringende Klang der Schneckentrompeten war im ganzen Land zu vernehmen. Aus unterschiedlichsten Regionen und Bereichen der Gesellschaft waren die Menschen angereist, um ihre Solidarität mit den ZapatistInnen auf ein Neues zu demonstrieren. Indigene VertreterInnen der Zapoteken, Mixteken und Mixes aus Oaxaca, Amuzgos, Nahuas, Tenéks aus Zentralmexiko und der Raramuris aus dem hohen Norden des Landes machten deutlich, dass die ZapatistInnen mit ihrer Botschaft der regionalen Autonomie für sie eine wichtige Rolle im Umgang mit dem Nationalstaat spielen. Aus den verschiedenen Städten des Landes waren ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und Angestellte der Universitäten angereist, um bei dieser Geburt einer neuen politischen Institution mitzuwirken. Ein Schneckenhaus, das nicht als Versteck dienen soll, sondern eine Spirale als Symbol für eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie und regionaler Autonomie darstellt.
Der Subcommandante Marcos war nicht anwesend. In einer Radioansprache erklärte er seinen Rücktritt vom Posten des Sprechers der Autonomen Gemeinden, 30 an der Zahl, und begründete diesen Schritt mit seiner Überzeugung, dass das Zapatistische Befreiungsheer für die Verteidigung der Bevölkerung da sei und nicht um zu regieren. Die Regierungsform auf die er dabei anspielt wurde vor neun Monaten in den Autonomen Gemeinden installiert und ist mit diesem Akt ans Licht der Öffentlichkeit getreten: Die „Juntas de Buen Gobierno“ (Ratsversammlungen der Guten Regierung). Diese neue Institution besteht im Hochland von Chiapas aus 14 Delegierten, zwei aus jeder der sieben Autonomen Gemeinden.
Commandante David erklärte in seiner Ansprache die ersten Veränderungen, die die Neustrukturierung für die Autonomen Gemeinden mit sich bringt. Die Grenz- und Kontrollposten der Zapatisten werden aufgelöst und das Eintreiben von Zöllen wird eingestellt. Die Ratsversammlungen sind nun für den freien Verkehr und die freie Kommunikation in den autonomen Gebieten zuständig.

Gehorchend befehlen

Zudem betonte Commandante Esther die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern in den autonomen Gebieten. Und Kommandante Tacho rief zur Einigkeit unter den Bauern auf und kritisierte die Regierung Fox scharf, die das Elend auf dem Land zu verantworten habe und nur den transnationalen Konzernen diene: „Die Bauern sind die rechtmäßigen Eigentümer des Grund und Bodens, den sie bestellen, und der Produkte, die sie erwirtschaften. Die Erde ist unsere Mutter und eine Mutter kann man nicht verkaufen! Und diejenigen, die es doch tun, Salinas, Zedillo und Fox, die haben keine Mutter.“
Bei den „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ soll das Volk regieren, und die Regierung soll die Stimme des Volkes hören und ihr gehorchen: Mandar Obedeciendo (gehorchend regieren) ist das ureigene Konzept der autonomen zapatistischen Gemeinden, was sich auf Mitbestimmung der Zivilgesellschaft stützt. Sie kann sich nun über die Ratsversammlungen artikulieren. Als kommunale Regierungen haben die Ratsversammlungen die Aufgabe drei gesellschaftliche Bereiche zu organisieren:
Erstens muss die Schulbildung in den Autonomen Gemeinden bis zur Mittelschule garantiert werden, und zwar gratis. Wissenschaftliche Basiskenntnisse müssen ebenso vermittelt werden so wie der Respekt vor der eigenen Kultur. Trotz der extremen Armut, die in vielen Gemeinden herrscht, muss zweitens eine öffentliche Gesundheitsversorgung gewährleistet werden. Die Ratsversammlungen müssen drittens eine gesellschaftliche Ordnung garantieren, in der die Wiedergutmachung die Strafe ersetzt, die Solidarität in der gemeinschaftlichen Arbeit den individuellen Nutzen verdrängt, und die gemeinsamen Werte einen gesellschaftlichen Konflikt verhindern.
Die grundlegende Aufgabe der Ratsversammlungen auf kommunaler Ebene ist es, auf die unteren Schichten der Bevölkerung zu hören und in ihrem Namen zu handeln.

Die Reaktion der Nationalregierung und der Parteien

Am Vorabend der zapatistischen Mobilisierung zum Caracol von Oventic versicherte der Regierungssekretär in Mexiko-Stadt Santiago Creel Miranda, dass es weder eine Verstärkung der militärischen Präsenz in Chiapas geben werde noch irgendeine andere militärische Maßnahme als Reaktion auf die Veränderungen in den aufständischen Gemeinden.
Auf die Frage, ob die Bildung dieser „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ eine Herausforderung für die nationale Regierung sei, antwortete er, dass man diesen Prozess im Zusammenhang mit einer Verfassungsänderung sehen müsse. Auf lokaler Ebene könne die Verfassung von den Beteiligten verändert werden, und neue Formen der Autonomie, zum Beispiel eine indigene, geschaffen werden, so geschehen kürzlich im Bundesstaat Oaxaca. Der Regierungssekretär begrüßte ausdrücklich den zivilen Charakter der Ratsversammlungen und sah damit die Möglichkeit zu einer Annäherung von aufständischen Gemeinden und mexikanischer Regierung gegeben.
Ganz anders nahmen verschiedene Abgeordnete des Landesparlaments von Chiapas die Initiative der ZapatistInnen auf. Abgeordnete der rechtskonservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) und der alten Staatspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) wiesen die Rechtmäßigkeit der Ratsversammlungen zurück. In den Gemeinden würden bereits kommunale Regierungen bestehen, zudem müsste die chiapanekische Landesverfassung geändert werden, damit die neuen zapatistischen Strukturen auch formal anerkannt werden könnten. Eine Maßnahme, die im konservativ geführten Chiapas sicherlich nicht ansteht.
Auf nationaler Ebene stünde neuen Gesetzen zur indigenen Autonomie zusätzlich die ablehnende Haltung von PRI und PAN entgegen, die in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit haben.

Ungewisse Zukunft

Seit den letzten Augusttagen werden die zapatistischen Gemeinden und ihre UnterstützerInnen in Chiapas zunehmend von Paramilitärs bedroht. Außerdem berichtete die mexikanische Tageszeitung La Jornada vermehrt von militärischen Aktionen in den Autonomen Gemeinden und einer Zunahme von Militärpatrouillien in den Dörfern. Auch seien einmal, nachdem die zapatistischen Kontrollposten abgebaut worden waren, staatliche Beamte in ein Dorf gekommen, um die Möglichkeiten zur Tourismusentwicklung zu prüfen, ohne die lokale Bevölkerung in diesen Prozess miteinzubeziehen.
Die Autonomen Gemeinden sind mit der Schaffung der „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ politisch handlungsfähig geworden. Mit der mexikanischen Regierung kann es nun zu Verhandlungen kommen. Die Frage ist nur, ob die Regierung Fox wirklich an einem Dialog interessiert ist, der am Ende auch zu einer Veränderung des mexikanischen Staatsgefüges führen könnte oder ob die Positionen unvereinbar aneinander vorbeizielen. Seit 1996 ist die Position der Autonomen Gemeinden in Bezug auf eine neue indigene Gesetzgebung klar und deutlich artikuliert: Im Abkommen von San Andres Larainzar, das damals auch von der mexikanischen Regierung unterschrieben, aber nie umgesetzt wurde. Deshalb könnten die letzten Äußerungen des Regierungssekretärs Creel Miranda einer gut gezielten PR-Kampagne entspringen, um auf billige Art und Weise die Regierung in ein gutes Licht zu rücken. Tatsächlich spricht diese soviel von Menschenrechten wie nie zuvor, jedoch hat sich die wirkliche Situation der Menschenrechte und der indigenen Rechte im Besonderen kaum verändert.
Auch bleibt offen, inwieweit die neuen Juntas sich von den alten EZLN-Strukturen ablösen können. Bei dem Caracol von Oventic traten mit Ausnahme von Subcommandante Marcos jedenfalls wieder die bekannten militärischen Commandantes der Zapatisten auf und verkündeten die neue Botschaft.

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