Schöne Frauen und sterbende Helden
Ein Berlinale-Streifzug durch das mexikanische Filmschaffen
Zwei Dinge sind im mexikanischen Film offenbar unverzichtbar: Eine wunderschöne Frau und ein/e sterbende/r ProtagonistIn am Schluß. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls nach dem Genuß von fünf der insgesamt sieben cineastischen Werke aus dem mittelamerikanischen Land auf, die im Rahmen des diesjährigen Berliner Filmfestivals gezeigt wurden. Von beidem können es auch mal mehrere sein, aber ganz ohne geht es offenbar nicht. Realitätsnah erscheint das häufig, aber nicht immer auftauchende Motiv “Fluchtpunkt USA”. Das Symbol für den Traum vom besseren Leben. Und Sexszenen finden, wenn sie in mexikanischen Filmen vorkommen, fast immer auf (Schreib-)Tischen oder Stühlen statt, die sich bisweilen auch eher magisch denn realistisch durch den Raum bewegen.
Verwunderliche Gasse
Um mit dem mexikanischen Wettbewerbsfilm anzufangen, hier waren gleich alle genannten Elemente anzutreffen. Ob gerade “El Callejón de los Milagros” (Die Gasse der Wunder) deshalb für den Wettstreit um den ‘Goldenen Bären’ auserkoren wurde, weil darin eine ausgesprochen attraktive Darstellerin zum Einsatz kommt oder eine besonders tragische Hauptperson am Ende aus dem Leben scheidet, läßt sich nicht hinreichend klären. Es handelt sich jedenfalls um die auf Mexiko übertragene Verfilmung des gleichnamigen Romans des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Mahfuz, der Ende vergangenen Jahres in seinem Heimatland nur knapp einen Anschlag fundamentalistischer Gruppen überlebte. Während das Original in den 40er Jahren in Kairo spielt, hat Regisseur Jorge Fons die Geschichte über das Schicksal der “einfachen” Leute” auf das moderne Mexiko übertragen. Dabei ließen sich gewisse Ungereimtheiten nicht vermeiden. Der Film besteht aus vier Teilen, wobei die ersten drei an ein und demselben Sonntagnachmittag in der ‘Gasse der Wunder’ in Mexikos Altstadt ihren Ausgang nehmen. Sie beginnen immer mit der derselben Szene eines Dominospiels von vier recht wunderlichen Gestalten und schildern die Ereignisse aus der Sicht der drei Hauptfiguren, wobei jeweils neue Aspekte hinzugefügt werden.
Im Mittelpunkt der ersten Episode steht Rutilio, der Besitzer der Bar in der ‘Wundergasse’, in der nicht nur regelmäßig Domino gespielt wird, sondern wo sich auch die Nachbarschaft trifft. Unmittelbar nach seinem 30. Hochzeitstag entdeckt er ebenso plötzlich wie unvermittelt homosexuelle Gefühle, die er überraschend offen zu leben beginnt. Eine familiäre Katastrophe bahnt sich an, der aufmüpfige Sohn wird verstoßen und landet schließlich im Wunderland USA. Auch wenn das Bemühen von Regisseur Fons löblich ist, sich dem im mexikanischen Kino stiefmütterlich behandelten Thema der Homosexualität ernsthaft zu nähern, wirkt dieser Versuch doch sehr bemüht und in einer machistischen lateinamerikanischen Gesellschaft unglaubwürdig.
Der zweite Teil des Films dreht sich um Alma, jene im mexikanischen Film unvermeidliche Schönheit, die von der populären Seriendarstellerin Salma Hayek gespielt wird. Sie ist hin- und hergerissen zwischen drei Männer(stereotype)n: Da gibt es den jugendlichen Liebhaber, den Friseur Abel, einen alternden lüsternen Ladenbesitzer, auf den eigentlich ihre Mutter ein Auge geworfen hatte, und einen Zuhälter im schicken roten Sportcoupé, der Reichtum und ein anderes Leben verspricht. Abel zieht mit seinem verstoßenen Freund in die USA, um mit viel Geld zurückzukommen, der ältere Herr erliegt rechtzeitig vor der geplanten Hochzeit dem plötzlichen Herztod und Alma landet nach anfänglichem Zögern im Edelpuff. Die dritte Episode schildert das Leben aus der Sicht der Hausbesitzerin Susanita, einer ältlichen Jungfer, die sich regelmäßig die Karten legen läßt und in unverkennbarer Torschlußpanik den unheilbar kleptomanischen Angestellten aus Rutilios Bar ehelicht.
Der vierte und letzte Aufzug führt die Schicksale der Hauptfiguren schließlich zusammen. Abel und der Sohn Rutilios kehren aus den USA zurück – allerdings ohne den erhofften Reichtum – und das Schicksal nimmt unweigerlich seinen Lauf. Der fast zweistündige Streifen lebt dabei von der Sympathie für die einzelnen Figuren, und das mit unverkennbarem sozialem Anspruch. Es ist auch ein Film über die trostlosen Aussichten der heranwachsenden Generation im NAFTA-Land Mexiko, gemischt mit der nötigen Dosis Romantik und verklärter Illusion. Das Potpourri von so unterschiedlichen Schicksalen liefert dabei viel eher den Stoff, aus dem üblicherweise Telenovelas gestrickt werden. Ausgedehnt auf 25-30 halbstündige Folgen hätte die “Gasse der Wunder” Millionen Fernsehzuschauer in Lateinamerika in ihren Bann ziehen können, anstatt das Berlinale-Publikum mit recht trivialer Romantik zu traktieren. Dann hätte sich auch die Hauptdarstellerin Hayek die von mäßigem Erfolg gekrönten Versuche ersparen können, zum Genre des Spielfilms zu wechseln.
Los vuelcos del corazón
Dem komplexen Thema von Dogmatismus, Parteidisziplin und Gewissen widmet sich der Film des Drehbuchautors und Regisseurs Mitl Valdez aus dem Jahre 1993. Im Unterschied zu den meisten anderen mexikanischen Filmen spielt die Geschichte in der Vergangenheit, mitten im Zweiten Weltkrieg irgendwo in Mexiko. Auf der Grundlage der Erzählung “Resurrección sin vida” (Auferstehung ohne Leben) von José Revueltas beschreibt Valdez das Leben des Romanautors José Antelmo Cruz. Als politischer Aktivist verübte dieser Attentate auf US-amerikanische Waffentransporte durch mexikanisches Territorium, bis die Parteileitung nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion derartige Aktionen aufgrund der neu entstandenen Allianz zwischen Rußland und den USA umgehend untersagt. José verliebt sich in die unvermeidliche attraktive Frau des Films und wird mit dem Wunsch konfrontiert, aus der Parteiarbeit auszusteigen. Da verlangt die Führung eine Aktion, die nicht nur seine uneingeschränkte Loyalität erfordert, sondern den Romanautor in unüberwindliche Gewissenskonflikte stößt.
Der einzige Ausweg liegt in der allzeitig präsenten und nie vollen Tequila-Flasche. José findet bei der frustrierten Prostituierten Raquel Unterschlupf und schreibt sich, sofern es der Alkoholspiegel ermöglicht, seine Probleme mit der Partei und ihren dogmatischen Vorstellungen von der hochgradig geschädigten Leber. Ein Selbstmordversuch wird von Raquel vereitelt, doch das Schicksal nimmt in Form ihres früherem Zuhälters, dem Drogenhändler Nereidas, seinen unaufhaltsamen Lauf.
Insgesamt ein gut gemeinter, redlicher und sehenswerter Film über ein wichtiges Thema, der allerdings einige Fragen offen läßt und um schwer nachvollziehbare Konstruktionen offenbar nicht herumkommt. Die Verbindung zwischen dem aus dem Gefängnis ausgebrochenen Drogenhändler und Zuhälter und der Hauptfigur José entsteht gänzlich unvermittelt und wirkt künstlich. Eine Nebenhandlung, die aus allzu sichtbaren dramaturgischen Gründen in das Drehbuch eingearbeitet wurde. Unglücklich erscheint die deutsche Übersetzung des Filmtitels. Zwar ist ‘Herzflimmern’ eine denkbare Todesursache im alkoholisierten Zustand, aber José stirbt offensichtlich nicht daran, sondern an einer Kugel im Bauch. Und das nicht mit dem Leben vereinbare ‘Kammerflimmern’ ist ja ohnehin nicht gemeint, so daß entweder ‘Überschläge des Herzens’ oder aber auch ‘Herzstiche’ zutreffender wäre, sofern auf der wörtlichen Übertragung des Titels bestanden wird.
Hasta morir
Bei diesem Film von Fernando Sariña, der ebenso wie die folgenden auf der Suche nach hiesigen Verleihern auf dem Film-Markt gezeigt wurden, enthält bereits der Titel unübersehbare Hinweise auf das typisch mexikanische Ende. Zwei Kindheitsfreunde, die irgendwann ihre Blutsbrüderschaft besiegelt hatten, treffen sich wieder, nachdem der ältere in Tijuana an der US-Grenze die Grundzüge des kriminellen Handels und Überlebens gelernt hatte. Mit kleinen Überfällen wollen sie Geld zusammenbekommen, um ihren großen Coup, die Entführung eines Geschäftsmanns in Tijuana, ausführen zu können. Mit dem Lösegeld wollen sie sich in Los Angeles ein schönes Leben machen. Durch einen Affekt des Jüngeren wird bei einem Überfall auf einen Supermarkt ein Wachmann erschossen, er muß aus der Stadt fliehen und zieht nach Tijuana. Dort erfährt er Dinge, die ihn an der Zuverlässigkeit seines älteren Blutsbruders zweifeln lassen. Dieser erliegt währenddessen bei dem Versuch, sich als sein Intimfreund auszugeben und so an ein Erbe heranzukommen, dem Charme von dessen Cousine, des unvermeidlichen wunderschönen Geschöpfs. Die Gefühle zu ihr vermögen es nicht nur, den als Unterlage beim Sex benutzten Stuhl gar wunderlich durch die Wohnung zu bewegen, sondern läutern ihn derart, daß er seine kriminellen Pläne begräbt. In den Augen seines Freundes ist das der letzte Beweis dafür, daß er verraten wurde. Das Ende ist nicht schwer zu erraten, wenn auch durch einige dramaturgische Tricks recht spannend gestaltet. Ein mäßig unterhaltsamer Film, irgendwo im Niemandsland zwischen spanischem Pundonor-Roman, Action-Story und Geschichte über die Generation X.
Dos crímenes
Zwei Verbrechen kündigt der Titel dieses Streifens von Regisseur Roberto Sneider an, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jorge Ibarguen Goita. Deren vier sind jedoch im Verlauf der 107 Minuten zu beobachten. Zwei davon zeichnen sich allerdings dadurch aus, daß die Hauptfigur Marcos fälschlicherweise als Täter verdächtigt wird. Nach einem Überfall auf die staatliche Behörde, in der er arbeitet und ohne es zu wissen an der Aktion teilnimmt, kann er in letzter Sekunde fliehen, getrennt von seiner Ehefrau. Die bei ihnen zu Hause versammelten Freunde werden verhaftet und in den Massenmedien als Terroristen vorgeführt. Marcos flieht zu einem wohlhabenden Onkel aufs Land, der von drei seiner Cousins in kaum kaschierter erbschleicherischer Devotheit umgarnt wird. Alle sehen in Marcos einen Konkurrenten, so daß er zunächst von allen geschnitten wird. Nur der halbseitig gelähmte Onkel selber findet Gefallen an seinem neu aufgetauchten Neffen und gibt ihm trotz aller Skepsis Geld für ein fingiertes Minenprojekt. Derweil verliebt sich Marcos in eine ebenfalls im Hause lebende Nichte, eine wunderbar geheimnisvolle und kindliche Schönheit. Vorübergehend landet er bei deren Mutter – ausnahmsweise nicht auf dem Tisch, sondern im Bett. Vollends zwischen den Stühlen sitzt er, als seine Ehefrau unverhofft auftaucht. Trotz der Komplikationen wohl der Traum eines jeden Machos! Plötzlich stirbt der reiche Onkel, die Arsenvergiftung ist nicht zu kaschieren. Wieder wird Marcos des Mordes bezichtigt. Es folgt ein heilloses Durcheinander, das in einem großen Familienpicknick seinen Höhepunkt findet. Denn hier gibt es noch einmal Mordversuche und den tragischen Tod einer Hauptdarstellerin. Insgesamt ein phasenweise witzig inszenierter Film mit reichlich Situationskomik, schönen Bildern, einem Schuß Realsatire und Gesellschaftskritik, also gute, wenn auch nicht besonders anspruchsvolle Unterhaltung.
Jonás y la ballena rosada
Eher ärgerlich weil verworren und unklar ist der Streifen ‘Jonas und der rosa Wal’ von Juan Carlos Valdivia, dem fraglos der Preis für das sexistischste Filmplakat zugestanden hätte, sofern es ihn gäbe. Die Geschichte spielt in Bolivien Mitte der 80er Jahre. Im Mittelpunkt steht, wie sollte es anders sein, eine ausgesprochen attraktive junge Frau, deren wohlgeformten Körper der/ die ZuschauerIn nicht nur auf dem Werbeplakat, sondern auch in vielen Szenen bewundern darf. Sie ist die Schwägerin von Jonás und verliebt sich in ihn, als er sich in einem skurril ausgestatteten Kellerraum im Haus der Verwandtschaft seiner Ehefrau ein Fotolabor einrichtet. Dort werden nicht nur unschuldige Fotos von der Schönen vergrößert und zu einem Abbild in Originalgröße montiert, sondern der einzige Stuhl muß das eine oder andere Mal für Sexszenen herhalten. Und plötzlich kippt zunächst der Stuhl und dann das Ganze, völlig unmotiviert tritt die Drogenmafia auf den Plan. Was in Bolivien zwar nicht so ungewöhnlich, aus dem Drehbuch jedoch nicht nachvollziehbar ist. Der Zuschauerin oder dem Zuschauer bleibt zudem völlig unverständlich, warum sich die Schwägerin mit dem Sohn des örtlichen Drogenbosses liiert, ihr Vater nach anfänglichem Sträuben gemeinsame Sache mit ihm macht und Jonás ziemlich blöd aus der Wäsche guckt. Bei diesen chaotischen und unmotivierten Verstrickungen bleibt nur die Lösung à la mexicaine: Diesmal macht’s eine Überdosis Kokain.
“El callejón de los milagros”
Mexiko 1994, 140 Min, Regie: Jorge Fons
“Los vuelcos del corazón”
Mexiko 1993, 130 Min, Regie: Mitl Valdez
“Hasta morir”
Mexiko 1994, 100 Min., Regie: Fernando Sariñara
“Dos crímines”
Mexiko 1994, 107 Min, Regie: Roberto Sneider
“Jonás y la ballena rosada”
Mexiko 1994, 94 Min, Regie: Juan Carlos Valdivia