Schonungslos und aus weiblicher Perspektive
Der Roman Im Dezember der Wind erzählt die Geschichten von Frauen in der kolumbianischen Küstenstadt Barranquilla
36 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist der Roman Im Dezember der Wind der kolumbianischen Autorin Marvel Moreno in diesem Sommer erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Die lange vergessene Autorin rückt damit zurecht weiter in den internationalen Fokus. Ihr umfangreicher und kluger Roman gebraucht das Treiben in der kolumbianischen Küstenstadt Barranquilla gleichsam als Symbol für die menschlichen Abgründe. Moreno führt uns in eine brachiale Welt, in der Natur und Menschen mit aller Gewalt herrschen und Unterdrückung systematisch durch Erziehung und Kultur weitergegeben wird. „Toxisch“ würde man das heute nennen – die Rollenbilder, die Beziehungen, das sozioökonomische Gefüge. Ich bin bei der Lektüre empört und angewidert, die Gewalt schreckt mich ab, das brutale und ekelhafte Patriarchat in all seinen Nuancen schleudert mir entgegen, mehrfach muss ich das Buch zuklappen und zur Seite legen. Dann wieder kommen diese wunderbaren und versöhnlichen Passagen über weise, geschickte und begabte Frauen, durch die ich Kraft und Zuversicht schöpfe.
Das über 400-seitige Buch ist in drei Teile gegliedert, ein jeder erzählt die Geschichte einer jungen Frau von der Jugend bis hin zu ihrem Leben als verheiratete Frau und Mutter. Die drei Protagonistinnen Dora, Catalina und Beatriz sind mit Lina, der Erzählerin, befreundet. Sie alle gehören der Oberschicht Barranquillas an, was damals (ähnlich wie heute) bedeutet: große Anwesen und Ferienhäuser mit Bediensteten und Wachhunden, der Country Club als Mittelpunkt des sozialen Lebens, Reisen nach Miami und Europa, Alkohol und Drogen, strenger Katholizismus, gestörte Beziehungen, Geschäfte aller Art, Prostitution, aber auch Bildung und Kunstaffinität. Vor diesem Hintergrund entwirft Moreno erschütternde Psychogramme, die uns die seelischen Untiefen einer ganzen Gesellschaft vorführen. Schonungslos und aus weiblicher Perspektive.
Wie die Übersetzerin Rike Bolte in einem aufschlussreichen Artikel für das Toledo Journale ausführt, zieht sich das Alte Testament leitmotivisch durch dieses Buch, das auch als „die Bibel von Barranquilla“ bezeichnet wird. Der jähzornige, eifersüchtige und intolerante Gott ist eine Kontrastfolie zur rätselhaften Mystik, die im letzten Teil auftaucht.
Faszinierend sind auch Morenos Nebenfiguren. Es sind drei ältere Frauen, die mit Lina verwandt sind: Großmutter Jimena sowie die Tanten Eloísa und Irene. Alle drei sind partnerlos, eigenständig, eigenwillig und nehmen die Leser*innen mit Weisheit und Witz an die Hand. Denn bereits ihre Mütter und Großmütter kultivierten ein Matriarchat, in dem „sogar Sexualität“ erlaubt war, weit bevor „Engels noch Freud noch Reich“ zur Welt kamen. Seitdem wird die „Glut des Feminismus“ von Generation zu Generation weitergegeben.
Die Sprache des Romans entfaltet in der Übersetzung von Rike Bolte ihre ganze Sogkraft: durch lange und verschachtelte Sätze, mal atemlos, mal detailverliebt, und stets rhythmisch durchkomponiert. Eine klare Leseempfehlung für ein Buch, das einen so schnell nicht wieder loslässt.
Marvel Moreno // Im Dezember der Wind // aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolte // Wagenbach Verlag // 2023 // 432 Seiten // 32 Euro