Literatur | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

„Schuld ist der Kern des Buches“

Bernardo Kucinski über seinen Roman K. oder Die verschwundene Tochter

Interview: Mario Schenk

Ihre Schwester, Ana Rosa Kucinski, verschwand im Jahr 1974. Was hat Sie jetzt, knapp 40 Jahre später, dazu bewogen, einen Roman über Ihren Vater und dessen Suche nach seiner Tochter zu schreiben?
Vor zwei Jahren habe ich eine Serie von Kurzgeschichten verfasst, die teilweise autobiografisch und durch meine Familie inspiriert waren – vor allem durch meinen Vater. Womöglich haben diese Geschichten einen gedanklichen und psychologischen Prozess ausgelöst, der mich zu dem Roman veranlasste.

Warum schrieben Sie ihn nicht früher?
Dies wiederum geht auf die Schocksituation zurück, die durch das Verschwinden meiner Schwester ausgelöst wurde. Es beginnt ein längerer „Moment“. Man muss für die weiterleben, die am Leben sind, vor allem für die Kinder. Nun sind 40 Jahre vergangen, die Kinder führen ein eigenes Leben, ich selbst bin im Ruhestand. In diesem Moment setzt der Prozess der Aufarbeitung und Auseinandersetzung ein. Das Buch ist für mich eine Art Katharsis. Gleichzeitig aber ist die Hauptfigur K. ein Synonym für all die suchenden Väter aus der Zeit der Diktatur. Auch die Schergen des Systems, die in dem Roman auftauchen, stehen beispielhaft für die Täter jener Zeit. Ebenso die Gleichgültigkeit oder die Angst vieler Bürger, die sich durch ihr Schweigen oder Wegschauen zwangsläufig zum Komplizen des Systems machen. Ich sehe das Buch als Gesellschaftsporträt jener Zeit, nicht als Familiengeschichte.

Im Vorwort steht, „Alles in diesem Buch ist Erfindung, doch fast alles ist geschehen.“ Was bedeutet es, einen Roman zu schreiben, der so nah an der Wirklichkeit ist?
Die Erzählform, die ich für mich gefunden habe, war, Situationen zu erfinden, die auf wirklichen Ereignissen basieren. So war es mir möglich, Elemente aus der Zeit vor dem Verschwinden von Ana Rosa mit Momenten der Zeit danach zusammenzubringen, also mittels der Fantasie zu arbeiten.

Der Vater gibt sich die Schuld am Verschwinden seiner Tochter, da er sich zuletzt mehr für jiddische Literatur interessiert hatte als für seine Tochter. Welche Bedeutung für die Erzählung geht von diesem Gefühl der Schuld aus?
Ich glaube, Schuld ist der Kern des Buches. Vielleicht sogar der Beweggrund, warum ich es geschrieben habe. Schuld ist auch die Ursache, dass bei mir eine Katharsis ausgelöst wurde. Es geht da nicht nur um kleine Fälle von Schuld wie die des Vaters, der nicht mitbekommen hatte, was im Leben seiner Tochter vor sich ging. Nicht nur um die Schuld von K., sondern auch um meine geht es. Meine Schuld dafür, dass ich auf Kosten einer Familientragödie einen gewissen Erfolg als Schriftsteller habe.

Infokasten:

Bernardo Kucinski

ist Journalist, Dozent an der Universität São Paulo (USP) und war Berater von Expräsident Lula da Silva während dessen erster Amtszeit. Anfang Oktober wird er sein Romandebüt K. oder Die verschwundene Tochter in Deutschland vorstellen. Termine unter: www.transit-verlag.de

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