Sehnsucht nach einem besseren Morgen
Erinnerungen an den Gaskrieg in Bolivien 2003
„Es gab einen unglaublichen Zusammenhalt in der Nachbarschaft“, erinnert sich Rosalia del Villar an jene Tage im September und Oktober 2003, an denen sich die Ereignisse in der Stadt El Alto überschlugen. Tage, die später als der „Schwarze Oktober” in den Volksmund eingehen sollten.
Del Villar selbst erlebte alles aus nächster Nähe: In ihrem Telefonkiosk gingen die Leute ein und aus, um die Proteste zu koordinieren. Wie an jedem kleinen Lädchen hingen auch an ihrem Kiosk Plakate, auf denen „Das ist unser Gas!“ oder „Gas für Bolivien!“ zu lesen war.
In allen Stadtvierteln versammelten sich die Menschen abends an den Straßenecken um Koch- und Feuerstellen. Sie organisierten gemeinsam die Versorgung der Straßenblockaden. „Wir alle hatten akzeptiert, dass wir in diesem Kampf gemeinsam Opfer bringen mussten”, so del Villar.
„Die Gefühle waren gemischt”, erzählt sie. „Wir fühlten uns gegenüber der Ungerechtigkeit und gegenüber den Toten ohnmächtig. Aber gleichzeitig kam auch eine Aufbruchstimmung auf, weil wir nicht mehr bereit waren, die widerrechtliche Aneignung unserer Bodenschätze hinzunehmen.”
Bereits seit 2000 litten die sozialen Bewegungen des Landes unter den heftigen Repressionen seitens der Polizei und des Militärs. In diesem Szenario staatlicher Gewalt begannen Kokabauern und -bäuerinnen, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen, sich zunehmend militanter dagegen zu wehren. Im September 2003 breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus, aus verschiedenen Teilen des Landes bewegten sich große Protestmärsche hin zum politischen Zentrum Boliviens. Auch die Bewohner_innen aus El Alto zogen in Massen in das benachbarte La Paz hinab, wo sich die verschiedenen Protestzüge vereinten. Forderungen nach dem Rücktritt „Gonis”, wie der Spitzname des damaligen Präsidenten Boliviens Gonzalo Sánchez de Lozada lautete, wurden immer lauter.
„Ich erinnere mich, dass die Leute von Haus zu Haus zogen und alle aufforderten, mitzugehen”, entsinnt sich del Villar. „Meine ganze Familie ist mitgegangen und an jeder Straßenecke kamen mehr Menschen hinzu, sie fielen sich in die Arme, ohne sich überhaupt zu kennen.”
Kurz darauf wurde ein Hunger- und Generalstreik ausgerufen, der das Land zeitweilens paralysierte. Der Zugang zu La Paz wurde mit Barrikaden versperrt, die Proteste waren auf der Straße, in den Busbahnhöfen und den Märkten. Überall.
Mario Coaquira Huayta, seinerzeit ein Protagonist der Proteste des Gaskriegs, berichtet von seinen Erfahrungen auf den Straßen, den Barrikaden und den Blockaden. Die Menschen seien aus allen Ecken des Landes gekommen. Alt und Jung hätten dort ausgeharrt, manchmal ohne etwas zu Essen. Aber die Situation hätte den Zusammenhalt gestärkt, alles, was es gab, sei miteinander geteilt worden.
Auf einmal, so Coaquira, seien sie zu einer Bewegung geworden, denn alle spürten die Ungerechtigkeit am eigenen Leib. Die Bewegung entstand so gesehen unterwegs, auf der Straße. Dort wurden Pläne für den nächsten Tag geschmiedet. Durch welche Straßen sollte man laufen? Wer würde auf die Kinder aufpassen? Wer würde die Getränke besorgen? Die Barrikaden sollten nie unbewacht bleiben, deswegen organisierte man sich in Schichten. „Es war die Sehnsucht nach einem besseren Morgen.“
Währenddessen reagierten Polizei und Militär mit immer härteren Repressionen. Um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu verängstigen, schossen sie auf Blockaden und Häuser. Theoretisch um den Aufständischen eine Lektion zu erteilen, um sie verstummen zu lassen und zu demobilisieren. Aber das genaue Gegenteil war der Fall, denn die Wut der Menschen wurde noch größer.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober kam es zu einem traurigen Höhepunkt. Es sollte eine der schlimmsten Nächte in El Alto werden. Nach dem gewaltsamen Durchbrechen der Blockaden, ging das Militär weiter mit Entführungen und Verhaftungen vor. Spezialisten der Streitkräfte drangen auf der Suche nach den Anführer_innen der Revolte gewaltsam in die Häuser der Familien El Altos ein.
Gleichzeitig versuchte die Polizei, die Nachbarschaft weiter durch Gewalt einzuschüchtern. Die Frage war, wer als Erstes nachgeben würde, die aufständische Bevölkerung oder die uniformierten Truppen.„Es war ein Massaker von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozano an der bolivianischen Bevölkerung, um die natürlichen Ressourcen transnationalen Firmen zur Verfügung zu stellen“, ist sich Rodolfo Machiaca, Generalsekretär der Gewerkschaft der bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB) sicher. Auch er beteiligte sich damals an den Hungerstreiks, die sowohl von Felix Quispe, Anführer der kleinbäuerlichen Bewegung als auch dem damaligen Gewerkschaftsführer und heutigem Präsidenten Evo Morales geleitet wurden.
Der Konflikt vor zehn Jahren kennzeichnet einen Bruch in der Geschichte des südamerikanischen Landes. Der Gaskrieg führte zur grundlegenden Neuausrichtung der politischen Agenda.
„Unsere gemeinschaftliche Organisationsform, unser ursprüngliches Wirtschaftssystem, unsere traditionelle Form des Selbstregierens in den Gemeinden wurde durch die Kolonialisierung und 50 Jahre neoliberale Regierungen zerstört“, erklärt Machiaca. „Nun haben wir als erstes die Souveränität über unsere Bodenschätze zurückerobert und langsam sind wir auch dabei, unsere Würde im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich zurückzugewinnen.“ Dafür sei es wichtig, den politischen Prozess an der Seite des Präsidenten Evo Morales zu begleiten und mitzugestalten. Machiaca meint, die heutige Regierung höre den sozialen Bewegungen wenigstens zu. Ihm zufolge sei das eine neue Art des Regierens im Rahmen eines intensiven Demokratisierungsprozesses, den noch nicht alle Regierungsbeamt_innen verstanden hätten. Machiaca weiß, dass es ein langer Weg sein wird, bis alle „zuhörend regieren“ und es eine wirkliche Veränderung geben wird. Aber er hat die Hoffnung, dass es den Bolivianer_innen in zehn bis zwanzig Jahren besser gehen wird: „Das geht nicht von heute auf morgen.“
Infokasten:
Der Gaskrieg in Bolivien 2003
6. August 2002 Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, wird nach 1993-1997 zum zweiten Mal Präsident Boliviens.
August 2003 Erste Proteste gegen die Pläne der bolivianischen Regierung, ein Abkommen mit ausländischen Investoren zur Erschließung der Gasreserven zu unterzeichnen. Das Erdgas sollte an die USA und Mexiko verkauft werden und der Transport des Erdgases zum Meer durch den Bau einer Pipeline durch Chile ermöglicht werden. Die Lizenzgebühr der multinationalen Konzerne sollte bei lediglich 18 Prozent der zukünftigen Exportgewinne liegen. Bolivien hat nach Venezuela die zweitgrößten Gasvorkommen Lateinamerikas.
September 2003 Eine Protestwelle aus Straßenblockaden, Demonstrationen und Generalstreiks konzentriert sich zunächst auf das Hochland in der näheren Umgebung des Titicacasees, um dann das ganze Land zu erfassen. In rasantem Tempo verwandelten sich die Proteste in einen Aufstand gegen die bolivianische Regierung mit „Goni“ und Verteidigungsminister Carlos Sánchez Berzaín an der Spitze.
12. und 13. Oktober 2003 Das Militär richtet in der an La Paz angrenzenden Armenstadt El Alto ein Blutbad an. Es gibt weit über 100 Verletzte und 70 Tote. Die Regierung hatte versucht, die Zufahrtsstraße nach La Paz mit Militärgewalt zu durchbrechen, um 20 Tankwagen mit Treibstoff in die Stadt zu schaffen. Sánchez de Lozada rechtfertigt den Einsatz mit der sich zuspitzenden Versorgungsknappheit in La Paz.
14. bis 17. Oktober 2003 Vize-Präsident Carlos Mesa kritisiert die gewaltsame Repression der Proteste durch die Regierung scharf und distanziert sich vom Präsidenten. La Paz erlebt die größten Demonstration seit der Rückkehr zur Demokratie mit über 50.000 Demonstrierenden. Bürger_innen treten landesweit in Hungerstreiks. Täglich treffen zahlreiche Menschen in La Paz ein, um sich den Protesten vor dem Präsidentenpalast anzuschließen. Die katholische Kirche mahnt, weiteres Blutvergießen sei nur noch durch den Rücktritt des Präsidenten zu vermeiden.
17. Oktober 2003 Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada tritt zurück und flieht aus Bolivien in die USA. Carlos Mesa wird Boliviens Präsident. Gut zwei Jahre später gewinnt Evo Morales erstmals die Präsidentschaftswahl.