Bolivien | Nummer 449 - November 2011

„Wir haben unsere eigene Vision von Feminismus“

Julieta Ojeda Puma von der feministischen Gruppe mujeres creando über Mikrokredite und die Verschuldung der armen Bevölkerung Boliviens

Infolge heftiger Regenfälle begrub Ende Februar dieses Jahres eine Schlammlawine in La Paz ganze Stadtteile unter sich und vernichtete die Existenzgrundlage vieler Bewohner_innen. Oftmals handelt es sich bei diesen um Schuldner_innen von Mikrokrediten, die sie nun nicht mehr bedienen können. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Julieta Ojeda Puma von der feministischen Gruppe Mujeres Creando über deren Entschuldungsinitiative und grundsätzliche Probleme bei Mikrokrediten.

Interview: Tina Füchslbauer

Warum haben Sie sich dazu entschieden mit den Opfern des Erdrutsches zu arbeiten? Auf den ersten Blick scheint es sich nicht gerade um ein typisch feministisches Thema zu handeln.
Zuerst einmal haben wir eine Möglichkeit zur Soforthilfe gesehen, denn eine der Betroffenen war eine Arbeiterin, die schon seit längerem in Kontakt mit uns ist. Für diese Frau haben wir Geld gesammelt. Das hatte eher Symbolcharakter. Maria Galindo (eine der Gründerinnen von Mujeres Creando, Anm. d. Red.) war der Meinung, dass es langfristig gesehen effektiver wäre, das Thema der Schulden anzugehen. Wir wussten, dass viele derer, die beim Erdrutsch alles verloren hatten, im informellen Sektor tätig und verschuldet waren. Bereits im Jahr 2001 haben wir mit Schuldnerinnen gearbeitet, in erster Linie mit Frauen, da sie in diesem Bereich in der Überzahl sind. Es gab damals eine große Mobilisierung, die in der Besetzung der ASFI (eine Art Bankenaufsicht, Anm. d. Red.) gipfelte. So haben wir einen Schuldenerlass erreicht. Weiter haben wir im Jahr 2009 hier in unserem Haus ein „Büro gegen die Wucher der Banken“ eröffnet.

Und aktuell?
Während dieses Jahres haben wir mit Frauen und Männern gearbeitet, die Probleme mit einem Bankinstitut hatten: Zahlungsprobleme und Ähnliches. Wir haben diese Menschen juristisch unterstützt und gleichzeitig eine Feldstudie gemacht. Die Daten, die wir dabei gesammelt haben, hat Graciela Toro (Soziologin und Ökonomin, Ex-Entwicklungsministerin in der Regierung Evo Morales, Anm. d. Red.) in ihrem Buch La Pobreza: Un Gran Negocio („Die Armut: ein großes Geschäft“) zusammengefasst. Wir von Mujeres Creando haben unsere eigene Vision von Feminismus und lassen uns weder von der Regierung noch von der Internationalen Kooperative noch von der Mode vorschreiben, zu welchen Themen wir zu arbeiten haben. Wir agieren in einem lokalen Kontext und wollen auf die Probleme in unserer Gesellschaft antworten. Und wir wollen die Spielregeln des Finanzsystems ändern. Denn die Finanzdienstleister verkaufen die Mikrokredite als soziale Hilfe, um die Armut zu lindern; das ist ihre neoliberale Sichtweise. In Wahrheit handelt es sich um Unternehmen, die auf Profit aus sind.

Es gibt in Bolivien viele Nicht-Regierungsorgganisationen (NRO), die Mikrokredite anbieten. Welche Erfahrung haben Sie mit diesen Einrichtungen?
Die Mehrheit der Finanzdienstleister, die mit Mikrokrediten arbeiten, hat als NRO begonnen und Geld von der Internationalen Kooperative erhalten. Danach wollen viele in unternehmerischem Sinne bis zur Bank aufsteigen, damit sie mehr Produkte, wie zum Beispiel Sparformen, anbieten können. Die Mehrheit dieser NRO steht nicht unter Aufsicht der ASFI, weshalb jegliche Kontrolle fehlt. Viele Frauen leihen sich bei vier, fünf verschiedenen Finanzinstituten Geld und sind dann natürlich extrem überschuldet.

Mikrokredite werden häufig an Frauen vergeben werden, die sich zu Solidaritätsgruppen zusammenschließen. Viele halten dann dem sozialen Druck nicht stand. Aus Indien ist zum Beispiel bekannt, dass es deshalb bereits Suizide gab. Wie ist das hier?
Ja, viele jener, die im informellen Sektor tätig sind, sind Frauen. Auf den Straßen wimmelt es nur so von Verkäuferinnen. Wenn diese einen Mikrokredit aufnehmen wollen, haben sie in der Regel nichts, womit sie für den Kredit garantieren könnten. Also werden die Kredite an Solidaritätsgruppen vergeben, deren Mitglieder füreinander garantieren. Wenn eine Frau nicht zahlen kann, wird also nicht nur seitens des Finanzinstitutes, sondern auch innerhalb dieser Gruppe Druck ausgeübt. Die anderen Frauen suchen ihr Haus auf, nehmen ihr Sachen weg, bedrohen sie, schreien sie auf der Straße an, in vielen Fällen schlagen sie die Frau, sperren sie ein. So werden die zuvor vorhandenen sozialen Netzwerke zerstört. Was bleibt, ist die Solidarität gegenüber den Banken und den Finanzinstituten. In den Medien und über Mund-Propaganda wurde auch schon von Suiziden berichtet. Ein weiteres Phänomen ist, dass viele Frauen, die schon verschiedenen Firmen Geld schulden, sich zusätzlich bei privaten Anbietern Geld ausleihen. Diese verlangen Wucherzinsen und setzen auch Gewalt ein, um die SchuldnerInnen zum Zahlen zu bringen.

Sie haben eine Studie gemacht, um die Situation der Opfer der Naturkatastrophe besser darzustellen, und diese Daten der Regierung übergeben. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Es waren rund 5.000 Personen vom großen Erdrutsch Anfang dieses Jahres betroffen, das sind die offiziellen Zahlen der Stadtverwaltung. Laut der Bankenvereinigung sind unter ihnen 2.500 Schuldnerinnen und Schuldner. Davon sind wiederum circa 70 Prozent Frauen, viele sind geschieden, alleinerziehende Mütter. In unserer Studie haben wir uns auf drei Aspekte konzentriert: Im ersten Teil haben wir die persönlichen Daten inklusive der Arbeitssituation erfragt. Im zweiten Teil haben wir uns auf die betroffene Wohnung oder das Haus konzentriert und natürlich nachgefragt, wo die Leute jetzt leben, im Zeltlager oder anderswo. Und im dritten Teil fragten wir nach ihrer Schuldensituation, ob sie einen Teil des Kredits schon zurückbezahlt hatten, zu welchem Zinssatz und welche persönliche Geschichte jede und jeder mit den Finanzinstituten hat. Denn wir nehmen wahr, dass viele Schuldnerinnen und Schuldner nicht erst seit Kurzem verschuldet sind, sondern schon seit Jahren Kredite aufnehmen und diese bisher auf fast religiöse Art und Weise zurückbezahlt haben.

Wie hoch sind die Schulden einer Einzelperson ungefähr?
Etwa 70 Prozent der Personen, die wir interviewt haben, haben Schulden in der Höhe von ein- bis dreitausend US-Dollar, ungefähr zehn Prozent zwischen drei- und sechstausend US-Dollar. Es gibt auch welche, die Schulden in Höhe von zwanzig- bis fünfzigtausend US-Dollar haben, aber das sind wenige.Weiter wissen wir, dass rund 40 Prozent der Befragten das geliehene Geld in das Haus, sprich in den Kauf eines Hauses oder eines Grundstücks, den Hausausbau oder Renovierungen investiert haben. Und dann gibt es noch jene 20 Prozent, die ihren Betrieb innerhalb ihres Wohnhauses hatten: ein Geschäft, einen Verkaufsstand, die Schneiderei, die Kuh im Garten. Diese Leute haben durch den Erdrutsch sowohl ihr Haus als auch ihre Einkommensquelle verloren. Deshalb sind wir der Meinung, dass die Schulden erlassen werden müssen. Dieser Erdrutsch war ein unglaublicher Schicksalsschlag, der viele in existentielle Krisen gestürzt hat.

Welche Unterstützung gab es für die Opfer der Naturkatastrophe seitens des Staates?
Im Falle des Mega-Erdrutschs hat sich die Zentralregierung mit der lokalen Regierung gestritten, wer was zu tun hätte. Erst jetzt haben sie damit begonnen, die betroffenen Personen zu registrieren. Die Regierung verliert sich in Streitereien anstatt wirklich etwas für die Leute hier zu tun. Evo Morales trifft seine Entscheidungen sehr willkürlich.

Was haben Sie erreicht? Denken Sie der Schuldenerlass ist realistisch?
Der Prozess war folgendermaßen: Wir haben mit der Studie am 17. April begonnen, bis Mitte Juli hatten wir alle Daten ausgewertet. Daraufhin haben wir der Regierung, dem Finanzministerium und der ASFI ein Schreiben mit dem Vorschlag des Schuldenerlasses übergeben. Damit haben wir erreicht, dass die Zahlungsfrist, die die Finanzinstitute den Opfern des Erdrutsches gegeben haben, von einem halben auf eineinhalb Jahre verlängert wurde. In diesem Zeitraum werden die Schulden eingefroren. Durch weitere Mobilisierungen haben wir dann erreicht, dass sich die Gesundheitsministerin Mila Eredia eingeschaltet hat. Sie hat uns unterstützt und uns zu ihr ins Büro zu einem Verhandlungstisch eingeladen, gemeinsam mit den Autoritäten der ASFI und den Schuldnerinnen und Schuldnern. Ergebnis dessen war, dass die ASFI zugesagt hat, ein Büro einzurichten, in dem jeder Fall individuell, Schuld für Schuld, unter Anwesenheit eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin der ASFI, des jeweiligen Finanzinstituts und der Schuldnerin oder des Schuldners verhandelt wird. Zudem wird der Schuldner oder die Schuldnerin durch Mujeres Creando professionell unterstützt. Wahrscheinlich werden wir nicht in allen Fällen einen Schuldenerlass erreichen können, aber in vielen Fällen. Bisher hat die ASFI allerdings nichts weiter unternommen. Deshalb werden wir weiter demonstrieren.

Welche Rolle haben die Demonstrationen gespielt, die Sie zu dem Thema organisiert haben?
Ich glaube an die Mobilisierung, ich glaube an den Kampf und bin absolut sicher dass es ohne diese Demos weder eine Fristenverlängerung noch die Möglichkeit zur Neuverhandlung der Schulden gegeben hätte. Die Banken hätten sich schön ruhig verhalten und darauf gewartet, dass die Leute weiter zahlen. Dadurch, dass wir auf die Straße gegangen sind, haben wir die soziale und ökonomische Situation der SchuldnerInnen sichtbar gemacht.

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JULIETA OJEDA PUMA
ist Mitstreiterin der feministischen Gruppe Mujeres Creando (auf Deutsch in etwa: Frauen, die erschaffen) in Bolivien, die seit 1992 durch gleichsam politische wie künstlerische Aktionen auf sich aufmerksam macht. In der Virgen de los Deseos („Jungfrau der Wünsche“), dem Haus der Bewegung in La Paz, befinden sich ein Cafe-Restaurant, eine Buchhandlung, das Radio Deseo, eine Radioschule, eine Kinderbetreuungsstätte und eine juristische Beratungsstelle. Mujeres Creando sind in Europa vor allem durch ihre Graffitiaktionen bekannt geworden. Maria Galindo, Mitgründerin der Gruppe, zeigte ihre Kunst dieses Jahr auch im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im Rahmen der Ausstellung „Das Potosí-Prinzip“ (siehe LN 439). Derzeit befinden sich einige der Frauen im Naturreservat TIPNIS, um die indigene Bevölkerung dort auf ihrem Marsch gegen den Bau einer Schnellstraße zu unterstützen (siehe Artikel in dieser Ausgabe).
// www.mujerescreando.org

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