Bolivien | Nummer 389 - November 2006

„Unser Präsident wird Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen“

Die LN im Gespräch mit Casimira Rodríguez Romero, Boliviens Ministerin für Justiz und Menschenrechte

Börries Nehe

Die Macht in Bolivien lag stets in den Händen einer kleinen Elite. Jetzt repräsentieren VertreterInnen der sozialen Bewegungen die Regierung unter Evo Morales. Sie selbst kommen aus der Gewerkschaftsbewegung. Was bedeutet das für die Art und Weise, wie staatliche Politik gestaltet wird? Was ist die Vision von Macht?

Der fundamentale Unterschied zu früher ist, dass diese Regierung von der Basis kommt und an den sozialen Kämpfen im Land teilgenommen hat. Die politische Vision, die unser Präsident proklamiert, respektiert die Forderungen der sozialen Organisationen und der Bevölkerung. Für uns bedeutet das, die Dinge von einer einschließenden Perspektive aus anzugehen, anstatt wie früher die Gestaltung der Politik einigen wenigen gesellschaftlichen Sektoren zu überlassen. Es ist eine totale Transformation der Politik. Die sozialen Organisationen sind in der Senatorenkammer, im Parlament, im Kabinett und natürlich der Verfassunggebenden Versammlung vertreten. Die Politik ist sehr viel repräsentativer und die Demokratie wird gestärkt. Und wenn ein Präsident wie Evo Morales seine eigenen Bezüge und die seiner Mitarbeiter halbiert, dann steckt darin die Botschaft, dass der gesellschaftliche Reichtum besser verteilt werden kann, angefangen von den finanziellen Ressourcen bis zum Boden.

Nicht allen gefällt es, wenn alle mit entscheiden dürfen. Wie bewerten Sie Konflikte, die als Resultat dieser Form der Politikgestaltung auftreten?

In Bolivien herrscht jetzt sehr viel mehr Stabilität als zuvor. Trotzdem können wir die bestehenden Konflikte natürlich nicht einfach ignorieren oder die an ihnen beteiligten sozialen Organisationen unterdrücken. Bevor die jetzige Regierung an die Macht kam, streikten mitunter ganze Sektoren der Gesellschaft, zum Beispiel die LehrerInnen, und paralysierten das Land. Das passiert heute nicht mehr, denn sofort nach ihrem Antritt hat die Regierung die Gehälter der Lehrer erhöht. Trotzdem fehlt es niemals an Gruppen, die mehr als das Erhaltene fordern. Ich denke aber, dass die heute beobachtbaren Mobilisierungen sozialer Organisationen nicht dem entsprechen, was man in diesem Land immer beobachten konnte. Sie repräsentieren kleine Gruppen, die nicht so sehr gegen Ungerechtigkeiten oder für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung eintreten, sondern sich von der Oligarchie beeinflussen lassen und sich an sie verleihen.

Insbesondere die wirtschaftliche und politische Elite der Tiefland-Departamentos Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija zieht gegen die Politik der Regierung ins Feld.

Sie wollen die Präsenz eines indígena an der Macht als Bedrohung darstellen, als einen Präsidenten, der nicht in der Lage ist, die Interessen der Unternehmer zu berücksichtigen. Aber weder die Privatunternehmen noch das Tiefland Boliviens wurden von der Regierung vergessen. Wie im Rest des Landes wird auch dort viel in die Infrastruktur investiert. Die Exporte haben den Unternehmer hohe Einkünfte beschert, und die Regierung hat neue Türen für einen auf dem Prinzip der Gerechtigkeit basierenden Export geöffnet. Die Oligarchie und andere privilegierte Gruppen wollen eine individualistische Kultur bewahren, die nur die Privilegien einer kleinen Gruppe im Blick hat. Aber wenn diese Privilegien auf Ungerechtigkeiten und der Ausbeutung bestimmter Sektoren unserer Gesellschaft basieren, wird unser Präsident sie unter keinen Umständen hinnehmen.

Das wahrscheinlich wichtigste Instrument dieser neuen Form von Politik ist die Verfassunggebende Versammlung. Auch dort zeichnen sich Konfliktlinien ab. Der MAS wird vorgeworfen, in Entscheidungsprozessen massiv zu intervenieren.

Das Bestehen der Verfassunggebenden Versammlung ist eine explizite Forderung aller BolivianerInnen, insbesondere der am stärksten von Ausschluss und Diskriminierung Betroffenen. Der Zweck der neuen politischen Verfassung ist es, ausgehend von der bolivianischen Realität eine Identität zu schaffen, die Bolivien wirklich repräsentiert. Allein die Versammlungsmitglieder müssen letztlich die Schlüsse aus den dort stattfindenden Diskussionen ziehen. Leider müssen wir beobachten, dass es große Differenzen zwischen ihnen und den Akteuren gibt, die bisher politisch immer das Sagen hatten, das heißt den traditionellen Parteien. Diese werden die gesellschaftlichen Veränderungen, auf die wir hinarbeiten, nicht akzeptieren.

Das Konzept der „ursprünglichen Verfassung“ sieht im Grunde eine Neugründung Boliviens vor. Insbesondere indigene Bewegungen und die MAS fordern diese. Für die alten Kräfte bildet dieses Vorhaben einen zentralen Kritikpunkt.

Die Mittelklasse und die Oligarchie äußern die Befürchtung, sie würden von der neuen Verfassung ausgeschlossen. Eine ursprüngliche Verfassung bedeutet jedoch nicht, dass nur die Aymaras, Quechuas oder Guaranís berücksichtigt werden. Der Sinn der neuen Verfassung ist es, von der konkreten Realität ausgehend ein souveränes Land zu schaffen, und zwar unter Einbeziehung aller Bolivianer. Es geht darum, dass alle Bolivianer beginnen, die neue Verfassung als etwas ihnen allen Gemeinsames zu verstehen.

Trotzdem: Es ist doch die explizite Absicht, Autonomierechte der indigenen Gemeinden in die Verfassung einzuschreiben. Wie soll dies im Rahmen der staatlichen Ordnung gestaltet werden?

Ich denke, es gilt zwei völlig verschiedene Arten von Autonomie zu unterscheiden. Zum einen jene seit langem existente Forderung der indigenen Völker nach Autonomie gegenüber einer diskriminierenden politischen Ordnung. Eine Autonomie also, die die verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen respektiert und eine gerechte Verteilung des Reichtums nach kommunalen Prinzipien anstrebt. Die andere Art von Autonomie ist jene, mit der die Oligarchie sämtliche Ressourcen in den von ihnen beanspruchten Gebieten für sich haben will.

Mit den Autonomieforderungen der indigenen Gemeinden geht auch die Forderung nach eigener Rechtssprechung einher. Wie wird das Ministerium die damit verbundene Reform des Justizwesens vorantreiben?

Wir haben auf der einen Seite ein elitäres Rechtssystem, welches den bevorzugt, der besser zahlt. Auf der anderen Seite steht die oft sehr viel angemessenere und vor allem transparentere Rechtssprechung der indigenen Gemeinden, die stärker auf Versöhnung und Ausgleich abzielt.
Wir sehen die Möglichkeit, dass im Rahmen der Verfassunggebenden Versammlung die verschiedenen Formen kommunaler Justiz auf eine Ebene mit dem vorhandenen Rechtssystem gestellt werden können, um so ein Zusammenwirken zu ermöglichen. Es geht nicht um die Abschaffung der alten Rechtsordnung, wohl aber um eine Neugründung des juristischen Systems an sich. Dieser Prozess hat mit der Schaffung des Vizeministeriums für kommunale Rechtssprechung begonnen.
Wir brauchen eine Justiz, welche den bisher marginalisierten Bevölkerungsteilen wirklich entspricht, und die es schafft, Gerechtigkeit herzustellen, wo bisher Privilegien für einige wenige herrschten.

Was unterscheidet konkret die traditionelle, indigene von der staatlichen Rechtssprechung?

Die Bestimmung der Repräsentanten des staatlichen Rechtssystems ist ein bürokratischer Vorgang, der hinter verschlossenen Türen stattfindet. Und wie sieht ein Prozess aus? Ein Anwalt, Papiere, Zeit und vor allem Geld. Über das Schicksal der Betroffenen entscheiden nicht die Akteure, sondern die Organe. Und schließlich ist die Form der Bestrafung für gewöhnlich das Gefängnis.
Die traditionelle kommunale Form von Justiz ist hingegen eine völlig transparente. Die Gemeinde weiß, wer ihre Autorität ist, welche moralische Instanz sie darstellt. Außerdem ist diese Autorität dual: Sie besteht immer aus zwei Ehepartnern, aus der Familie. Tritt ein Konflikt auf, handelt man schnell. Die Untersuchungen erfolgen rasch und die Lösung wird an einem Tag, in wenigen Stunden ausgehandelt. Der vielleicht wichtigste Unterschied aber liegt in der Form der Sanktion, denn das kommunale Justizsystem kennt keine Gefängnisse. In der indigenen Gemeinde wird den Angeklagten die Möglichkeit gegeben, sich zu ändern, die Situation zu verbessern. Die Sanktionen können sehr unterschiedlich ausfallen. Häufig handelt es sich um Arbeit für die Gemeinschaft, aber nie um eine Haftstrafe. Das Prinzip kommunaler Rechtssprechung ist die Versöhnung, und darin liegt der fundamentale Unterschied.

Und was wäre das Ergebnis dieser Anstrengungen? Eine Kombination zweier Justizsysteme?

Ich denke, man sollte die Formen von Rechtssprechung nicht so getrennt voneinander betrachten. Zentral ist die Schnittstelle. Die kommunale Rechtssprechung findet ausschließlich in den indigenen Gemeinden Anwendung. Aber bei Fällen von Gewaltverbrechen oder Drogenhandel müssten die Untersuchungen von Organen des gewöhnlichen Justizsystems vorgenommen werden. Dieses Zusammenspiel von kommunalen und staatlichen Autoritäten muss in einem Entwicklungsprozess stetig verbessert werden. Aber erst einmal geht es darum, dass keine der beiden Formen von Justiz der anderen untergeordnet wird. Für die gewöhnliche Justiz, die ihren festen Platz in der Gesellschaft bereits hat, bedeutet das, dass wir ihre Glaubwürdigkeit wieder herstellen müssen.

Die „Agrarrevolution“ sieht eine Umverteilung des Bodens vor. Welche Ländereien sind von der Umverteilung betroffen und inwiefern bezieht man die indigenen Gemeinden in diesen Prozess ein?

Die Agrarreform von 1952 hat den Boden sehr ungleich verteilt. Während insbesondere im Osten des Landes große Ländereien weiterhin in der Hand von wenigen Unternehmern sind, wurden vielen indigenen Gemeinden kaum Böden zuerkannt. Die dem Landwirtschaftsministerium unterstehende Landreform verteilt Land in staatlichem Besitz an diejenigen, die über kein Land verfügen. Dieser Prozess soll ohne Verletzung von Eigentumsrechten vonstatten gehen. Das heißt jedoch nicht, dass man die enormen Territorien, welche sich in privaten Händen befinden, völlig unangetastet lassen wird. Sicherlich werden Studien erstellt werden, wie diese Territorien anders verteilt werden könnten. Darin besteht die große Angst der Oligarchie, die deswegen ein riesiges Feuerwerk abfackelt. Sie wollen der Welt beweisen, dass Präsident Morales ihre unternehmerischen Rechte angreift. Die Unternehmer wollen eine Bodenreform, welche ihre Interessen nicht antastet.

Die Herstellung von Gerechtigkeit bezieht sich auch auf die jüngste Vergangenheit des Landes. Inwiefern unterstützt das Justizministerium die Bemühungen für eine Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Sánchez de Lozada, der für den Tod von 60 Menschen während der sozialen Kämpfe im Oktober 2003 verantwortlich ist?

Wir unterstützen die Kampagne des Vizeministeriums für Menschenrechte und der Angehörigen der Opfer. Die Angehörigen fordern die Herstellung von Gerechtigkeit und die Auslieferung Sánchez de Lozadas. Sowohl die ehemaligen Minister als auch der ehemalige Präsident haben, wie alle anderen Bürger, das Rechtssystem zu respektieren. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Menschenrechte aufs Schlimmste verletzt haben, Schutz in anderen Staaten finden. Das größte Problem besteht momentan darin, dass es im Grunde überhaupt keine Kooperation mit den USA gab. Ihre Politik und ihr politischer Wille diesbezüglich sind schwierig zu verstehen. Aber die Angehörigen der Opfer geben nicht auf. Sie sagen: Wenn es sein muss, gehen wir auch in die USA.

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