Selbstbewußte Indígenas
Der Aufstand in Chiapas und seine Folgen für die Indígenas in ganz Mexiko
Ehrliches Erstaunen, ängstliches Entsetzen, Fassungslosigkeit, Wut – Das urbane, westliche Mexiko der “Modernisierer” um die technokratische Clique von Salinas & Co. war offensichtlich nicht darauf gefaßt, daß marginalisierte Campesinos und Indígenas aus der “hinterletzten Ecke” des Landes ihnen die Feier des Beitritts zur Ersten Welt verderben könnten. Und es kam noch schlimmer: Die im offiziellen Diskurs verdrängte agrarische Zivilisation Mesoamerikas, von der Bonfil sprach, meldete sich nicht nur zu Wort; sie entlarvte ihrerseits das Modernisierungsprojekt des neoliberalen Establishment als eine Fiktion, die zwar – vor allem vom PRI-hörigen Fernsehimperium TELEVISA – medienwirksam verkauft wird, deren Umsetzung vor Ort jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum gerät.
So kam es, daß sich dieses “fiktive Mexiko” um Salinas nicht nur internationalem Druck, sondern besonders auch der landesweiten Solidarisierung mit dem Zapatistischen Nationalen Befreiungsheer EZLN beugen mußte. Die sogenannten Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristóbal haben die Kluft zwischen beiden Mexikos verdeutlicht: Entsprechend ihrer über 60 Jahre bewährten Taktik des Kaufens und Spaltens von Dissidenz entsenden Regierung und Staatspartei einen populistischen “Emissär” ohne klaren Auftrag und explizite Kompetenzen, der den Zapatisten mehr Geld, mehr Infrastruktur und mehr Entwicklung versprechen darf. Ihm gegenüber sitzen maskierte Campesinos, die als erstes bekräftigen, daß sie von der Basis der Dorfgemeinden gar nicht ermächtigt sind, mit der Regierung zu verhandeln, sondern nur einen “Dialog” führen. Dies entspricht dem – für die Regierung so schwer handhabbaren – Selbstverständnis des EZLN, bloß eine Organisationsform unter vielen anderen darzustellen und sich daher als bewaffneter Arm der chiapanekischen Indígenas und Campesinos dem politischen Willen der Dorfgemeinden unterzuordnen:
“Unsere Art zu kämpfen ist nicht die einzig mögliche, vielleicht ist sie für viele nicht einmal die angemessene. Andere Arten des Kampfes existieren, und sie existieren zu Recht. Auch unsere Organisation ist nicht die einzige, für viele ist sie vielleicht nicht einmal wünschenswert. Zu Recht existieren andere, aufrichtige, fortschrittliche und unabhängige Organisationen. Das Zapatistische Nationale Befreiungsheer hat niemals den Anspruch erhoben, seine Art zu kämpfen sei die einzig legitime. Doch tatsächlich ist es für uns die einzige, die uns übrig gelassen wurde… Wir erheben nicht den Anspruch, die historische, einzige, authentische Avantgarde zu sein. Wir erheben nicht den Anspruch, unter unserer zapatistischen Fahne alle aufrichtigen Mexikaner zu vereinen. Wir bieten unsere Fahne an, doch es gibt eine größere, umfassendere, mächtigere Fahne, die uns alle zusammenführen kann. Die Fahne einer revolutionären, nationalen Bewegung, welche die diversesten Tendenzen, die unterschiedlichsten Denkrichtungen, die verschiedenen Arten zu kämpfen zusammenführen würde, unter der es jedoch nur ein Anliegen und ein Ziel gäbe: Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit” (Kommuniqué der Comandancia General des EZLN vom 20. Januar).
Konsequenterweise weigern sich die Zapatistas daher auch, einen ausformulierten Programmkatalog vorzulegen, was nur Aufgabe aller Organisationen und Comunidades sei. Ihre Forderungen nach “Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit” bilden kein inhaltliches Programm. Sie richten sich auf Formalia und juristische Aspekte wie die Anerkennung als kriegführende Partei und die Einhaltung der Verfassung – Formalia allerdings, deren Durchsetzung das bestehende politische System Mexikos zum sofortigen Einsturz bringen würde: “saubere” Wahlen auf allen Ebenen, Auflösung oligarchischer Machtstrukturen, Abwahl von Kaziken, Chancengleichheit für alle MexikanerInnen im Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitssektor sind unvereinbar mit den Herrschaftsprinzipien der “institutionalisierten Revolution”.
Wiedereintritt in die Geschichte
Schon Anfang Januar haben die Zapatisten die chiapanekische und mexikanische Zivilgesellschaft aufgefordert, den mit bewaffneten Mitteln gewonnenen Freiraum zu nutzen und ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Auch wenn es ihnen (noch) nicht gelungen ist, die verschiedenen nicht-militärischen Organisationen am “Dialog” in San Cristóbal direkt zu beteiligen, hat der Appell des EZLN an die Indígena- und Campesino-Organisationen Mexikos einen von Sonora bis Yucatán reichenden Sturm der Basismobilisierung ausgelöst.
Als erstes sind die chiapanekischen Dorfgemeinden dieser Aufforderung nachgekommen. In einem auch für die fünfhundertjährige Tradition lokaler und regionaler Widerstandsformen einmaligen Umfang haben sich ca. 280 verschiedenste Organisationen aus Comunidades des ganzen Bundesstaates schon am 24. Januar zu einem losen Dachverband, dem Consejo Estatal de Organizaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas (CEOIC, “Landesrat der Indígena- und Campesino-Organisationen von Chiapas”) zusammengeschlossen. Obwohl die Gründung des Rates auf eine Initiative regierungsnaher Kreise zurückgeht – ein letzter verzweifelter Versuch, die Zapatisten von ihrer Basis zu isolieren -, setzten sich die unabhängigen Gruppen durch, bis sich schließlich auch die Vertreter der PRI-nahen Campesino-Organisation CNC dem Forderungskatalog der Mehrheit anschlossen: Anerkennung des CEOIC als Verhandlungspartner, Absetzung der korrupten Lokal- und Regionalpolitiker, vollständige Revision der Landreform unter maßgeblicher Beteiligung der Campesino-Organisationen sowie Umsetzung der ILO-Konvention 169, die eine Territorialautonomie und die verfassungsmäßige Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte der indigenen Völker beinhaltet.
Eine derart umfassende Plattform von Basisorganisationen, die ihren politischen Willen jenseits der üblichen staatlich-korporativen Kanalisation artikuliert, läutet eine vollkommen neue Beziehung ein zwischen dem “fiktiven” und dem “tiefen Mexiko”, zwischen Staat und Gesellschaft, wie Mario Landeros von der Organisation Xi’ Nich’ aus Palenque erklärt:
“Wir haben gemerkt, daß wir selbst die Regierung als solche darstellen müssen, daß wir unsere Regierungsform suchen müssen… Wir beginnen langsam zu reifen, um eine politische Führung für unsere sozialen Organisationen aufzubauen. Es geht nicht mehr um PRI, PAN, PRD oder was auch immer für eine Partei. Wir sind dabei, Vereinbarungen zu treffen, die dann nicht von einer bestimmten Organisation, sondern von der gesamten Gesellschaft umgesetzt werden. Das ist die Strategie zu reifen, und so den politischen Wechsel zu erreichen”.
Daß EZLN und CEOIC das regionale Mächtesystem grundlegend verändert haben, zeigen nicht nur die zahlreichen Absetzungen korrupter, PRI-höriger Kaziken und Kommunalpolitiker im Hochland von Chiapas sowie die Besetzungen von bislang 1.500 Hektar Land auf Latifundien, deren Auflösung und Verteilung jahrzehntelang von Campesino-Organisationen auf dem Behördenweg eingefordert worden war. Auch die herrschenden Oligarchien reagieren, indem sie ihre Privatarmeen aufrüsten. Besitzer illegaler Latifundien ließen im Februar die Campesino-Anführer Mariano Pérez aus Simojovel und Pedro Méndez aus Yajalón ermorden. Gleichzeitig werden mit tatkräftiger Unterstützung der politischen Polizei die sog. Defensas Rurales wiederbelebt, ein noch aus den nachrevolutionären Wirren stammendes paramilitärisch organisiertes Spionagenetz. Und eine von der lokalen Händler-Elite getragene “Bürgerfront von San Cristóbal gegen die Destabilisierer” (Frente Cívico Coleto Contra los Desestabilizadores) agitiert unterdessen nicht nur für eine Beendigung jeglicher Verhandlungen mit den Zapatisten, sondern ganz besonders auch für eine Vertreibung des Bischofs Samuel Ruiz aus der Stadt.
Ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann
Chiapas ist Mexiko; der zapatistische Kampf ist keineswegs lokal begrenzt, wie Salinas gegenüber dem irritierten Auslandskapital glauben machen wollte. Auch im Bundesstaat Morelos, der Heimat von Emiliano Zapata, hat sich ähnlich wie in Chiapas eine gemeinsame Plattform, die Unión de Comunidades Indígenas de Morelos (Vereinigung der Indígena-Gemeinden von Morelos), gebildet. Sie begrüßte schon am 5. Januar die Rückkehr des mythischen Revolutionärs in Gestalt der chiapanekischen Aufständischen, wie Präsidiumsmitglied Arturo Dimas aus Huazulco betont:
“Wir in Morelos sagen: Das Volk ist die Regierung. Daher hat das Zapatistische Befreiungsheer den Namen Zapatas ganz und gar nicht beschmutzt, wie von offizieller Seite behauptet wurde. Nein, es weist ihm den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt”.
Die Solidarisierungskundgebungen reichen von den Maya der Halbinsel Yucatán über die Nahua aus Veracruz, die Otomí aus Querétaro und die Chontales aus Tabasco bis zu den Yaqui und Mayo in dem an die USA angrenzenden Bundesstaat Sonora. Dort gelingt es dem RegionalKommittee der Confederación Nacional Indígena (CNI), einer PRI-Unterorganisation, zum ersten Mal, die Bevormundung durch die örtliche PRI-Spitze abzuwehren: Nach einer wochenlangen Besetzung von Regierungsgebäuden und einem “Zapatistischen Marsch” muß die Landesregierung den unabhängigen Wunschkandidaten als neuen CNI-Vorsitzenden akzeptieren.
Während in Sonora das korporative Machtsystem der Staatspartei und ihres Paternalismus gegenüber den Indígenas erst zu bröckeln beginnt, existieren in konfliktreicheren Bundesstaaten wie Guerrero, Oaxaca und Michoacán, die auf eine lange Tradition indianischen Widerstands zurückblicken, bereits unabhängige, eigenständige Organisationen. In Guerrero sind dies der Consejo de Pueblos Nahuas del Alto Balsas und der Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia Indígena: Der Balsas-Rat ist ein Zusammenschluß von extrem marginalisierten Dorfgemeinden, deren physische Existenz durch den Bau eines hydroelektrischen Großprojektes bedroht ist: “Wir haben über Jahre hinweg mit der Regierung verhandelt, und nichts hat es gebracht. Was wird geschehen, wenn es wie in Chiapas keine Lösungen gibt? Unsere Geduld geht zu Ende…” (Alfredo Ramírez & Eustaquio Celestino, Verhandlungsbeauftragte des Rates).
Der Consejo Guerrerense ist 1991 im Zusammenhang mit Protest-Veranstaltungen gegen die offiziellen Kolumbus-Jubelfeiern entstanden; er verhandelt im Auftrag von mehr als 400 Dorfgemeinden aus Guerrero mit offiziellen Stellen über die Freilassung von gefangenen Campesinos, die Anerkennung kommunaler Landrechte, die Finanzierung von lokal initiierten Entwicklungsprojekten, die Abtretung von Selbstverwaltungskompetenzen an die Dorfversammlungen und über die Anpassung der Infrastrukturmaßnahmen an die regionalen Bedürfnisse. Ende Februar hat der Rat einen Marsch auf Mexiko-Stadt durchgeführt, um den Kampf des EZLN zu unterstützen und die verschiedensten Forderungen zusammenzutragen:
“Zapatistische Brüder: Ihr seid nicht allein! Wir sind Abertausende, in deren ehrlichen Herzen Ihr die Wut der Würde entzündet habt, in unseren Herzen, in unseren Völkern. Deshalb haben wir beschlossen, diesen Marsch für den Frieden und die Würde der Indígena-Völker unter dem Motto “Ihr seid nicht allein” durchzuführen. Wir marschieren nach Mexiko-Stadt, um ein für alle Mal unsere Forderungen durchzusetzen, die wir am 13. Oktober 1992 dem Herrn Präsidenten Carlos Salinas de Gortari höchstpersönlich in seinem Regierungspalast Los Pinos vorgelegt haben. Damals sind wir von Chilpancingo bis zur Hauptstadt hunderte von Kilometern gewandert, um uns Gehör zu verschaffen. Und was bekamen wir dafür? Nichts als Blasen an unseren nackten Füßen und Überdruß in unseren Herzen und Hoffnungen, die von so weit her kommen… Deswegen sagen wir, wie unsere zapatistischen Brüder in Chiapas: Das Schweigen der Indígenas ist zu Ende – Basta Ya!”
Auch in dem an Chiapas angrenzenden Bundesstaat Oaxaca hat eine neugegründete Koalition von zapotecos und chinantecos ihr Recht auf lokale und regionale Selbstbestimmung und ihre Unterstützung des Kampfes des EZLN bekräftigt. Während einer eigentlich als Wahlkampfveranstaltung der PRI gedachten Versammlung und in Anwesenheit des inzwischen ermordeten Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio erklärte der Dorfvorsteher von Guelatao, Víctor García:
“Unsere Forderungen nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Selbstbestimmung müssen verstanden werden als Antwort auf eine politische Praxis, die gekennzeichnet ist von Zentralisierung, Marginalisierung, Korruption, Wahlbetrug und Aufzwingung illegitimer Repräsentanten und Programme, die nichts zu tun haben mit unserer Kultur. All dies hat unsere Dörfer dazu veranlaßt, praktische und manchmal gewaltsame Lösungen zu wählen, um unser Überleben zu ermöglichen. Von diesem Ort aus erneuern wir unsere Anerkennung für verzweifelte Aktionsformen, wie diejenigen in unserem Bruderstaat Chiapas. Wir betonen, daß für uns Frieden ausschließlich die Respektierung des Rechtes des Anderen bedeutet. Wir wünschen Ihnen, Herr Kandidat, daß Ihr Aufenthalt in Guelatao Ihnen Anlaß gibt zu tiefer Nachdenklichkeit und ehrlicher Solidarität mit der mexikanischen Nation und besonders seinen Indígena-Völkern”.
Und schließlich haben die Purhépecha des Bundesstaates Michoacán Ende Februar ihre über 50 Dorfgemeinden zu einem regionalen Treffen ins Hochland nach Pichátaro eingeladen. Die mehr als 200 von ihren Dorfversammlungen entsandten Vertreter haben jenseits von korporativen Banden, parteipolitischen Grenzen und alten Landkonflikten zwischen einzelnen Dörfern ein politisches Programm formuliert, das die Beziehungen zwischen Indígenas und Staat auf eine neue Grundlage stellen und den Zusammenhalt innerhalb der Region stärken soll. Gastgeber Abelardo Torres faßt zusammen:
“Statt Regierungshilfen anzuwerben, bestand die Zielsetzung unserer Versammlung darin, die Einheit der Purhépecha um eine gemeinsame Plattform von Bedürfnissen und Ansprüchen herum zu erstreben, die wir selbst formulieren und dann auch zusammen in lokalen Projekten verwirklichen. So isoliert wie bisher können wir nichts ausrichten. Es geht darum, die gleichen Wege auch gemeinsam zu gehen”.
Um die Erfahrungen, Forderungen, Strategien und Aktionsformen dieser verschiedensten regionalen Treffen, Plattformen und Koordinationen zusammenzutragen, haben ca. 30 regionale und lokale Organisationen aus ganz Mexiko anschließend zu einer Convención Nacional Electoral de los Pueblos Indígenas Anfang März in Mexiko-Stadt geladen. VertreterInnen von 40 Indígena-Völkern und 110 sozialen Organisationen und Initiativen erarbeiteten während dieser zweitägigen Wahlkonvention eine Charta für die am 21. August stattfindenden Präsidentschaftswahlen. Damit sollen zum einen die politischen Parteien dazu veranlaßt werden, das “tiefe Mexiko” in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen; zum anderen geht es aber vor allem darum, der Indígena- und Campesino-Bevölkerung eine nationale Artikulationsebene zu verschaffen, von der aus das Projekt Mexiko revidiert werden soll.
Kein größeres Stück Torte – sondern ein neues Rezept
Ebenso wie die Haltung des EZLN bei den “Verhandlungen” in San Cristóbal sprengen auch die Hauptforderungen der Purhépecha, Nahua, Zapotecos, Chinantecos etc. das assistentialistische Modell, mit dem bisher das “fiktive Mexiko” die marginalisierten Verlierer der Modernisierung durch punktuelle und an korporative Gefolgschaften gebundene staatliche Fürsorge- und Entwicklungsprogramme wie PRONASOL ruhigzustellen und so Protest zu kanalisieren versucht. In allen programmatischen Erklärungen sowohl der regionalen als auch der nationalen Treffen stehen nicht eine Erhöhung des PRONASOL-Etats oder eine “Verbesserung” der Entwicklungsprogramme im Mittelpunkt, sondern die Abtretung von Souveränität. Gefragt wird nicht mehr, wer wieviel bekommt, sondern wer nach welchen Kriterien verteilen darf. Diese Neukonzeption des Verhältnisses des Nationalstaates zu den Indígena-Völkern betrifft die gesamte Zivilgesellschaft, wie das “Kommunalstatut” der Triqui von Chicahuaxtla aus Oaxaca verdeutlicht:
“Die Gemeinde von San Andrés Chicahuaxtla definiert ihre Souveränität als das Recht, frei zu leben auf dem Land, das sie seit Menschengedenken bewohnt und deren Grenzen vom mexikanischen Staat und von unseren Nachbargemeinden anerkannt worden sind. Statt im Widerspruch zur Souveränität des mexikanischen Staates zu stehen, trägt die Souveränität des Triqui-Volkes von San Andrés Chicahuaxtla, wie auch die der anderen Völker und Kulturen, die die mexikanische Gesellschaft bilden, dazu bei, sie zu bereichern und zu stärken und ihr historischen und sozialen Gehalt zu verleihen. Statt die mexikanische Verfassung und ihre Ausführungsgesetze gegen den Willen derjenigen Völker zu formulieren und durchzusetzen, die dieses Land geschaffen haben und es heute bilden, müssen Verfassung und Gesetze ausgehend von der vollständigen Anerkennung dieser Völker, ihrer ureigenen Rechte, ihrer Traditionen, Bräuche und Hoffnungen erlassen und angewandt werden”.
Ausgangspunkt der Autonomiebestrebungen ist immer die Dorfgemeinde als die historisch zentrale Instanz der Identitätsstiftung: Nur die Comunidad konnte im Zuge eines fünfhundertjährigen Widerstandskampfes als Freiraum bewahrt werden. Auf dieser lokalen Ebene ist Selbstbestimmung daher nicht eine Forderung nach Veränderung, sondern bloß nach juristischer Anerkennung des Status Quo: Auch ohne offiziellen Verfassungsrang bildet die Comunidad als Versammlung aller Gemeindemitglieder die wichtigste Säule der direktdemokratischen Traditionen. Ihr Überleben als eigenständige politische Instanz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten durch das Vordringen des Staates und den damit einhergenden Praktiken des Polarisierens und Spaltens gefährdet.
Kampf um kommunales Land
Die Verteidigung und Stärkung der Indígena-Gemeinde richtet sich vor allem auf die Rückgewinnung des Kommunallandes und der darauf befindlichen Naturressourcen. Wie schon einmal Mitte des 19. Jahrhunderts stellt die 1992 von Salinas im Zuge der NAFTA-Verhandlungen durchgesetzte neoliberale Privatisierung des Ejido- und Kommunallands (Art. 27 der Verfassung) die materielle Basis der Comunidad zur Disposition. In der Verteidigung des Landbesitzes zeigt sich die neue Qualität der Beziehungen zum Staat: Keine einzige Indígena-Organisation fordert eine Rückkehr zur alten Fassung des Artikel 27, in der das Ejido als korporativ und hierarchisch kontrollierter Staatsbesitz den Vorrang hatte vor dem lokal und dezentral verwalteten Kommunalland. Mit ihrer Forderung nach territorialer Autonomie wollen die Indígenas daher nicht irgendeine Konzession oder weitere Reformen des Art.27 erhalten, sondern sich – wie es der legendäre Plan de Ayala von Emiliano Zapata 1911 vorsah – einen Freiraum für eigene, lokale und regionale Entscheidungen sichern. Dieser Prozeß der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Ressourcen hat schon während der Diskussionen um die Abschaffung der kollektiven Besitzrechte begonnen. So setzt zum Beispiel das Decreto de la Nación Purhépecha von 1991 alle Verfassungsänderungen für ihr Territorium außer Kraft, die das Kommunalland betreffen:
“Auf der Grundlage unseres historischen Rechtes, des Rechtes auf Souveränität und freie Selbstbestimmung über unsere Gegenwart und unsere Zukunft, und angesichts der Tatsache, daß wir die legitimen Erben und Inhaber dieses Landes sind, haben wir, Mitglieder und Gemeinden der Purhépecha-Nation das folgende Dekret erlassen: 1) Wir setzen alle Reformen des Verfassungsartikels 27 und alle eventuellen späteren Novellierungen derjenigen Artikel der mexikanischen Verfassung außer Kraft, die die Indígena-Gemeinden, die Campesinos, die Arbeiter und das Volk im allgemeinen betreffen, wie die Artikel 3, 123 und 130. 2) Wir beanspruchen die Unverjährbarkeit, die Unveräußerlichkeit und die Nicht-Beschlagnahmbarkeit des Kommunal- und Ejido-Landes sowie ihre Definition als gesellschaftliches Eigentum. 3) Alle Kommunal- und Ejido-Bauern, die Parzellen oder Land eigenmächtig verkaufen, werden aus den Gemeinden ausgestoßen. 4) Alle Anführer und Dorfautoritäten, die der Reform des Artikels 27 zugestimmt haben, ohne ihre Basis zu befragen, sind abgesetzt. Erlassen im Territorium der Purhépecha-Nation, am 5. Dezember 1991. Juchari Uinapikua! / Unsere Kraft! – Die Purhépecha-Gemeinden Michoacáns”.
Regionalautonomie und direkte Demokratie
Diese territorialen Souveränitätsansprüche münden gleichzeitig in eine politische Reorganisation des gesamten Staates. Gefordert wird nicht nur eine Dezentralisierung der Kompetenzen der Zentralregierung, sondern als erster Schritt eine Reform und Neuabgrenzung der Gebietskörperschaften: In vielen Bundesstaaten führt die bewußt künstliche Grenzziehung der Municipio-Distrikte und der Wahlkreise dazu, daß eine Vielzahl von Indígena-Gemeinden einem mestizischen Distriktsvorort untergeordnet sind. Dadurch soll den Indígenas der Zugang zu regionalen oder nationalen Ämtern und Mandaten systematisch erschwert werden, wie Margarito Ruiz, Tojolabal-Indígena aus Chiapas und ehemaliger Parlamentsabgeordneter der oppositionellen PRD, zeigt:
“Es ist historisch erwiesen, daß die Einteilung in Municipios und die verschiedenen anderen Gebietskörperschaften des Landes aufgrund von Interessenkonflikten zwischen Caudillos und anderen lokalen Kräften vollzogen worden ist. Die territoriale Gliederung Mexikos entspricht nicht Kriterien einer wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Regionalisierung. So kommt es, daß die Tojolabal, obwohl sie über ein geschlossenes Siedlungsgebiet verfügen, auf die Municipios Comitán, Las Margaritas, Altamirano und La Independencia aufgeteilt sind. Und die Tzotzil, die auch geschlossen siedeln, wurden in fünf verschiedene Municipios eingeteilt. Dies ist das vorherrschende Modell in fast allen Indígena-Regionen des Landes”.
Daher fordert die Wahlcharta der Nationalkonvention die Einführung pluriethnischer Territorien mit jeweils eigener Repräsentanz auf bundes- und zentralstaatlicher Ebene. An diese Regionen, die auch die innerhalb eines Indígena-Siedlungsgebietes lebenden Mestizen umfassen und unabhängig von bestehenden Municipio-Grenzen eingerichtet werden sollen, müssen Municipios und Bundesstaaten Kompetenzen im Sinne der territorialen Selbstbestimmung abtreten.
Was die Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen betrifft, lehnt die gemeinsame Charta der Nationalkonvention das herkömmliche Modell der repräsentativen Parteiendemokratie als unzulänglich für die Vertretung der Indígena-Interessen ab. Da in den Comunidades Entscheidungen nicht nach Parteienmehrheit getroffen werden, soll für jede pluriethnische Region ein spezieller Wahldistrikt geschaffen werden:
“Unter Berücksichtigung unserer Formen des Regierens und unserer Sozialorganisation sowie zur Gewährleistung der vollen Repräsentation der Indígena-Völker innerhalb der staatlichen Strukturen werden die autonomen Regionen ihre internen Mechanismen der Bestimmung ihrer Vertreter jeweils eigenständig festlegen”.
Völkerrechtliche Verträge statt mehr Almosen
Die staatliche Anerkennung der kommunalen und regionalen Souveränität in den Bereichen territoriale Autonomie und Ressourcenkontrolle, politische Repräsentationsformen, Anerkennung der Indígena-Sprachen und das Recht auf selbstbestimmte Erziehungs- und Kulturinstitutionen soll durch eine Reform des Artikels 4 der Verfassung erfolgen. Dieser Artikel erkennt in seiner aktuellen Fassung höchst schwammig die “plurikulturelle Zusammensetzung der mexikanischen Nation” und die staatliche Verpflichtung zum “Schutz der Sprachen, Kulturen, Bräuche, Ressourcen und Organisationsformen der Indígena-Völker” an.
Wie weit der Weg noch ist, bis Staat und Regierungspartei tatsächlich bereit sein sollten, Kompetenzen an die Regionen und Völker Mexikos abzutreten, zeigt das letzte offizielle Zugeständnis von Salinas an die Autonomieforderungen der Indígenas: Kaschiert als Teil des “Verhandlungsergebnisses” mit dem EZLN wurde im März eine Comisión Nacional de Desarrollo Integral y Justicia Social para los Pueblos Indígenas ernannt, in der jedoch bezeichnenderweise kein einziger Indígena vertreten ist. Das altbewährte Konzept “Assistentialismus für Indígenas, aber ohne Indígenas” wird erneut angewandt. Und auch der Aufgabenbereich der Nationalen Kommission ist identisch mit dem bestehenden, bereits 1948 gegründeten und mittlerweile vom Notprogramm PRONASOL vollständig aufgesogenen Instituto Nacional Indigenista, dessen endgültige Abschaffung allerorts gefordert wird.
Das korporative politische System Mexikos scheint sich – trotz “Modernisierung”, “Rückzug des Staates”, “Deregulierung” und ähnlicher technokratischer Ideologeme – aus Gründen des Machterhaltes der Elite des “fiktiven Mexiko” von überkommenen Mustern der Kanalisierung von Protest, der Integration mittels Korruption sowie der Disziplinierung durch Parteikanäle nicht lösen zu können. Was tun? Der abtrünnige Entwicklungsplaner und heutige Graswurzelaktivist Gustavo Esteva empfiehlt Sterbehilfe:
“Der Kampf um die einzelnen Forderungen und um das Land als solches bewirken eine schnelle und intensive Politisierung des öffentlichen Lebens, wodurch das Absterben des herrschenden politischen Systems beschleunigt wird, eines Systems, das meiner Ansicht nach bereits im Sterben liegt. Die gegenwärtige Herausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um dem System einen würdigen Tod und ein ehrenhaftes Begräbnis zu bieten. Wenn wir diese Agonie oder sogar den Todesfall abstreiten oder zu verbergen versuchen, wird der unbestattete Kadaver schon sehr bald die übelsten Gerüche absondern”.
Das Tragische und Gefährliche liegt in der Ungleichzeitigkeit der Ereignisse und Akteure: Während sich der Apparat mitten in seiner Agonie gegenüber der Gesellschaft weiterhin verhält wie vor vierzig Jahren, hat die Zivilgesellschaft selbst längst begonnen, der Aufforderung des Subcomandante Marcos von Mitte Januar zu folgen: Vorsichtig streift sie die ihr aufgezwungene Maske ab und erkennt langsam im noch ganz unbekannten, eigenen Spiegelbild die Konturen des “tiefen Mexiko”.