„Sentimentalität ist eine Sache, Humanismus eine andere.“
Interview mit Walter Salles, dem Regisseur von „Central do Brasil“
Die Suche nach den eigenen Wurzeln spielte bereits in deinem vorherigen Film “Terra Estrangeira” eine entscheidende Rolle. Was fasziniert dich so daran?
Ich denke, daß die Frage der Suche nach dem Vater und die nach dem Land sehr eng mit Brasilien verbunden sind. Das fängt schon damit an, daß im Portugiesischen die Worte für Vater – „pai“ – und Land – „país“ – fast dieselben sind. Unser Land ist vergleichsweise spät kolonialisiert worden, nämlich bekanntermaßen im Jahr 1500. Was ist passiert? Der Kolonisator kam und ging. Der Vater kam, nahm alles, was er wollte, und ging wieder. Daher ist die Frage der Identität, die Frage, woher wir kommen, die Frage nach der Vaterschaft für das Land sehr wichtig. Bei genauem Hinsehen sind in „Terra Estrangeira“ und in „Central do Brasil“ die Väter gar nicht existent. In „Terra Estrangeira“ geht ein junger Mann auf der Suche nach einem möglichen Land und einem möglichen Vater nach Portugal. Die Identitätskrise betrifft also nicht nur eine Person, sondern ein ganzes Land. Es handelt sich um eine konstitutive Frage für ganz Brasilien, wie für sämtliche Länder der Dritten Welt, die unter dem Kolonialismus zu leiden hatten und die eine sehr konfliktreiche Beziehung zu dem Land haben, von dem sie „entdeckt“ wurden. In „Terra Estrangeira“ besteht nicht nur ein Konflikt zwischen Portugiesen und Brasilianern, sondern auch zwischen Angolanern und Portugiesen, Kaboverdianern und Portugiesen. Alle sind in das gleiche Problem involviert.
Woher kommt deine Familie?
Aus dem Landesinneren von Brasilien, aus Minas Gerais. Meine Mutter kommt aus einem Vorort von Belo Horizonte, mein Vater aus einer ziemlich kleinen Stadt namens Pouso Alegre. Er war der einzige von fünf Kindern, der eine richtige formale und akademische Ausbildung bekam – mein Großvater schickte ihn zum Studium nach Sao Paulo. Mein Vater wurde Geschäftsmann und später, kurz bevor ich geboren wurde, Diplomat. So habe ich in verschiedenen Ländern gelebt – zuerst in den Vereinigten Staaten, dann in Frankreich. Wir kehrten nach Brasilien zurück, als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Daher sind die Fragen des Exils und der Migration in gewisser Weise auch meine persönlichen Themen.
Fühlst du dich wie ein Migrant?
Ich glaube, ich bin einer. Ich habe Schwierigkeiten, es lange Zeit an einem Ort auszuhalten.
Ist das Unterwegssein mittlerweile zu einem persönliche Bedürfnis geworden?
Ja. Auch in meinen Filmen ziehe ich es vor, von Dingen zu reden, die ich noch nicht kenne, suche nach einem Weg, an diese Orte zu reisen und etwas Neues kennenzulernen. Einer der Regisseure, die ich sehr mag, ist John Cassavetes – ein unabhängiger, radikal unabhängiger Filmemacher. Das Gegenteil eines Hollywood-Regisseurs. Er hat gesagt, daß er sich nur für die Themen interessiere, die ihm noch fremd seien. Das ist etwas, womit ich mich identifiziere, dieser Kontakt mit dem Unbekannten, dieses Lernen. Das, was es dir erlaubt, zwei Jahre mit Leidenschaft bei einer Sache zu sein, nämlich dem Thema dieses Filmes. Ich glaube, die Leute haben sehr romantische Vorstellungen vom Filmemachen. Es gibt in diesem Beruf nicht den Glamour, der damit assoziiert wird, sondern fast unumstößliche Verpflichtungen, was die Arbeit angeht. Ich habe zwei Jahre ohne freie Wochenenden an diesem Film gearbeitet. Fünf, sechs Monate lang bin ich nur gereist, gereist, gereist, um nach Drehorten im Landesinneren zu suchen. Das war ein sehr langer und ermüdender Prozeß. Wenn ich keine so große Leidenschaft für die Ideen gespürt hätte, dafür, diese Geschichte zu erzählen, wäre ich nie ans Ziel gekommen.
Was ist wichtiger – sowohl beim Filmen als auch beim Reisen – das Suchen oder das Finden?
Ich glaube, das Wichtige ist, zu suchen und in irgendeiner Form zu finden. Man findet nie vollständig, was man sucht. Es gelingt dir nie, einem Thema wirklich auf den Grund zu gehen. Deswegen gefällt mir auch „Rashomon“ von Kurosawa so sehr (japanischer Filmklassiker, Anm. d. R.). Denn es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Man muß immer eine Sache aus verschiedenen Sichtweisen betrachten. Meinen Entwurf habe ich unterwegs gefunden. Er wird aber anders sein als das, was jemand anders findet. Also muß ich die Entdeckung, die Begegnung relativieren. Die Idee des Kinos ist die, etwas kennenzulernen, sich einer Sache anzunähern. Das halte ich für eine der schönsten Sachen beim Film, diese Möglichkeit, in das Unbekannte einzutauchen.
Wie findest du deine Themen, beispielsweise die Geschichte von „Central do Brasil“?
Ich hatte bereits einen Dokumentarfilm gemacht über die Beziehung zwischen einer Gefangenen und einem Bildhauer. Die Frau, die zu 30 Jahren Haft verurteilt war, entdeckte eines Tages in einer zwei Jahre alten Zeitschrift einen Artikel über den Bildhauer Franz Kracjberg . Er macht eine ziemlich radikale Kunst. Zum Beispiel begibt er sich zu den Plantagen im Amazonasgebiet, wo Bäume niedergebrannt werden. Er leimt die verkohlten Bäume zusammen und macht aus diesen leblosen, vom Menschen verwüsteten Objekten eine Skulptur, gibt ihnen ein zweites Leben. Diese Skulpturen haben eine innere Kraft, die schwer mit Worten zu beschreiben ist. Als diese Frau die Fotos sah, war ihr, als gäbe Kracjberg Dingen, die nichts mehr zu erhoffen hätten, eine zweite Chance. Und sie dachte, sie könnte sich vielleicht davon inspirieren lassen. Sie schrieb ihm einen Brief, in dem sie sagte: Ich kann zwar nicht gut schreiben, aber ich werde versuchen, die Gefühle auszudrücken, die ich hatte, als ich Ihre Arbeiten sah. Berührt von dem Brief, schrieb er zurück. So entwickelte sich eine schriftliche Beziehung zwischen den beiden. Kracjberg, der ein Freund von mir ist, zeigte mir die Briefe, und ich machte einen Dokumentarfilm darüber. Ich habe nie vergessen, was für eine Bedeutung ein Brief, ein so prosaisches Objekt haben kann. Und das heutzutage, kurz vor der Jahrtausendwende, wo man sich den virtuellen Bildern, den Informationen, die per Computer reisen, viel näher fühlt als der gutenbergischen Nachricht, die man niederschreibt und per Brief verschickt. Mich faszinierte dieser Widerspruch, dieses Ungleichgewicht zwischen der wachsenden Geschwindigkeit der modernen Welt und die Bedeutung der Langsamkeit, der archaischen Form der Kommunikation. Deshalb wollte ich darüber einen Film machen.
Dieses Grundgefühl kann man dem Film deutlich ansehen: Das Chaos in der Central do Brasil, die Leute, die versuchen, all dem zu entkommen…
Der erste Teil des Films handelt vom Identitätsverlust, vom mangelnden Respekt dem Individuum gegenüber, das Teil der Masse ist. Und in dem Maße, wie die Geschichte voranschreitet im Sinne der Entdeckung des hypothetischen Vaters, der Ursprünge, der Wurzeln, verwandelt sich der Film. Er wird ruhiger, die Klänge werden reiner. Und die Leute kommen Schritt für Schritt an. Die anfängliche Spannung vergeht allmählich, und der Film endet auf eine sehr langsame und sehr zarte Weise. Der Film handelt einerseits von der Entdeckung der Zuneigung, andererseits von der Wichtigkeit, die Briefe, die man schreibt, auch wirklich abzuschicken. Für uns Brasilianer waren die siebziger und achtziger Jahre eine Zeit, in der wir keine Briefe verschickt haben. Wir haben nur Briefe zerrissen.
Briefe zerrissen – warum?
Weil wir sehr unter dem Einfluß der Leute standen, die sagten: Laßt uns Teil der Ersten Welt werden – und um diese Ziele zu erreichen, ist jedes Mittel recht. Wir haben die Ethik vergessen. Lange Zeit lebte die Nation unter dem Vorzeichen der Straflosigkeit von Verbrechen. Wir hatten uns an den Zynismus der neoliberalen Welt gewöhnt. Gleichzeitig war der Zynismus während der Zeit der Militärregierung überlebensnotwendig. Ich glaube, mittlerweile haben die Leute davon die Schnauze voll: Es gibt im ganzen Land das Bedürfnis nach einem Klima, in dem mehr Mitgefühl existiert, nach einem Land, das vielleicht etwas schlichter ist als jenes gloriose Selbstbild, dem wir immer gleichkommen wollten. Vielleicht sollten wir einfach zur Kenntnis nehmen, daß dies ein wesentlich einfacheres und archaischeres Land ist, in dem aber auch Empfindsamkeit existiert. In der Central do Brasil nehmen sich die Leute gegenseitig gar nicht zur Kenntnis. Nichts wird fokussiert – wie man in dem Film sehen kann. Alle fungieren nur als Masse. Ich wollte eines Film über die Bedeutung machen, den Zynismus zu verlieren. Der Film handelt von der Überwindung eines zynischen Weltbildes, ein Film über die Notwendigkeit, Briefe zu versenden.
Erkennst du denn innerhalb der brasilianischen Gesellschaft konkrete Anzeichen dafür, daß die Dinge sich ändern?
Das Bedürfnis nach Veränderung ist meiner Meinung nach offenkundig. Bei vielen Leuten gibt es den dringenden Wunsch, eine zweite Chance zu bekommen. Deshalb kommt der Film auch an – und das nicht nur in Brasilien. Diese Notwendigkeit, eine zweite Chance zu bekommen, existiert an verschiedenen Orten. Als der Film auf dem Sundance Film Festival präsentiert wurde, schrieb die New York Times, dies sei der beste Film des Festivals, und das Publikum applaudierte sehr herzlich. Ich glaube, in Wirklichkeit hätten alle gerne eine zweite Chance (lacht). Alle haben in einer bestimmten Phase ihres Lebens aufgehört, Briefe zu schreiben.
Schreibst du selbst viele Briefe? Bleibt dir überhaupt die Zeit dazu?
Ich schreibe ziemlich viele. Gerade habe ich einige per Fax abgeschickt (lacht). – Manchmal schicke ich sie aber auch per Post. Ich glaube, auch im Kino besteht die Notwendigkeit, sich einem Neo-Humanismus zuzuwenden. Zu Beginn der neunziger Jahre ist vieles auf der Strecke geblieben. Es gab eine ziemlich unkritische Ausbeutung von Brutalitäten, ein konstantes Anwachsen der Gewalt, was mittlerweile niemand mehr sehen kann.
Das Bedürfnis nach Veränderung zeigt sich zum Beispiel an dem Erfolg des Filmes „Good Will Hunting“ von Gus van Sant, der hier auf der Berlinale zu sehen ist: Das ist ein humanistischer Film. Egal, ob man ihn mag oder nicht, der Film ist gerade aus diesem Grunde in den Vereinigten Staaten ein Erfolg. Vor zwei Jahren hätte dieser Film nur einen Zuschauer gehabt.
Da bin ich mit nicht so sicher. Im Hollywoodkino führen der Zynismus und die Sentimentalität doch eine friedliche Koexistenz.
Sentimentalität ist eine Sache, Humanismus eine andere.
Was tut sich zur Zeit im brasilianischen Kino? Die Anzahl der Produktionen boomt ja seit ein paar Jahren. Gibt es ein Novo Cinema Novo?
Zur Zeit produzieren wir ca. 30 Filme pro Jahr. Das ist immer noch wenig, wenn man es beispielsweise mit den 120 Filmen vergleicht, die jährlich in Frankreich gedreht werden. Aber auch mit diesen relativ wenigen Produktionen haben wir international große Resonanz gehabt. Das brasilianische Kino nimmt wieder an Festivals teil, sei es in den Parallelsektionen wie letztes Jahr hier in Berlin, sei es mit Filmen wie dem von Bruno Barreto im Wettbewerb („O que é isso, companheiro“, LN 274). Höchstwahrscheinlich wird der neue Film von Hector Babenco im Wettbewerb des Festivals in Cannes starten.
Es gibt also eine neue Welle des brasilianischen Films, die international, aber auch im Lande selbst wahrgenommen wird. Das Interessanteste ist, daß das Publikum wieder in brasilianische Filme geht. „Terra Estrangeira“ lief sechs Monate lang im Kino – viel länger, als wir gedacht hatten. Die Leute redeten über den Film. Ähnliches ist mit anderen Filmen geschehen. Schritt für Schritt formulieren wir unsere Perspektiven neu. Es gibt ein Bedürfnis, Filme zu machen, aber auch ein Bedürfnis des Publikums, sich in den Filmen widerzuspiegeln.
Wie ist das Verhältnis zur mächtigen Fernsehindustrie?
Dem brasilianischen Film ist es schon immer viel besser als dem Fernsehen gelungen, das zu reflektieren, was im Lande vor sich geht – auch wenn das Fernsehen sehr erfolgreich ist. Ein Film wie „Vidas Secas“ (von Nelson Pereira dos Santos, 1963; Anm. d. R.) entwirft das treffendste Bild der inneren Migration, die in den Fünfzigern im Lande vonstatten ging. Oder, wenn du in die siebziger Jahre hineingehst und „Bye, bye Brasil“ anschaust (von Carlos Diegues, 1979; Anm. d. R.), siehst du die Frage der Zersetzung der brasilianischen Gesellschaft. „Pixote“ von Hector Babenco (1980) greift das Thema der verlorenen Kindheit während der Militärdiktatur auf. Im Gegensatz zum Fernsehen überdauert das Kino die Jahre. Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum Collor de Mello ihm Anfang der Neunziger den Garaus machen wollte. Um diese Stimme loszuwerden, um dem Fernsehen die Definitionsmacht über Gegenwart und Zukunft des Landes zu überlassen. Glücklicherweise setzte rechtzeitig ein Wandel ein.
Sowohl in „Central do Brasil“ also auch in „Terra Estrangeira“ sind die großen Städte wie Rio oder Sao Paulo äußerst unwirtlich. Im Gegensatz dazu erscheint der Sertao als ein Ort, an den dem die Leute zur Ruhe kommen und finden, was sie suchen.
Das muß ich ein bißchen relativieren. Es wäre eine gefährlich Vereinfachung, zu behaupten, daß die städtische Umgebung durch und durch verrottet sei, die ländliche hingegen Lösungsmöglichkeiten biete. Das urbane Chaos in Brasilien hat eine historische Wurzel. Sie geht auf den Industrialisierungsprozeß zurück, auf die Vorstellungen von einem Wirtschaftswunder. Das Fernsehen hat der Militärregierung sehr dabei geholfen, dies zu verbreiten. Jahrelang sahen die Leute im Nordosten Brasiliens Fernsehbilder vom „Wirtschaftswunder“, „neuen Arbeitsplätzen“ und so weiter. Also begannen sie abzuwandern. Zudem war der Regierung nie an einer Umverteilung des Landbesitzes oder besseren Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder gelegen. Es fand also ein furchtbarer Migrationsprozeß statt. Die Städte im Süden füllten sich. Und als die Industrieära sich vor fünf, sechs Jahren dem Ende näherte und das Computerzeitalter begann, begannen sogar die Autofabriken, Arbeiter zu entlassen. Was passiert also? Die Favelas wachsen an, die Arbeitslosigkeit steigt. Die brasilianische Gesellschaft ist tatsächlich sehr gewalttätig, aber es gibt soziale und historische Gründe dafür.
Was bedeutet der Sertâo für dich?
Jahrelang sagten die Leute immer: Das Land dahinten, im Nordosten, ist ein archaisches Land. Das interessiert uns nicht, wir befinden und auf der Schwelle zum Eintritt in die Erste Welt. Der Film sagt: Schaut nach da drüben. Dort installierte das Cinema Novo über viele Jahre seinen Standort. Denn trotz aller Trockenheit und Armut gibt es dort menschliche Würde und die Möglichkeit zur Solidarität. Und es existiert immer noch eine Unverdorbenheit des Blicks – was für einen Filmemacher wundervoll ist.
Das Wichtige ist, daß angesichts der existentiellen Mängel die Notwendigkeit zur Solidarität besteht. Dort herrscht immer noch die gleiche Abwesenheit von Hilfseinrichtungen wie zu der Zeit, als Nelson Pereira dos Santos’ „Vidas Secas“ entstand. Daher ist die Religiosität auch so präsent. Weil ein direkter Bezug besteht zwischen Bedürftigkeit, Vernächlässigung und Religiosität. Ich stelle das Leben im Nordosten nicht als Vorbild oder Lösungsmöglichkeit dar, ich sage nicht: kehrt alle dorthin zurück. Was ich sagen will, ist: Vergeßt nicht, daß dies das Zentrum Brasilien ist. Vergeßt nicht, daß die Orte Qualitäten haben. Dieses Brasilien erscheint nicht in Fernsehjournalen, diese Gesichter erscheinen nicht in Telenovelas. Sowohl die physische als auch die menschliche Geographie ist der Mehrheit der Brasilianer unbekannt. Ich versuche also, den Charakter dieser Leute zu erklären, und oft hebe ich das Beste daran hervor.
In einer Sequenz wird ein Junge, der etwas am Bahnhofskiosk geklaut hat, auf die Gleise verfolgt und einfach erschossen.
Das ist von einer Szene inspiriert, die alle Brasilianer kennen. Ein junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren ist in ein Shopping Center in gegangen und hat Geld aus einem Laden geraubt. Dann ist er abgehauen. Er rannte auf die Straße – in Bota Fogo, einem sehr belebten Ort von Rio de Janeiro – und stand plötzlich einem Polizeiwagen gegenüber. Es gab eine Verfolgungsjagd inmitten der Autos. Der Junge rannte, stolperte und fiel hinter einen Volkswagen-Kombi. Die Polizisten erschossen ihn. Er war unbewaffnet. Es ging nur darum, das Geld wiederzubekommen. Durch Zufall war ein Amateurfilmer mit einer VHS-Kamera in der Nähe und hat alles aufgenommen. Das Fernsehen hat die Bilder gesendet. Es war ein landesweiter Skandal, der allerdings zu keinen Konsequenzen führte. Das Gerichtsverfahren steht noch aus. In Brasilien betrifft die Frage der nicht vorhandenen staatlichen Präsenz nicht nur den Norden. Sie ist auch sehr schichtspezifisch. In einem brasilianischen Gefängnis triffst du nur auf Leute aus den unteren Klassen.
In Brasilien gibt es viele Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Warum hast du dich für ein so optimistisches Ende entschieden?
Wir haben oft einen verzerrten Blickwinkel. Auf jedes Straßenkind kommen ein-, zweitausend Kinder, die arbeiten und ihre Familie unterstützen. Wie beispielsweise Vinicius (der Hauptdarsteller, Anm. d. R.). Er arbeitet normalerweise als Schuhputzer auf einem Flughafen. Diese Leute werden nie dargestellt. Das andere hat es schon gegeben – zum Beispiel in dem Film „Pixote“ von Hector Babenco. „Pixote“ handelt von der verlorenen Kindheit. Es gibt jedoch eine Gesellschaftsschicht, die viel repräsentativer ist, von der aber nie die Rede ist. Weil es da keine so dramatischen Bezüge gibt. In „Wag the Dog“, der hier auf der Berlinale zu sehen war, sagt jemand: „Bad news sell.“ – „Schlechte Nachrichten verkaufen sich gut.“ Hier in der Ersten Welt interessieren sich die Leute viel mehr für die Straßenkinder als für die anderen. Die tauchen nicht in den Zeitschriften auf, sie bieten keinen Nährstoff für das besorgte Bewußtsein der Europäer. Sie nehmen nur die Skandalpresse wahr. Das erinnert mich sehr an den Film „Reporter“ von Michelangelo Antonioni. Es gibt einen Zeitpunkt, wo die Hauptperson, die von Jack Nicholson dargestellt wird, bei einem Interview mit einem afrikanischen Rebellen die Kamera ergreift. Er stellt eine spezielle Frage für die BBC, eine distanzierte Frage danach, was er hier mache usw. In Wahrheit will der Reporter gar nicht über das reden, was tatsächlich abläuft, sondern er will sein Weltbild rechtfertigen. Dann passiert folgendes: Der Rebell ergreift die Kamera und dreht den Spieß um. Und Locke weiß gar nicht, wie er reagieren soll. Ihm wird klar, daß er überhaupt nicht mehr begreift, was er da tut. Im Moment fühle ich mich ein bißchen so. Zwei, drei Leute haben mich gefragt, warum ich nicht die Geschichte des Jungen erzähle, der auf der Straße umgebracht wird…
Letztes Jahr war „Wie Engel geboren werden“ auf der Berlinale zu sehen – ein dramatischer Film über Kinder aus der Favela, die in ein Kidnapping hineinschlittern..
Mir gefällt „Wie Engel geboren werden“ sehr – mein Bruder hat das Drehbuch geschrieben. In Brasilien wurde der Film jedoch nicht sehr gut aufgenommen, denn er berührte ein Thema, über das schon viel gesagt worden ist. Ich halte den Film für mutig, für wichtig. Gleichzeitig finde ich es mittlerweile wichtiger, daß die Leute über etwas anderes reden, über einen neuen Humanismus, über die Notwendigkeit, Sachen zu teilen, Zuneigung zu suchen und sich gegenseitig wahrzunehmen. Oft schaut man gar nicht richtig hin. Der Perspektivwechsel ist notwendig.
Übersetzung und Bearbeitung: Bettina Bremme