Nicaragua | Nummer 423/424 - Sept./Okt. 2009

Solidarität zwischen den Fronten

Nicaragua aus der Perspektive eines Besuchers

Eindrücke aus Nicaragua zum 30. Jahrestag der Revolution. Von der Feier der sandinistischen Befreiungsfront, der Kritik der Frauenorganisationen und der Loyalität der Landbevölkerung.

Kristofer Lengert

Managua ist eine wirklich seltsame Stadt. Tankstellen, Einkaufszentren und Banken sind die wichtigsten Orientierungspunkte, Straßennamen gibt es nicht. Die Häuser sind meist einstöckig und weil es kein Stadtzentrum gibt, hat man immer das Gefühl noch in einem Außenbezirk zu sein. Die Millionenstadt Managua wirkt einen Tag vor den Revolutionsfeiern friedlich und verschlafen. Dies ist mein erster Eindruck dieser Metropole, die ich irgendwie anders in Erinnerung hatte: gewalttätiger, chaotischer, gefährlicher. Ich spüre trotz der ständigen Warnungen der Taxifahrer nur wenig Unbehagen. Auch sehe ich fast keine Straßenkinder und nicht einmal fliegende Händler und nur sehr wenig Polizei. Im Stadtbild fallen mir die vielen schwarz-roten Fahnen auf, sie schmücken die einfachen Häuser, die Regierungsgebäude, Autos, Fahrräder und Busse. Auf vielen Plätzen sind Schmuckbäume aufgestellt. Von großen Plakatwänden grinst mich Daniel Ortega an, daneben irgendein nichtssagender Slogan. Morgen ist der 30. Geburtstag der sandinistischen Revolution. Es ist der Beginn einer dreiwöchigen Reise unserer Delegation durch Nicaragua, um hier VertreterInnen der sozialen Bewegung und der kritischen Zivilgesellschaft zu treffen. Wir alle hoffen, danach die politische Entwicklung im Land besser beurteilen zu können. In diesem Land das nun die zweite Etappe seiner Revolution verkündet.
Als der bewaffnete Aufstand der sandinistischen Befreiungsfront vor 30 Jahren die verhasste Somoza-Diktatur stürzte, begann eine Zeit des sozialen Aufbruchs. Es gab viel Gestaltungsspielraum für die jungen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Frauenorganisationen und LandarbeiterInnenkomitees. Mit der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und der Landverteilung an arme Kleinbauern schuf die FSLN (Sandinistische Befreiungsfront) die Basis für eine solidarische Ökonomie und für Ernährungssicherheit. Mit einer neuen Verfassung wurde das Fundament für partizipative Demokratie gesetzt, dem Klientelismus wurde der Kampf angesagt. Doch schon eine Dekade später war das sandinistische Experiment am Ende. Natürlich hatte es auch interne Spannungen gegeben, falsche Politiken und Korruption. Doch das Land war in erster Linie durch die wirtschaftliche Blockade und den Contrakrieg ausgeblutet. Am 25. Februar 1990 verloren die SandinistInnen die Wahlen gegen die Kandidatin des rechten Lagers. Es dauerte 17 Jahre bis die FSLN erneut die Regierung übernahm – Daniel Ortega ist wieder Präsident.
Und seine Regierung ist es, die nun die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag ausrichtet. Am 19. Juli versammeln sich die bierseeligen Massen an der Plaza Juan XXIII mit ihren abertausenden schwarz-roten Fahnen. Aus dem ganzen Land kommen die Busse nach Managua, im Schritttempo steuert der endlose Konvoi der FSLN-AnhängerInnen zum Platz mit der Haupttribüne. Dort wird Rum ausgeschenkt und die Erfolge der Revolution gefeiert, während das Präsidentenpaar von der Tribüne aus für Unterhaltung sorgt. Doch die offizielle Jubelveranstaltung spiegelt eindrücklich den eigentlichen Zustand der Partei wider: Präsident Ortega und seine Ehefrau Rosario Murillo stehen allein vor dem Heer ihrer AnhängerInnen. Viele Parteigrößen und Veteranen der Revolution wurden seit den 1990er Jahren aus der Partei gedrängt, andere haben ihr den Rücken gekehrt: enttäuscht, resigniert oder wütend über Niederlagen und manchen Verrat. Wir sind an diesem Tag mit AktivistInnen eines sozialen Netzwerkes verabredet. Auch sie wollen feiern, doch tun sie dies an einem kleinen Platz etwas abseits des Spektakels und getrennt von den Massen. Musik spielt, man sitzt zusammen in kleinen Gruppen und lässt in den Gesprächen die Revolution Revue passieren .
Als 1990 die Ära der Revolution endete, versuchten soziale Organisationen und Parteistrukturen der sandinistischen Bewegung vor dem Hintergrund eines Staates, der die sozialen Rechte nicht länger garantierte, die neoliberalen Jahre irgendwie zu überleben. Die FSLN arrangierte sich mit ihrer Rolle als Wahlverein. Sie kämpfte um Stimmen und Mehrheiten, mit dem Ziel, Pfründe und die eigene Macht zu sichern. Doch verlor sie ihre Anziehungskraft für ein gesellschaftlich emanzipatorisches Projekt. Auf der anderen Seite emanzipierten sich viele ehemals FSLN treue Gruppen. Sie organisierten sich selbst und begannen in autonomen Netzwerkstrukturen, Basisinitiativen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) für die Durchsetzung der sozialen und politischen Rechte zu kämpfen. Der Bruch zwischen FSLN und zivilgesellschaftlichen Basisorganisationen bahnte sich bereits seit Mitte der 1990er Jahre an. Der Pakt mit dem Korruptionsverbrecher und Führer der liberalen Partei Arnoldo Alemán und das Anbiedern der FSLN an die erzkonservative Kirche ließ das historische Bündnis schließlich brechen.
Machtpolitisch sollte Ortega Recht behalten. Seine Wahl zum Präsidenten im Jahr 2006 hatte er nicht aus der Kraft seiner AnhängerInnen und Parteiprogrammatik geschafft. Die FSLN konnte seit 1990 nie wieder die Mehrheit der Wahlbevölkerung hinter sich versammeln. Dass Ortega 2006 mit 38 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang die Präsidentschaftswahlen gewinnen konnte, wurde nur dank einer vorhergegangenen Wahlreform und der Uneinigkeit im liberalen Lager möglich. Doch diese Machtpolitik forderte ihren Tribut. Kurz vor der Wahl gab die FSLN ihre Zustimmung zum Gesetz des absoluten Abtreibungsverbotes, um die Unterstützung durch die einst verhasste erzkonservative Kirche zu erlangen und diese als Wahlkampfhelferin einzuspannen. Dies war wohl der Moment, in dem der Bruch mit den sozialen Bewegungen am stärksten deutlich wurde. Als die Entscheidung zum Verbot des therapeutischen Schwangerschaftsabbruchs fiel, riefen die unabhängigen Frauenorganisationen zum Protest und Widerstand auf und gingen gegen das Gesetz auf die Straße. Doch dann brach die Frauenbewegung an einer zentralen politischen Frage auseinander.
Der Zusammenschluss der Autonomen Frauenbewegung (MAM) hatte sich im Wahlkampf der Kommunalwahlen Ende 2008 auf eine strategische Allianz mit der oppositionellen sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) eingelassen, da diese als einzige Partei die geforderten Frauenrechte zusammen mit dem Recht auf Abtreibung zusicherte. Teile des MAM gingen diesen Weg jedoch nicht mit und gründeten das Movimiento Feminista, das sich zusammen mit dem Netzwerk gegen die Gewalt gegen Frauen auf parteiunabhängige Basis- und politische Kampagnenarbeit beschränkte (siehe Artikel zur Frauenbewegung in Nicaragua in dieser Ausgabe). Die Frauen des Movimiento Feminista erklären uns, es sei falsch sich als Frauenbewegung dem Mächtespiel der politischen Parteien unterzuordnen. In ihren zentralen Fragen vertreten sie zwar die gleiche Position: Um jeden Preis muss das menschenverachtende Abtreibungsgesetz zurückgenommen werden. Aber die Spaltung der Frauenbewegung hat sie geschwächt. Der Schulterschluss des MAM mit der Opposition hatte Konsequenzen, die FSLN reagierte mit Repression gegen die Frauen, es kam zu Hausdurchsuchungen und zu einer Hetzkampagne in den Medien.
Es sind insbesondere aufgeklärte bürgerliche Kräfte, die die aktuelle Situation im Land mit Sorgen erfüllt. Sie sehen einen zunehmenden Abbau demokratischer Rechte und ein zunehmend autoritäres Regime. Unter der Landbevölkerung hingegen gelingt es der FSLN die eigene Basis und Unterstützung auszubauen. Dort findet man deutlich mehr FürsprecherInnen der Regierung. Das mag daran liegen, dass Demokratie und Bürgerrechte ein sehr theoretisches Konzept darstellen, wenn man noch nie das Gefühl hatte, dass eine Regierung sich für die eigenen Interessen stark machte. Zwei Jahrzehnte lang ging es in der Peripherie bergab, der Überlebensbedarf war Jahr für Jahr schwerer zu organisieren. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit gibt es wieder eine an die Landbevölkerung gerichtete Politik einer nicaraguanischen Regierung. Und die Menschen auf dem Land danken es ihr. Hier ist die Zustimmung zur Regierung deutlich höher, und die Bedenken hinsichtlich der undemokratischen Anwandlungen Ortegas sind gering.
Und so überrascht es nicht, dass uns VertreterInnen verschiedener sozialen Organisationen auf dem Land berichten, dass es trotz aller Widersprüche zu einem Wandel in der Politik gekommen sei: Die FSLN hat nach ihrer Regierungsübernahme die kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung zurückgebracht. Gleichzeitig begann sie mit Geldern aus dem venezolanischen ALBA-Programm Straßenbauprojekte und eine Verbesserung der Energieversorgung umzusetzen. Hinzu kommt die Realisierung eines „Null-Hunger-Programms“, das aus einer trächtigen Kuh oder einem Schwein, zehn Hühnern, einem Hahn und etwas Baumaterial besteht. Das Programm sei zwar eine gute Idee, wird uns versichert. Jedoch scheitere die Umsetzung kläglich: Mit dem Programm werde Klientelwirtschaft betrieben und allgemein greife es zu kurz, weil keine ausreichenden Bildungs- und Begleitprogramme existieren und die Nachhaltigkeit in Frage stehe.
Regierungskritische NRO erklären uns, dass die FSLN mit ihren finanziellen Ressourcen reine Klientelpolitik betreiben würde. So drohe das „Null-Hunger-Programm“ die Bemühungen, der auf Selbstorganisation, Autonomie und Selbstbestimmung gerichteten unabhängigen Selbstversorgerprojekte zunichte zu machen (siehe Interview mit vier JournalistInnen in dieser Ausgabe). Zudem werde die Verteilung der Zuwendungen von neu eingeführten Bürgerräten beschlossen, die kritische Stimmen in ihren Reihen nicht zuließen und sich ganz auf Parteilinie befänden. Diese Bürgerräte (Consejos de Participación Ciudadana – CPC) dienen als Entscheidungs- und Verteilungsgremien auf Bezirksebene, werden von den Parteistrukturen der FSLN kontrolliert und mit finanziellen Mitteln versorgt. Sie ersetzen zum Teil parallel existierende Strukturen wie offene kommunale partizipative Haushalte, die gut funktionierten, aber parteiunabhängig waren. Präsident Ortega hat erklärt, die zweite Etappe der Revolution sei nun im Gange. Doch sie hat nichts mehr gemein mit der Zeit zwischen 1979 und 1989. Damals war die FSLN Teil einer vielfältigen Basisbewegung. Heute ist sie ein vertikal strukturierter Machtapparat, an dessen Spitze neben Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo eine kleine Gruppe mächtiger und überwiegend männlicher Genossen steht. Statt die Basisbewegungen in ein partizipatives Projekt einzubinden, versucht man die kritische Zivilgesellschaft unter Kontrolle zu kriegen. Immer wieder berichten uns unsere Gesprächspartner, dass die FSLN versucht ihre Mitgliederbasis offensiv und aggressiv auszubauen: Auf eine Million Mitglieder soll die Partei angeblich angewachsen sein. Durch ihre Verteilungsprogramme und die neuen Bürgerräte baut sich die Regierung eine breite Basis auf, die bereit ist, sich den Parteistrukturen unterzuordnen. Gleichzeitig verdrängt sie die unabhängigen und kritischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus den Macht- und Entscheidungszentren, indem sie repressiv Druck ausübt, versucht die Basis abzugraben oder die geltenden Spielregeln des demokratischen Miteinanders zu verändern. Ein Gesetzesvorhaben, das den internationalen NRO Einschränkungen in ihren Handlungsspielräumen verpassen soll, ist auf den Weg gebracht.
Die unaufgeregte Stimmung der ersten Tage verfliegt im Verlauf unserer Reise zunehmend. Ich teile die Positionen, mit denen wir konfrontiert werden nicht immer. Trotz aller berechtigten Regierungskritik ärgert es mich, wenn RegierungsgegnerInnen von einer neuen Diktatur sprechen. Für mich ist der Begriff der Diktatur in Mittelamerika untrennbar verbunden mit illegalen Massenverhaftungen, Bombenanschlägen, Entführungen und Folterkellern. Die FSLN ist trotz allem weit entfernt von der Brutalität einer solchen Diktatur. Die Ortega-GegnerInnen haben für ihre Ablehnung der Regierung und ihres autoritären Politikstils gute Gründe und bessere Argumente als die „Diktaturkeule“. Umgekehrt ist die Ausgrenzungsstrategie der FSLN nach dem Motto „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ keine Basis für eine politische Auseinandersetzung. Die Debatte driftet ab und endet in einer Beliebigkeit der Begrifflichkeiten, die niemandem weiterhilft. Die soziale Bewegung ist gespalten. Und die Frage bleibt offen im Raum stehen, ob eine gesellschaftliche Alternative zum neoliberalen Kapitalismus ohne die FSLN durchsetzbar sein wird.
Am Ende meiner Reise steht eine letzte Fahrt quer durch die Stadt. Ich werde von einem Sammeltaxi aufgelesen, das mich zum Flughafen bringt. Den Fahrer schätze ich auf Mitte 50, neben ihm sitzt eine junge Frau, die mit zwei Säcken Reis stadtauswärts möchte. Wir kommen schnell ins Gespräch. Ich berichte von meinen Eindrücken und frage meine Mitreisenden nach ihrer Position. Der Fahrer erzählt, dass er nicht in der FSLN ist und um nichts in der Welt mit ihr zu tun haben will. Dann ergänzt er, dass die Mächtigen die Menschen betrügen, ganz egal welcher Partei sie angehören. Doch die junge Frau widerspricht. Ja, auch diese Regierung mache Fehler, doch es sei nicht alles schlecht. Zum ersten Mal stünden die Armen im Mittelpunkt und es müsse doch darum gehen, ein besseres Leben für die Menschen zu schaffen. Doch das schaffe keine Regierung alleine, dafür müssten wir alle gemeinsam kämpfen. Schweigend fahren wir das letzte Stück des Weges. Über die Worte der beiden denke ich noch eine Weile nach. Auf unserer Reise haben wir mit vielen engagierten Menschen gesprochen und beeindruckende Projekte besucht. Auch wenn vieles im Argen liegt: Unsere Solidarität muss weiterhin den Menschen an der Basis gelten, im Ringen um soziale, politische und wirtschaftliche Emanzipation.

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