Argentinien | Nummer 306 - Dezember 1999

Somos más – Wir sind mehr

Fernando De la Rúa ist neuer Präsident, und Graciela Fernández Meijide verliert in der Provinz

In Argentinien herrscht Wahlpflicht. Die Politikverdrossenheit kann noch so groß sein, das Volk muß wählen gehen. Nach zehn Jahren Regentschaft von Carlos Menem votierte es diesmal für den „moralischen Wandel“. Der neu gewählte Präsident Fernando De la Rúa hat vor allem eines versprochen: Ehrlichkeit in der Politik. In Argentinien bedeutet das, einen Augiasstall auszumisten. In den Zeitungen stand zu lesen: Entweder er wird einen großen Platz in der Geschichte des Landes einnehmen, oder er ist einfach ein Präsident.

Jürgen Vogt

Der Wahlkampf ist zu Ende, und die Stimmen sind ausgezählt. Mit 62 Prozent gewann der peronistische Kandidat Eduardo Duhalde vor dem ehemaligen Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, während der Kandidat der Alianza, Fernado De la Rúa, mit 15 Prozent abgeschlagenen auf dem dritten Platz landete. So entschieden es die 156 Wahlpflichtigen im argentinischen Teil der Antarktis. Und wahrscheinlich hätte sich Eduardo Duhalde am Abend des 24. Oktobers am liebsten dort verkrochen. Mit landesweit 38,1 Prozent erlebte er sein Waterloo und sackte als erster Präsidentschaftskandidat der peronistischen Partido Justicialista (PJ) unter die Marke von 40 Prozent.
Zufriedener Sieger und neuer Präsident wurde mit 48,5 Prozent der Stimmen der 62jährige Fernando De la Rúa von der oppositionellen Alianza, einem Bündnis aus der radikalen Bürgerunion UCR und der Frente para un País Solidario (FREPASO) (vgl. LN 295). Er siegte bereits im ersten Wahlgang, da er die dazu nötigen 45 Prozent übertreffen konnte. Auf dem dritten Platz landete der ehemalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo mit seiner Acción Por la República mit 10,1 Prozent. An vierter Stelle rangieren mit rund drei Prozent die votos blancos, die leeren Stimmzettel, die von jenen abgegeben wurden, die keinen der Kandidaten wählen wollten, aber der in Argentinien herrschenden Wahlpflicht nachkommen mußten. Allerdings werden sie letztlich nicht in das Wahlergebnis einbezogen, das nur aus den für Kandidaten abgegebenen Stimmen errechnet wird. Alle weiteren zur Wahl stehenden Gruppierungen landeten unter einem Prozent.

Fiesta Peronista

Noch in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober zog die peronistische Partido Justicialista alle Register ihrer Gefühlsorgel und feierte auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires den día de la lealtad, jenen für die PJ historischen 17. Oktober 1945, als mit einer Massendemonstration die Anhänger des unter Arrest stehenden Juan Domingo Perón dessen Freilassung und Rückkehr an die Macht forderten und schließlich durchsetzten.
1999 lag dieser Termin sieben Tage vor den Präsidentschaftswahlen. Straff durchorganisiert marschierten die in Bussen aus der Provinz Buenos Aires in die Hauptstadt herbeigeschafften Parteianhänger, trommelnd und riesige Transparente tragend, sternförmig auf die Plaza, bei der an allen Zugängen zusätzlich reichlich Winkelemente verteilt wurden. Auf einer riesigen Bühne vor der stoffenen Attrappe der Casa Rosada – die eigentliche Fassade des Präsidentenpalastes wird gerade renoviert – und vor sechs großen Videoleinwänden feierte sich die peronistische Familie und präsentierte ihren Spitzenkandidaten Eduardo Duhalde als Erben des großen Perón. Die geschickte Inszenierung des Spektakels ließ neben aktuellen Wahlkampfaufnahmen immer wieder die alten Bilder eines jubelnden Perón und seiner Evita über die Leinwände ziehen, die bei den Anwesenden die Gefühle rührten, die Blicke verklärten und Tränen hervorriefen. Der Gesang der Marcha Peronista, der Parteihymne, nahm kein Ende. Gegen Mitternacht war die Plaza mit Menschen, Fahnen und Transparenten gefüllt. Dann der Höhepunkt mit dem Auftritt von Eduardo Duhalde kurz nach Mitternacht.
Zwar waren fast alle peronistischen Provinzgouverneure und Kandidaten der in sechs Provinzen ebenfalls anstehenden Gouverneurswahlen versammelt, aber viele hohe Parteifunktionäre, die gesamte Regierungsriege und Präsident Carlos Menem glänzten durch Abwesenheit. Das Ziel an diesem Abend war, das Bild einer peronistischen Einheit ohne Menemismo zu vermitteln. Nachdem sich die Umfrageergebnisse für Duhalde in den Wochen zuvor fortwährend verschlechterten, änderte er seine Rhetorik. Er versicherte nun, er sei der bessere Wechsel, el mejor cambio, nach Menem, während Fernando De la Rúa nur die Fortsetzung eines etwas geordneteren Menemismo anböte.

Duhalde ohne Unterstützung

Duhalde hatte sich bereits zuvor mehrfach über die mangelnde Unterstützung durch die Partei und den Präsidenten beklagt. Noch bei den Wahlen 1989 war Duhalde Menems Vizepräsident, schied dann aus der Regierung aus, kandidierte für das Amt des Gouverneurs der Provinz Buenos Aires und zog als amtierender Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz des Landes in den Präsidentschaftswahlkampf. Zwar blieb Menem formal der Vorsitzende der PJ, die Ausführung des Amtes hatte er aber bis zum Wahlabend dem Spitzenkandidaten Duhalde überlassen: Der sollte seine Wahlkampfkarawane gefälligst selbst gegen die Wand fahren.
Das Fernbleiben Menems bestätigte erneut die tiefe Zerstrittenheit innerhalb der PJ, die in diesem Jahr zwar schon in zehn Provinzen die Gouverneurswahlen gewinnen konnte, aber dennoch kein Bild der Geschlossenheit boten. (vgl. LN 303/304). Menem kümmerte sich in erster Linie um seine Rückkehr ins Präsidentenamt im Jahr 2003. Seine Anhänger ließen schon vor der Wahl Plakate mit der Aufschrift ”Menem2003” kleben. Noch etwas versteckt tauchte die Parole am 10. Oktober im Stadion von Boca Juniors auf und wurde via Livesendung eines Fußballspiels ins ganze Land getragen. Eine Woche vor den Wahlen zierte diese Parole gleich dreimal die Werbebande im River-Stadion Monumental beim Fußball-Superclásico River Plate gegen Boca Juniors, den Menems Lieblingsclub nach neun Jahren im eigenen Stadion wieder gewinnen konnte und bei dem die ganze Nation vor dem Bildschirm saß. (Das 2:0 geht nebenbei gesagt in Ordnung, auch wenn es weh tut!)

Die Fiesta für die Wenigen ist vorbei

Menem selbst trat einen Tag nach dem día de la lealtad bei der Abschlußkundgebung der hauptstädtischen PJ auf. Zwar konnte er als Zugpferd die Halle nur zu gut zwei Drittel füllen, aber die Anwesenden feierten ihren Präsidenten mit Trommelgetöse, Fahnenschwenken und Marcha Peronista. Eloquent zog er eine positive Bilanz seiner Amtszeit, lobte auch den Kandidaten Duhalde und schloß im tobenden Applaus mit der Aussage: „Die Kandidaten der Alianza sind die korruptesten in der Geschichte des Landes.“
Fernando de la Rúa focht das nicht an. Der Präsidentschaftskandidat der Alianza setzte bereits früh mit einem Wahlspot Akzente und ging sein wirkliches Imageproblem offensiv an. Da steht der schnell wie ein netter Opa wirkende Politiker und spricht: „Sie sagen, ich bin langweilig.“ Schnitt. Bilder von Menem im Ferrari. „Nur weil ich keinen Ferrari fahre?“ Der Spot zeigte Wirkung und war in aller Munde. Seinen Wahlkampfmanagern gelang es, die blasse Erscheinung ihres Kandidaten in Seriosität zu verwandeln.
Zwar wurde auch bei den Veranstaltungen der Alianza mächtig getrommelt und gesungen, wurden Fahnen geschwungen und Transparente gezeigt. Aber wo immer De la Rúa erschien, ging es etwas ruhiger zu. Als er am Abend des 19. Oktober auf der nationalen Abschlußveranstaltung der Alianza in Rosario auftrat, herrschte nach fünfzehn Minuten eine für argentinische Wahlveranstaltungen ungewöhnliche Stille auf dem Platz vor dem riesigen Monumento de la Bandera. Entweder waren die Anwesenden eingelullt, oder sie lauschten den Worten des kommenden Präsidenten. Der entzückte am Ende seiner Rede aber selbst einige Kritiker, als er zu einem zuvor nicht gekannten Crescendo ansetzte, endlich gestikulierte und ausrief, daß die menemistische Fiesta für die Wenigen jetzt zu Ende ist, und die Begründung mit dem Wahlslogan „Somos más“ – wir sind mehr – wieder und wieder unter donnerndem Beifall in die Menge schleuderte.
Die Wahlanalysen nach dem Urnengang bestätigen das Erscheinungsbild der Kandidaten. Danach gefragt, warum sie De la Rúa ihre Stimmen gaben, antworteten rund 60 Prozent ”wegen seiner Ehrlichkeit” und nur 13 Prozent ”wegen seines Charisma”. Duhalde erlebte auch auf diesem Feld ein Desaster: Rund 53 Prozent seiner Stimmen bekam er allein wegen seiner peronistischen Parteizugehörigkeit. Interessantes zeigt auch eine von der konservativen Tageszeitung La Nación kurz vor den Wahlen veröffentlichte Untersuchung. Danach wollten knapp über 50 Prozent der ErstwählerInnen im Alter von 18 bis 24 Jahren ihre Stimme den Alianza-Kandidaten De la Rúa und Alvarez geben. Das Duo Duhalde-Ortega brachte es in dieser Altersgruppe nur auf gut 28 Prozent.

Der bessere Vize

Für die Emotionen im Wahlkampf der Alianza war denn auch mehr der Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Carlos „Chacho“ Alvarez, zuständig. Ihm merkt man die peronistische Schule an, nicht zuletzt ist seine FREPASO eine Neugruppierung mit zahlreichen ehemaligen Peronisten. De la Rúa und Alvarez bildeten ein überzeugendes Tandem. Auf der einen Seite der seriöse Politiker, der sich als Bürgermeister von Buenos Aires nicht blamiert hat und als UCR-Mitglied die traditionellen Wählerschichten der Mitte anspricht. Auf der anderen Seite der dynamische, kämpferische Alvarez, der 1990 aus Protest gegen die Politik von Carlos Menem die Peronisten verließ.
Eduardo Duhalde hatte auch hier auf das falsche Pferd gesetzt. Zwar ist Ramón „Pallito“ Ortega, die argentinische Variante eines Peter Alexander, durchaus beliebt und machte als Gouverneur von Tucumán seine politischen Erfahrungen. Aber der Sänger wirkte bei seinen politischen Reden ungewöhnlich verkrampft, las wie De la Rúa meist vom Papier ab, konnte aber keine Seriosität vermitteln. Noch eine Woche vor den Wahlen versprach er die Einführung einer Entlohnung für Hausfrauen: angesichts der leeren Staatskasse ein Hohn.

Glaubwürdigkeit und Korruption

In den inhaltlichen Aussagen ähnelten sich die beiden Spitzenkandidaten. Beide wollen die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds fortsetzen. Die Währungsstabilität und damit die Koppelung des Peso an den US-Dollar im Verhältnis 1 zu 1 wurde garantiert und die Schaffung neuer Arbeitsplätze als vorrangig bezeichnet. Dennoch konnte auch hier die Alianza Punkte sammeln. Das Land steckt seit zwei Jahren in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 15 Prozent, die Kriminalität hat extrem zugenommen, und die Auslandsverschuldung hat sich nach zehn Jahren Menem auf 115 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Große Teile der Mittelschicht befinden sich seit Jahren in einer finanziellen Stagnation oder sind abgestiegen, und die Ärmsten des Landes bleiben weitgehend sich selbst überlassen.
Zwar gilt Menem noch immer bei vielen als der Präsident, der die Hyperinflation und das ökonomische Chaos der achtziger Jahre unter seinem Vorgänger Raúl Alfonsín beseitigte. Aber mit diesem Horrorszenario konnten die Peronisten nur bedingt Wahlkampf betreiben. Alfonsín, nach wie vor UCR-Parteivorsitzender, hatte einige Monate vor den Wahlen einen Autounfall. Lange Zeit lag er schwerverletzt im Krankenhaus, die Nation nahm regen Anteil an seiner Genesung, und seine Rolle beim Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie kam vielen wieder ins Gedächtnis. In diese Kerbe konnten die Peronisten nicht hauen. Damit konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf die letzten Jahre der Menem-Präsidentschaft, und hier funktionierte wieder die Glaubwürdigkeit des Kandidaten De la Rúa, der die Korruption und die weit geöffnete Schere von Arm und Reich in Menem-Land anprangerte.
Je deutlicher die Alianza in den Umfrageergebnissen ihre Führung ausbaute, umso mehr wurde ihr Wahlslogan zum Selbstläufer. Somos más – wir sind mehr. Am Ende ließ die Kampagnenleitung nur den Spruch plakatieren, ohne Hinweis auf Kandidat und Partei. Die Assoziation funktionierte wie bei Marlboro, wo allein eine in braun getönte Wildwestlandschaft die Gedanken zu dem einen Glimmstengel führt.

Wahlen in sechs Provinzen

Daß Umfrageergebnisse aber nicht gleich Wahlergebnisse sind, mußte Graciela Fernández Meijide schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Die Kandidatin der Alianza für die Gouverneurswahlen in der Provinz Buenos Aires führte lange mit 3 bis 5 Prozent vor ihrem Kontrahenten, dem Noch-Vizepräsidenten Carlos Ruckauf von den Peronisten. Viele hofften, sie würde das eingefrorene Grinsen des Gegenkandidaten zum Schmelzen bringen. Am Ende lachte aber wie immer Carlos Ruckauf. Mit gut 48 Prozent gewann er vor Fernández Meijide, die letztlich auf knapp 42 Prozent kam.
In insgesamt sechs Provinzen stand das Amt des Gouverneurs zur Wahl. Drei gewannen die Kandidaten der Alianza, drei die Kandidaten der Peronisten. Damit stellen die Peronisten jetzt in 14 der 23 Provinzen des Landes den Gouverneur. Bei den ebenfalls durchgeführten Wahlen zum Abgeordnetenhaus hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Alianza verschoben. Gut die Hälfte der Abgeordneten standen zur Wahl. Die Peronisten verloren 20 Mandate und kommen jetzt auf 99. Die Alianza gewann 18 Mandate hinzu und stellt nun mit 124 Abgeordneten die größte Fraktion, besitzt aber nicht die Mehrheit. Die muß sie sich in Bündnissen mit Abgeordneten aus Provinzparteien oder Domingo Cavallos Acción Por la República suchen, die zwölf Delegierte stellt.

Moralischer Wandel

Fernándo De la Rúa versprach nach seiner Wahl einen moralischen Wandel: Die Zeit der Konfrontation sei jetzt vorbei, er werde den Dialog an ihre Stelle setzen. Mit diesem Angebot macht der neue Präsident aus der Not eine Tugend: Seine Machtposition wird wesentlich schwächer sein als die seines Vorgängers. Die Mehrzahl der Provinzen hat peronistische Gouverneure, darunter die bevölkerungsreichsten wie die Provinz Buenos Aires, Santa Fé und Córdoba. Im Abgeordnetenhaus hat er keine Mehrheit, ebensowenig im Senat. Im Obersten Gerichtshof hat Menem seine Leute postiert, und Menem hat die Gewerkschaften auf seiner Seite. Denen hat er zwar die Zähne gezogen, aber das läßt sich ändern. De la Rúa wird am 10. Dezember sein Amt als Staatspräsident antreten. Dann wird er Kassensturz machen und wahrscheinlich feststellen, daß es außer Schulden nicht viel zu zählen gibt. Sein finanzieller Spielraum ist mehr als bescheiden.
Und Menem selbst? Der öffnete am Wahlabend in seiner Präsidentenvilla in Olivos kurz nach der Sechs-Uhr-Prognose die erste Flasche Schampus. Es gebe etwas zu feiern, ließ er die Journalisten wissen. Um 24.00 sei er wieder der amtierende Vorsitzende der Partido Justicialista. Wenn er es ernst meint mit ”Menem 2003”, kann ihm spätestens in zwei, drei Jahren ein gut regierender Präsident De la Rúa nicht in den Plan passen. Und auch aus den eigenen Reihen erwachsen ihm neue Kontrahenten. Duhalde ist nach diesem Desaster innerparteilich erledigt, aber in Córdoba regiert José De la Sota, in Santa Fé Carlos Reutemann und in der Provinz Buenos Aires bald Carlos Ruckauf. Es scheint, als habe der Wahlkampf gerade begonnen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren