STICHWORTGEBER UND VERMITTLER
Zum Tod des Soziologen Aníbal Quijano (1928-2018)
Aníbal Quijano 2015 auf einem Kongress in Quito // Quelle: Cancillería del Ecuador (CC BY-SA 2.0)
Als „Erkenntnisperspektive“ bezeichnete der peruanische Soziologe Aníbal Quijano den Eurozentrismus. Er sei nicht nur eine bestimmte Weltsicht, sondern beziehe sich auf das Denken schlechthin. Der Wissenschaftler starb 90-jährig am 31. März 2018 in Lima.
Das eurozentristische Denken wurde im Kontext des Kolonialismus geprägt, aber es wirkt bis heute fort. Mit diesem Fortwirken hat sich Quijano zeit seines Lebens beschäftigt und dafür einen der einflussreichsten Begriffe der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskurse geprägt: den der „Kolonialität der Macht“.
Quijano ist aber nicht nur der wichtigste Stichwortgeber für Debatten, die unter der Sammelbezeichnung „dekolonialistische Theorie“ seit vielen Jahren eine ebenso akademische wie aktivistische Hochkonjunktur erleben – und in denen die Kolonialität der Macht in vielen Aspekten untersucht und angegriffen wird. Er ist auch eine Art Vermittler zwischen den dependenztheoretischen Ansätzen der 1960er und 70er Jahre, die die ökonomische Abhängigkeit fokussierten, und der dekolonialistischen Sozial- und Kulturtheorie mit ihrem Blick auf kulturelle Abhängigkeitsverhältnisse. Bevor die Moderne und die Globalisierung zum zentralen Gegenstand seiner Arbeiten wurden, hat sich Quijano den ökonomischen Problemen der ländlichen Entwicklung in Peru, der Urbanisierung und ganz allgemein den Klassenverhältnissen gewidmet.
Für ihn stand nicht weniger als die “Vergesellschaftung der Macht” auf der Agenda
Soziale Klassen sah er dabei nicht bloß als quasi automatische Effekte der Produktionsverhältnisse an. In seiner Theorie sind sie eingelassen in die sich wandelnden Machtverhältnisse, sie gehen ihnen nicht voraus. Die Klassen „sind keine Strukturen oder Kategorien, sondern historische Beziehungen“ und das Ergebnis von Klassifizierungen. Die Einteilung der Menschen – etwa in ethnische Gruppen – entsteht im Kampf um die Kontrolle der Arbeit.
Erst der koloniale Kapitalismus hat Indigene und Weiße geschaffen. Die gewaltsam etablierte Beziehung von Über- und Unterordnung schuf die Rechtfertigung dafür, dass sich Indigene in den Minen zu Tode arbeiteten. Diese kulturell etablierten, also in den Denk- und Lebensweisen eingeprägten Hierarchien, wirken bis in die Gegenwart: Indigensein ist bis heute nur selten gleichbedeutend mit Einfluss, Macht und Reichtum.
Quijano verbindet mit dem Begriff der Klassifizierung auf anspruchsvolle Weise kapitalismus- und rassismuskritische Positionen. Dass auch Geschlechterverhältnisse Effekte solcher Klassifizierungsarbeit sind, kam ihm dabei allerdings nicht in den Sinn – wie etwa die argentinische Philosophin María Lugones zu Recht kritisierte. Die feministische Einsicht, dass Geschlecht sozial konstruiert ist, sollte sich jedenfalls in Quijanos Ansatz integrieren lassen.
Um die Kolonialität zu überwinden, ist es laut Quijano mit einer bürgerlich-demokratischen Revolution ebenso wenig getan wie mit einer staatssozialistischen. Politisch stand für ihn nicht weniger als die „Vergesellschaftung der Macht“ auf der Agenda. Quijano war Ehrendoktor an Universitäten in Peru, Venezuela, Costa Rica und Mexiko sowie Gastprofessor an verschiedenen anderen Hochschulen. Auf Deutsch ist nur ein einziges seiner Bücher erhältlich: Kolonialität der Macht. Eurozentrismus und Lateinamerika erschien 2016.