Aktuell | Chile | Nummer 579 - September 2022 | Politik

STIMMEN VOM REFERENDUM

Menschen aus Chile teilen ihre Gedanken und persönlichen Erfahrungen zur Abstimmung über die neue Verfassung

Koordination: Kiva Drexel, Übersetzung: Elisabeth Erdtmann & Lucía Verde

Foto: Diego Reyes Vilma

Für die Volksabstimmung, die am 4. September in unserem Land stattfinden wird, ist meine Option die Annahme der neuen Verfassung wegen der historischen und sozio-politischen Entwicklung Chiles, die von Ungleichheit und Gewalt in allen Bereichen der Gesellschaft geprägt ist. Ich sehe dies als politischen Meilenstein. Als die Möglichkeit struktureller Veränderungen und ein endgültiges Ende des Erbes der Diktatur, um Platz zu schaffen für eine neue, pluralistischere Gesellschaft, die sich auf Rechte und Chancen konzentriert. Mit anderen Worten, ich glaube, dass wir mit diesem Verfassungsprojekt die Rechnung mit unserer Vergangenheit begleichen. Gleichzeitig ist es ein Text, der unsere Gegenwart repräsentiert, der den Menschen in all seinen Dimensionen anspricht – sexuell, affektiv, politisch, spirituell, wirtschaftlich, gemeinschaftlich, ökologisch – und den Weg für eine vielversprechendere Zukunft für alle öffnet. Als Frau, als Lehrerin und als Bürgerin eines Chiles des 21. Jahrhunderts befürworte ich die neue Verfassung.
// Paz (31), Lehrerin für Sprache und Literatur an einer ländlichen Schule, Region Los Ríos

Nachdem ich Gelegenheit hatte, den Verfassungsentwurf in aller Ruhe zu analysieren – zumindest die Artikel, die mich unmittelbar betreffen wie die Beziehungen zu den indigenen Völkern, Bildung, Justiz, soziale Absicherung und Gesundheit – habe ich den Eindruck, dass einige dieser Artikel, wenn nicht zweideutig, so doch zumindest sehr allgemein gehalten sind. Was je nach Couleur der amtierenden Regierung zu unterschiedlichen Auslegungen führen würde.
Obwohl die Mitglieder der Gruppe, die mit der Ausarbeitung des Vorschlags beauftragt war, eine Vielzahl von Standpunkten vertraten, überwogen in den meisten Artikeln die Vorstellungen der linksextremen Parteien. Der Staat ist meist derjenige, der alles bündelt, entscheidet und verteilt. Mit anderen Worten: Wir wären von der regierenden Partei abhängig. Das bedeutet nicht, dass der gesamte Entwurf negativ ist. Ich glaube, dass es Artikel gibt, die direkt darauf abzielen, diejenigen zu unterstützen, die gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich benachteiligt sind. Dies sollte sicherlich anerkannt werden, aber es ist unethisch, Erwartungen zu wecken, deren Erfüllung von Faktoren abhängt, die sich der Kontrolle eines Landes, geschweige denn einer Regierung, entziehen. Insgesamt glaube ich, dass ich für den Vorschlag stimmen werde, wenn alle Parteien bereit sind, einige Änderungen vorzunehmen.
// Héctor (70), Rentner, Region Araucanía

Ich stimme für die neue Verfassung, weil zum ersten Mal in einer Verfassung das Wort Frau und sexuelle Dissidenz erwähnt wird, die Rechte der indigenen Gemeinschaften anerkannt werden und sie zum Teil des Landes gemacht werden. Sie begründet soziale Rechte wie Bildung, Gesundheit, angemessenes Wohnen, ein Leben in einer Umgebung frei von Umweltmissbrauch und die Achtung von Flora und Fauna. Die Verfassung wird unsere Probleme nicht lösen, aber sie ist eine Navigationskarte, die es uns ermöglicht, den Raum zu erweitern, in dem wir uns bewegen können, um ein besseres Leben für alle Chilen*innen zu gewährleisten.
// María (31), Rechtsanwältin, Antofagasta

Fahnen schwenken Anhänger*innen des Rechazo feiern das Wahlergebnis (Foto: Diego Reyes Vilma)

Ich stimme am 4. September zu, weil ich der Meinung bin, dass diese Verfassung die Menschenrechte, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Rechte, wirksam schützt. Als Aktivistin in diesem Bereich ist es für mich sehr wichtig, dass beispielsweise das Recht auf umfassende Sexualerziehung, die Anerkennung verschiedener Identitäten, Ausdrucksformen und sexueller Orientierungen sowie der Schutz und die Gewährleistung des Rechts aller auf Bildung, Wohnung und Gesundheit einbezogen werden. Das sind historische Kämpfe gewesen, die wir von verschiedenen sozialen Bewegungen aus geführt haben, insbesondere für das Recht auf Bildung durch die Studentenbewegung, bei der ich 2011 aktiv war. Deshalb ist es für mich sehr wichtig, dass die neue Verfassung angenommen wird und wir dadurch mit dem Erbe der Diktatur fertig werden.
// Mar (29), Psychologin, Coquimbo

Mein Hauptgrund, mit „Ja” zu stimmen ist, dass unsere erste Verfassung von fünf Personen verfasst wurde, denen es nur darum ging, die Interessen einiger Weniger, vor allem der wohlhabenderen Klasse, zu wahren. Die Verfassung, die im letzten Jahr geschrieben wurde, wurde von einer Versammlung formuliert, in der die Geschlechter paritätisch vertreten waren, die gleiche Anzahl von Männern und Frauen, und sie wurde von mehr als 150 Personen geschrieben, die auf nationaler Ebene gewählt wurden. Daher scheint es mir ein viel demokratischerer und repräsentativerer Mechanismus zu sein, als es beim ersten Mal der Fall war.
// Juan García (35), Englischlehrer, Region Valparaíso

Für mich ist der Hauptgrund, mit „Nein” zu stimmen, die Gesundheit und der Wohnraum. Ich bin nicht damit einverstanden, dass Menschen ihr Haus weggenommen wird, nachdem sie dafür gekämpft und einen Zuschuss abbezahlt haben, ihr Haus repariert haben und alles getan haben, damit es für ihre Kinder erhalten bleibt, und jetzt wird es ihnen weggenommen.
Und die Gesundheit, das Gesundheitssystem hier ist schrecklich. Auch die Bildung ist hier äußerst schlecht, aber das ist sie überall. Ich denke, dass sie nur in entwickelten Ländern gut ist. Aber Gesundheit und Wohnen sind die wichtigsten Punkte, um mit „Nein” zu stimmen.
// Sofía (55), Serviceassistentin im Krankenhaus, Großraum Santiago de Chile

Heute kein Fußball Das Estadio nacional in Santiago dient beim Referendum als Wahllokal (Foto: Diego Reyes Vilma)

Ich werde mit „Nein” stimmen, weil ich kein geteiltes Land will, sondern ein freies Land. Ich habe den Militärputsch im Jahr 73 miterlebt und weiß, wie es ist so etwas zu erleben. Ich weiß, dass die Kriminalität in Chile sehr hoch ist, und ich sehe, dass die Regierung sehr besorgt ist, aber nicht unparteiisch. Eine Regierung, ob rechts oder links, muss angesichts dessen, was wir als Land durchmachen, unparteiisch sein. Doch dieser Präsident macht Werbung für die Zustimmung und das ist nicht richtig. Er hält uns für dumm, er hält uns für unwissende Menschen. Und er liegt ziemlich falsch, denn wir informieren uns. Man hat uns gesagt, dass wir die Verfassung lesen müssen. Wir haben sie gesehen, aber die Verfassung muss als Rechtsform verstanden werden. Punkt − eine juristisch superwichtige Sache. Zum Beispiel Wohnen. Da heißt es, dass alle Wohnraum haben werden, ein anständiges Haus haben, aber kein eigenes Haus. Das wird kein Vergnügen sein, nie wirst du ein anständiges Haus haben, weil man eine Miete an den Staat zahlen muss. Und das bedeutet, dass die Menschen, die in diesem Haus leben, immer für die Regierung sein müssen. Für mich ist das daher diktatorisch.
// María (66), evangelische Pastorin, Santiago

Der Verfassungsentwurf wurde von einem Teil der Bürger unter Ausschluss der Befindlichkeit von Millionen von Chilenen ausgearbeitet, und von diesem Zeitpunkt an war der Prozess verfälscht. Viele Menschen vertrauten dem mit der Ausarbeitung der Verfassung betrauten Gremium, fühlten sich aber enttäuscht. Ich persönlich habe mich enttäuscht gefühlt, weil Entscheidungen getroffen wurden, ohne dass alle angehört wurden und weil eine ständige Atmosphäre des Streits und der Konflikte herrschte, die die Chilenen nicht vereinte, sondern tief spaltete.
Ich finde, dass die politische Verfassung innerhalb der normativen Hierarchie eine breitere und allgemeinere Norm sein sollte. Im Entwurf der neuen Verfassung wurde vielmehr versucht, bestimmte Situationen zu regeln, die in einem Gesetz behandelt werden können. So wurde beispielsweise versucht, geschlechtsspezifischen Dissens oder historisch ausgegrenzte Gruppen zu verankern, obwohl dies aus normativer Sicht bereits in der bestehenden Verfassung mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz gelöst ist.
Außerdem wurde der Senat abgeschafft, was mir undemokratisch erscheint, denn der Zweck eines Kongresses mit zwei Kammern (Abgeordnete und Senat) setzt voraus, dass eine gegenseitige Kontrolle ausgeübt wird. Mit dem neuen Verfassungsentwurf würde dies nicht mehr der Fall sein. Außerdem bin ich mit der angestrebten regionalen Autonomie nicht einverstanden, da es in Chile Regionen mit hohem Einkommen und Regionen mit niedrigem Einkommen gibt. Dies könnte zu Problemen bei der Regierungsführung und ungleichem Wachstum in den Regionen führen.
Bei den Grundrechten, insbesondere den sozialen Rechten wie Wohnen, Gesundheit und Bildung, ist nicht klar, wie sie finanziert werden sollen, und der Textentwurf beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Finanzierung schrittweise erfolgen soll. Dies ist angesichts der Sensibilität des Themas nicht ausreichend. Ich denke also, dass der Text einmal mehr eine gute Absicht ist, die in der Praxis nicht unbedingt erfüllt wird. Es gibt ein Problem bei der Erfüllung von Erwartungen.
In Bezug auf das Recht auf Gesundheit wird die Möglichkeit, zwischen einem privaten und einem öffentlichen System zu wählen, ausgeschlossen. Es wird nur öffentlich, wobei bekannt ist, dass der Staat keine vollständige Deckung in diesem Sinne bieten kann. Auch das Eigentum an den Pensionsfonds geht verloren.
Kurz gesagt, ich denke, die neue Verfassung war zu lang, mehr als 450 Artikel im Vergleich zu den 143 der aktuellen Verfassung. Viele Grundsatzerklärungen, aber wenig praktisch, ohne Garantie für ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell, das eine optimale Entwicklung des Landes ermöglichen würde − eines südamerikanischen Landes, das vergleichbare Beispiele wie Venezuela oder Argentinien beachten sollte.
// Nicolás (33), Rechtsanwalt, Santiago

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