Subversiver Hula-Hoop-Reifen
Das neugegründete Straßenkünstler_innen-Kollektiv Malabares Catrachos schafft Freiräume für die urbane Jugend in Honduras
Die Ampel springt auf Rot. Ein schriller Pfiff zerschneidet die Nacht, zerteilt das Hupen und den Großstadtlärm von Tegucigalpa. Erick Carcamo betritt die Kreuzung Boulevard Morazán. Seine Hände gehen in zwei eiserne Ketten über, an deren Ende jeweils eine brennende Kugel befestigt ist. Feuer-Pois, jahrhundertealte Jonglagegeräte. Der Geruch von Benzin liegt in der Luft. Hier auf dem Boulevard Morazán gibt es kein Spotlight. Nur das grelle Scheinwerferlicht der wartenden Autos.
Mit geschlossenen Augen bringt Erick die Pois in Schwung. Enge und weite Kreise zieht er um seinen sich rhythmisch bewegenden Körper. Wie brennende Kometen ziehen die Pois ihre Bahnen um Erick. „Das Feuer ist eine Leidenschaft, die du fühlst, wenn du inmitten der Flammen stehst, es knistern hörst, seine Farben siehst und seine Wärme spürst”, schwärmt Erick, während die Ampel wieder auf Grün springt und die Autos an ihnen vorbeiziehen. Heute Nacht stehen sie zu viert an der Kreuzung. Den Stromkasten am Straßenrand haben sie liebevoll la oficina – das Büro – getauft. „Jedesmal wenn du raus gehst, musst du die gleiche Energie aufbringen, als wäre es das erste Mal. Denn für das Publikum ist es schließlich immer das erste Mal. Das macht es so anstrengend”, erklärt mir Katherine Cruz. Schweiß perlt von ihrer Stirn und ihre Augen strahlen.
An der Kreuzung Boulevard Morazán, eingekeilt zwischen McDonalds und Ficosa, jonglieren die vier Straßenkünstler_innen mit ihren Wünschen, Ideen und Hoffnungen. „Wir wollen mit dem Paradigma brechen, in Honduras gäbe es nur eine Möglichkeit zu leben”, so Erick. Sie wollen aussteigen, aus einem System, das ihnen nichts bieten kann. Die urbane Jugend will sich nicht von hohen Arbeitslosenzahlen einschüchtern lassen. Ihre Zukunft sehen sie nicht in den Büros der Großunternehmen, sondern in selbstgeschaffenen Lebens- und Arbeitsräumen. „Es ist eine Arbeit ohne Regeln. Ohne feste Arbeitszeiten. Ohne Chef. Du hast keinen Druck von außen. Wenn du müde oder krank bist, arbeitest du nicht”, führt Erick fort.
Diese Freiheiten bringen auch Schwierigkeiten mit sich. Einige Menschen bezeichnen ihre Kunst als Zeitverschwendung, sie werden stigmatisiert und sind Repressionen der Polizei ausgesetzt. „Es sollte ein Gesetz verabschiedet werden, das das Jonglieren an Ampeln verbietet. Die Polizei behauptete, wir würden die Leute in ihren Autos bestehlen”, erinnert sich Katherine. Zusammen mit anderen Straßenkünstler_innen haben sie das „Plantón contra Babylon” veranstaltet. Mit dieser Gemeinschaftsaktion verteidigten sie erfolgreich ihren Platz an der Ampel.
Sich ihrer gemeinschaftlichen Stärke bewusst, haben sie im Februar 2013 die Malabares Catrachos ins Leben gerufen. „Wir beginnen uns als Kollektiv zu formieren. Wir wollen unsere Kunst etwas organisierter betreiben. Nicht wie ein Unternehmen, auch wenn wir damit etwas verdienen. Wir sehen es eher als einen Freiraum”, sagt Erick. Die Malabares Catrachos sind horizontal organisiert und alle der rund 30 beteiligten Individuen haben die gleichen Mitspracherechte. „Das Kollektiv hat sich von Jugendlichen für Jugendliche gebildet”, sagt Erick und lacht, „naja, für alle, Jugendliche und Nicht-mehr-so-Jugendliche”. Er selbst gehört mit 25 Jahren zur älteren Generation. Das Kollektiv soll den Erfahrungsaustausch anregen und eine Tür zur Gesellschaft öffnen.
Am folgenden Samstag begleite ich Erick zum wöchentlichen Treffen der Malabares Catrachos auf der Plaza Los Dolores. Wir gehen durch die Innenstadt, die von Einkaufszentren und Fastfoodketten dominiert ist. Graffitis zieren die Wände, die Parolen fordern Freiheit, klagen die Oligarchie und den korrupten Staat an. Ein Militärpolizist mit großkalibriger Waffe bewacht den Eingang einer Modeboutique. An der Mauer des Geschäfts steht in roter Sprühfarbe: Policía contra Juventud – Polizei gegen Jugend. Erick fühlt sich, als lebe er in einem Kriegsgebiet. „An jeder Ecke musst du dich ausweisen: Ich bin x und habe die und die Sachen dabei”.
Die Plaza Los Dolores sieht aus der Luft aus wie ein ausgestanztes Rechteck in einem Meer aus Beton. Sie zählt zu den wenigen Orten in Tegucigalpa, an denen Menschen sich aufhalten können, ohne etwas kaufen zu müssen. Obdachlose Kinder suchen Schutz vor der Mittagssonne im Schatten der Kirche am Kopfende des Platzes. Auch sie bricht mit der Norm: Die Heiligenstatuen an ihrer Fassade tragen indigene Gesichtszüge. Es herrscht reges Treiben auf dem fußballfeldgroßen Platz. Daniel wirft eine grüne Keule unter seinem linken Bein hindurch zu Edgar. Pulga jongliert drei Bälle, wirft alle gleichzeitig in die Luft, dreht sich um seine eigene Achse, klatscht zwei Mal in die Hände und fängt sie auf. Die verdiente Freude zeigt sich mit einem großen Grinsen auf seinem Gesicht. Estrellita und Antoni tanzen mit ihren Pois umher. Einer Gruppe von Anfänger_innen erklären sie die Grundbewegungen des Poi-Spiels. Eine graue Kugel rollt über Alex Brust auf seinen rechten Arm, rollt weiter und bleibt abrupt auf seinem Handrücken stehen. Kontaktjonglage. Das bedeutet, einen Gegenstand durch gezielte Muskelanspannung auf seinem Körper zu balancieren. Und das, ohne angespannt zu wirken.
Etwa 15 junge Artist_innen sind hier. Stilistisch bedienen sich die Jugendlichen bei den Subkulturen der letzten Jahrzehnte: Dreadlocks und Irokesen. Hier ein gebatiktes T-Shirt, dort ein durchgestrichenes Hakenkreuz. Katherine sitzt auf dem Boden und winkt mich zu sich. Sie erklärt einem Kreis aus Interessierten, wie sich jede_r mit einfachen Mitteln ein Poi bauen kann. Aus ihrem Rucksack holt sie eine fleckige Jeans und schneidet sie in Streifen. „Die meisten unserer Geräte sind Eigenproduktionen. In Honduras verkaufen sie keine professionellen Geräte und der Import wäre viel zu teuer. Also machen wir sie selbst”, sagt sie und stellt dabei das erste Poi fertig. Die Anleitung hat sie aus dem Internet. Die Jeans auf der Straße gefunden. Viel braucht es nicht, um mit dem Jonglieren zu beginnen.
Die Wege vieler Menschen führen an der Gruppe von Straßenkünstler_innen vorbei. Der anliegende Lebensmittelmarkt und die Innenstadt machen den Platz zu einem sozialen Knotenpunkt. Menschentrauben bilden sich, staunen und fiebern mit, wenn der Ball haarscharf über dem Boden gefangen wird. „Wir wollen uns der Gesellschaft präsentieren. Vor allem den Menschen auf der Straße”, sagt Katherine, „Es geht uns darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass das, was wir tun, wertvoll und nützlich ist”. Erick geht da gerne noch etwas weiter. Schwungvoll lässt er einen Hula-Hoop-Reifen um seine Hüfte kreisen. Auch Jonglage-Geräte sind der binären Trennung von maskulinen und femininen Zuschreibungen unterworfen. So wird der Hula-Hoop-Reifen schnell zur subversiven Waffe im Kampf gegen Geschlechtergrenzen. „Kunst wird durch ihren Inhalt sehr wertvoll”, grinst er nach Ende seiner Performance.
Die Passant_innen werden eingeladen mitzumachen. Geräte gibt es genug, ebenso Freiwillige, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Doch sie bleiben lieber in der passiven Rolle, schauen zu oder gehen weiter. „Die Leute haben Angst, verurteilt zu werden”. Erick ging es am Anfang ähnlich, doch heute ist er stolz auf sich. Nur die vielen Straßenkinder nähern sich der Gruppe auf die letzten Meter. Manche verringern nur langsam die Distanz. Drei Jungen beobachten Alex, der fünf Bälle gleichzeitig in der Luft hält. Als Alex dann doch ein Ball hinunterfällt, hebt einer der Jungen den Ball mit roten Wangen auf und will ihn Alex wiedergeben. „Jetzt du”, sagt Alex – und der Junge, perplex und stolz, beginnt den Ball von einer Hand in die andere zu werfen. Als er sieht, dass er positive Rückmeldungen bekommt, fängt er an aufzublühen. Die anderen beiden fragen Alex, ob sie auch einen Ball haben können. Alle drei konzentrieren sich, Alex‘ Bewegungen nachzuahmen. „Viele Kinder, die auf der Straße leben, schnüffeln Kleber oder Farbverdünner”, erzählt mir Katherine. „Doch wenn sie hier sind und mit uns üben, lassen sie das hinter sich. Für ein paar Stunden vergessen sie all das”. Die Kinder wirken gelöst, sie lachen und toben mit den Geräten. Hier haben sie einen Platz, um Kind zu sein. Viele der Kinder kommen regelmäßig. „Wir wollen in der Gesellschaft etwas bewirken, nicht wie eine Institution, sondern als Teil von ihr”, erläutert Erick.
Die Treffen der Jongleur_innen der Malabares Catrachos an der oficina werden größer. Mehr und mehr junge Menschen kommen zum Platz. Freiräume wie diese sind selten und hier treffen sich Jugendliche mit unterschiedlichen Hintergründen, die sich sonst nicht begegnet wären. Sie alle verbindet das Schicksal der Stigmatisierung: „Jung zu sein bedeutet schuldig zu sein”, sagt Erick mit zynischen Unterton. „Die Politik spricht von der Jugend so, als würde sie auf direkte Art die Zivilbevölkerung angreifen”. Dabei ist die kriminalisierte Jugend selbst bedroht: Laut einer Studie des Universitätsinstitut für Demokratie, Frieden und Sicherheit (IUDPAS) waren im Jahr 2012 gut 80 Prozent aller Mordopfer Jugendliche.
Die Polizei bietet ihnen wenig Schutz, im Gegenteil: Übergriffe durch korrupte Polizist_innen sind keine Seltenheit. „Es war Nacht, als mich die Polizei anhielt“, erinnert sich Daniel. „Sie durchsuchten mich und fanden das Geld, das ich beim Jonglieren verdient hatte. 150 Lempiras“, erzählt Daniel, das sind sechs Euro. „Sie verhafteten mich und als ich den Grund erfahren wollte, zwangen sie mich gewaltsam ins Auto.“ Einer der drei Polizisten schlug ihn mit seinem Knüppel, bis er bewegungsunfähig war. „Sie fuhren mich zum Knast und stellten mich vor die Wahl: Entweder gäbe ich ihnen mein Geld – oder ich ginge ins Gefängnis.” Erfahrungen wie diese begründen den Vertrauensverlust der Jugend in den Staat und seine Institutionen. Sie fühlen sich wie Aussätzige der Gesellschaft. „Sie behandeln uns, wie sie jedes soziale Problem behandeln. Sie trampeln solange darauf rum, bis es verschwindet.”
Langsam bricht die Nacht an. Eine frische Brise fegt über die Plaza Los Dolores. Stolz zeigt die buntgemischte Gruppe, was sie heute gelernt hat. Erick ist sich sicher, auch wenn dieser Tag zu Ende geht: „Wir verschwinden nicht.”