Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. “Tierra”: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die “Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes”, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-