Brasilien | Nummer 480 - Juni 2014

Unfertige Vermächtnisse

Die Hälfte der Bauprojekte in den WM-Austragungsstädten ist nicht fertig

Aktuell vergeht fast kein Tag, ohne dass Präsidentin Dilma Rousseff ein Großprojekt einweiht. Angesichts der andauernden sozialen Proteste und der Kritik an den hohen Kosten der WM, betont die brasilianische Regierung, dass der Hauptteil der Milliardenausgaben in neue Infrastruktur geflossen sei. Doch mindestens die Hälfte der im Zusammenhang mit der WM geplanten Bauprojekte ist nicht abgeschlossen und wird frühestens Ende 2014 in Betrieb genommen – wenn überhaupt.

Claudia Fix

„Die zentrale Avenida ist gesperrt, um neu asphaltiert zu werden. Deshalb wird der gesamte Verkehr in eine Richtung umgeleitet. Nur dass dort ebenfalls eine Baustelle ist und es keine andere Route gibt. Aber das Schlimmste ist, dass dies der erste Eindruck ist, den die Leute von der Stadt haben“, berichtet der Taxifahrer Dorival dem Onlinemagazin Midianews sechs Tage vor dem Spiel Chile gegen Australien in Cuiabá. Es ist das erste von vier Spielen, die in der westlichsten WM-Stadt ausgetragen werden. Dort, wo es keinen Fußballverein in der ersten Liga gibt, aber jetzt ein Stadion für mehr als 42.000 Menschen.
Die Verbesserung der Infrastruktur in den Austragungsstädten sei das „Vermächtnis“ der Fußballweltmeisterschaft – dies war und ist das große Versprechen der brasilianischen Regierung an die empörte Bevölkerung, die die Milliardenausgaben für die Stadien kritisiert. Seit den ersten Berechnungen nach dem Zuschlag der FIFA haben sich die Kosten für den Stadionbau mehr als verdreifacht: von umgerechnet 800 Millionen Euro auf heute rund 2,7 Milliarden Euro. Hatte Präsident Lula da Silva noch angekündigt, dass der größte Teil der Investitionen privat erfolge, wurden tatsächlich nur 1,6 Prozent der Kosten des Stadionbaus von privaten Investoren getragen. Die Gesamtinvestitionen für die WM, inklusive der Investitionen für städtische Mobilität, Telekommunikation und Sicherheitsmaßnahmen, werden auf mindestens 8 Milliarden Euro geschätzt.
„Ich glaube, dass die abreisenden Touristen in ihren Koffern weder das Stadion noch die städtischen Baumaßnahmen mitnehmen werden, oder die Bauten der Hotels“, sagte Präsidentin Dilma Rousseff am 9. Juni anlässlich der Einweihung des Schnellbussystems in der Millionenstadt Belo Horizonte. Doch das Schnellbussystem BRT ist ein gutes Beispiel für die Substanz dieses Erbes: Viele der Haltebuchten in Belo Horizonte sind noch gar nicht fertig und können deshalb nicht benutzt werden. Alle, die nicht nur vom Flughafen zum Stadion wollen, müssen also noch länger warten, bis sich die angespannte Verkehrssituation verbessert.
In Cuiabá wurden erst 19 der geplanten 56 städtischen Baumaßnahmen abgeschlossen. Die Erweiterung des Flughafens Marechal Rondon wird frühestens im August 2014 für den Flugverkehr genutzt werden können. Und das neue Straßenbahnsystem (VLT), das zur WM zum ersten Mal in der Stadtgeschichte eine Alternative zum schlechten Service der privaten Busunternehmen bieten sollte, kann erst im Dezember 2014 in Betrieb genommen werden – frühestens. Bereits Mitte 2013 hatte das Basiskomitee zur WM in Cuiabá von technischen Schwierigkeiten bei der Verlegung der Schienen wegen zu großer Gefälleunterschiede im Schienenbett berichtet. Ob diese überhaupt behoben werden können, ist völlig unklar.
In Porto Alegre ist es der Ausbau der zweispurigen Avenida Tronco in eine vierspurige Entlastungsstraße südlich des Stadtzentrums, der nicht vorankommt. Insgesamt 1.525 Familien müssen ihre Häuser verlassen, um Platz für die beiden zusätzlichen Fahrspuren zu schaffen. Bereits 2013 wurden die ersten Häuser geräumt und abgerissen. Doch die Entschädigungen für die Eigenheime ließen auf sich warten, wo die Ersatzhäuser gebaut werden sollten, blieb unklar. Die Anwohner der Avenida Tronco, die nahe der Innenstadt leben, wehrten sich. Gemeinsam mit dem Basiskomittee zur WM initiierten sie nach den Juniprotesten 2013 die Kampagne „Schlüssel nur gegen Schlüssel“: Die Häuser sollen erst herausgegeben werden, wenn ein anderes schlüsselfertiges Haus zur Verfügung steht.
Doch bis Mai 2014 haben sich 655 Familien entschieden, Entschädigungszahlungen von bis zu 18.000 Euro oder einen dauerhaften Zuschuss zur Miete anzunehmen. Die restlichen 880 Familien verharren in einer ungeklärten Situation neben den Abrissruinen. Das Bauprojekt, das neben dem Stadionbau einmal zu den Prioritäten der Baumaßnahmen vor der WM gehörte, ist seit Monaten ausgesetzt.
Auch in Rio de Janeiro wird die Schnellstraße Corredor Transcarioca, die den Flughafen Galeão mit der Innenstadt verbindet und mit rund 600 Millionen Euro die teuerste von der Regierung ausgewiesene Einzelbaumaßnahme ist, zur WM nur in Teilabschnitten befahrbar sein. Andere Straßenbauprojekte in Rio werden ebenfalls nicht rechtzeitig fertig, davon mehrere im Zentrum der Stadt. Doch hier gibt man sich optimistisch: Bis zum Beginn der Olympischen Spiele 2016 seien alle Umbauten im städtischen Straßensystem fertig, ganz bestimmt.
Eine positive Nachricht kam dagegen aus Salvador da Bahia: Nach einer Bauzeit von 14 Jahren wurde am 11. Juni die Metro-Linie 1 in Anwesenheit von Präsidentin Rousseff in Betrieb genommen. Lange wurde bezweifelt, übrigens auch seitens der Projektleitung, dass vor der WM die ersten Züge auf der nur 7,3 Kilometer langen überirdischen Bahnstrecke fahren würden. Der Bau der Strecke mit zwei Stationen kostete rund 1,2 Milliarden Euro, die aus Mitteln des Bundesstaates Bahia, des Bundes und der Gesellschaft CCR Bahia Mêtro stammen. Mehrfach wechselten die Baufirmen und öffentlichen Bauträger. Die 24 Waggons der sechs Züge wurden übereilt gekauft und mussten über Jahre teuer eingelagert werden. Nicht nur in diesem Zusammenhang untersuchte die Staatsanwaltschaft immer wieder Korruptionsvorwürfe.
Nun aber rollen die generalüberholten Waggons. In den ersten 90 Tagen soll die Fahrt umsonst sein, an den Spieltagen der Fußballweltmeisterschaft sind jedoch nur Fahrgäste mit Eintrittskarten der WM zugelassen. Der Bau eines Schnellbussystems (BRT) wurde in Salvador da Bahia aber in das Jahr 2016 verschoben.
Stattdessen hat man hier, wie auch in anderen Austragungsstädten, auf bewährte Methoden zurückgegriffen, um den Verkehrsfluss zu garantieren: Die Spieltage wurden einfach zu Feiertagen erklärt. In Salvador hat dies zusammen mit mehreren religiösen und staatlichen Feiertagen zur Folge, dass in den dreiwöchigen Zeitraum vom 12. Juni bis zum 2. Juli nur insgesamt vier Arbeitstage fallen. Wenn dies auch kein „Vermächtnis“ ist, so werden die längsten staatlich verordneten Ferien aller Zeiten sicher für die eine oder andere schöne Erinnerung sorgen.

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