Costa Rica | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

Verfall eines Modells

Opposition beklagt eine beschleunigte neoliberale Politik und zunehmend fundamentalistische Züge der Regierung Chinchilla

Die schwere Krise der costaricanischen Soz-ialversicherung, fragwürdige Parteispenden an die regierende PLN, millionenschwere Beraterverträge von Regierungsinstitutionen an Consultingfirmen, der Skandal um den Bau der Grenzstraße am Río San Juán: Die einst sozialdemokratische Partei von Präsidentin Laura Chinchilla bietet das Bild eines Wahlvereins, der nur noch an persönlicher Bereicherung und am Machterhalt um jeden Preis interessiert ist.

Markus Plate

Just am 1. Mai gelang es der regierenden Partei der Nationalen Befreiung (PLN) von Präsidentin Laura Chinchilla, die Mehrheit im Kongress Costa Ricas zurückzugewinnen. Zuvor hatte ein breites Bündnis sämtlicher Oppositionsparteien von links bis ultrakonservativ ein Jahr lang den Kongress kontrolliert. Die Kleinstpartei PASE, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und für Barrierefreiheit einsetzt, aber ansonsten erzkonservative Positionen vertritt, wechselte kurzerhand die Seiten und koaliert nun mit der PLN. Für Präsidentin Chinchilla wird das Regieren durch die Wiedererlangung der Kongressmehrheit erheblich einfacher. Sie muss nun nicht mehr mit der Opposition über jedes Gesetzesvorhaben und den Haushalt verhandeln. Vor allem um eine große Haushalts- und Steuerreform hatten sich Regierung und Opposition über fast ein Jahr gegenseitig blockiert.
Der neue Pakt zwischen PLN und PASE ist für beide Parteien von Vorteil. Einerseits ordnet sich PASE politisch der PLN fast komplett unter, versprach die Zustimmung zu allen Gesetzesinitiativen und akzeptierte die uneingeschränkte Kontrolle der PLN über die Haushaltspolitik. Diese wiederum entlohnt die Kleinpartei mit wichtigen und gutbezahlten Posten im Kongress, darunter den Kongressvorsitz, dem zweitwichtigsten Amt in Costa Rica, das Arbeit und Agenda des Kongresses entscheidend mitbestimmt.
Vor allem aber die Besetzung des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses mit dem evangelikalen Politiker Gerardo Justo Orosco sorgte für Empörung. Dessen erste Amtshandlung war die Beerdigung dreier in den letzten Monaten vieldiskutierter Projekte: Das Lebenspartnerschaftsgesetz, das die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften in der Sozialversicherung, bei Erbschaften und Renten vorsieht; das Gesetz zur Legalisierung von künstlichen Befruchtungen sowie die Umwandlung Costa Ricas in einen laizistischen Staat – all diese Initiativen flogen von der politischen Agenda. Bei den ersten beiden Liberalisierungsinitiativen gibt es durchaus Übereinstimmungen zwischen Opposition und Teilen der PLN. Mit der neuen Allianz im Kongress macht sich die PLN jedoch abhängig von zwei evangelikalen Parteien und der PASE, die beide Gesetzesvorhaben vehement ablehnen.
Als Reaktion auf das Ausbooten der beiden Gesetzesinitiativen organisierte ein breites Bündnis der homosexuellen Community, Frauen-, Migrant_innen- und Indigenenorganisationen am 16. Juni einen „Marcha de los Invisibles“ (Marsch der Unsichtbaren), eine mit 5.000 Demonstrant_innen für costaricanische Verhältnisse recht große Kundgebung. Der Marsch der angeblich Unsichtbaren und die Ankündigung der homosexuellen Community, das Land vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) zu verklagen, zeigten bereits Wirkung. Zahlreiche Abgeordnete, auch von der PLN, erklärten, das Lebenspartnerschaftsgesetz im Parlament weiterverfolgen zu wollen. An der ablehnenden Grundhaltung von Präsidentin Laura Chinchilla ändert dies freilich nichts. Die Theologin Kattia Castro nennt Chinchilla gar die „Patin des Aufstieges des Konservatismus und Fundamentalismus“ in Costa Rica.
Auch sozial- und wirtschaftspolitisch dürfte das Ende der Oppositionsallianz einige Auswirkungen haben: Die Regierung kann ihre haushalts- und steuerpolitischen Pläne nunmehr ohne Rücksicht auf die Opposition durchsetzen. Um das Haushaltsloch in Höhe von über fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu stopfen, hatte die PLN bereits vor Monaten einschneidende Maßnahmen vorgeschlagen, die von der Opposition um die Partei der Bürgeraktion (PAC) und das Linksbündnis Frente Amplio als sozial vollkommen unausgewogen abgelehnt und verhindert wurden. Gerade die costaricanische Mittelschicht und die ärmeren Bevölkerungsteile werden sich auf kräftige Steigerungen ihrer Lebenshaltungskosten einstellen müssen, auf eine erhöhte Mehrwertsteuer, auf steigende Gebühren für öffentliche Dienstleistungen und auf Einschnitte in den öffentlichen Sozialleistungen. Bislang sind nur Benzin und Zigaretten drastisch teurer geworden, nach Meinung politischer Beobachter_innen wird es dabei aber nicht bleiben können.
José Maria Villalta, einziger Abgeordneter der Frente Amplio, geht denn mit der regierenden PLN auch hart ins Gericht: „Die Regierung von Laura Chinchilla ist eine Regierung der hundertprozentigen Kontinuität, insbesondere, was die neoliberalen Politiken anbetrifft, die in Costa Rica in den letzten 25 Jahren umgesetzt worden sind.“ Sie habe die großen Probleme des Landes nicht in Angriff genommen, sondern sie verschlimmert. Selbst das Wirtschaftswachstum von knapp vier Prozent reiche nicht, um Arbeitsplätze zu schaffen, Arbeitnehmer_innen müssten seit Jahren Reallohnverluste hinnehmen. Auch die Statistiken belegen, dass die soziale Ungleichheit wächst und die Armut steigt. Immer größere Teile der Mittelschicht ächzten unter astronomischen Lebenshaltungskosten und Steuererhöhungen.
Der einzige, für viele fühlbare Erfolg ist die Verbesserung der Sicherheitslage in der Hauptstadtregion San José. Durch den massiven Ausbau der Polizeipräsenz scheint die Kriminalität im öffentlichen Raum abzunehmen. Doch das sind ausschließlich repressive Maßnahmen, Gewaltprävention scheint dagegen kein Teil der Agenda der PLN zu sein.
Die einst als vorbildlich gehandelten Staatsunternehmen befinden sich in einer schweren Krise, und damit das gesamte „costaricanische Modell“. Umweltkonflikte verschärfen sich, der Schutz der Küstengemeinden und der indigenen Bevölkerung, der Schutz vor zunehmend ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in Unternehmen und Landwirtschaft allgemein wird vernachlässigt.
Dramatisch ist die Situation der Kranken- und Rentenversicherung, im Volksmund schlicht „Caja“ genannt. Die Caja, laut Villalta eine „Errungenschaft der Menschen Costa Ricas, die in ganz Amerika ihresgleichen sucht“, ist seit Monaten wegen hoher Verluste und immer schlechter werdendem medizinischen Service in den Schlagzeilen. Arzneimittel und medizinisches Gerät werden zu weit überhöhten Preisen eingekauft, Ärzt_innen und Funktionär_innen genehmigen sich zum Teil exorbitante Gehälter, während Patient_innen für dringende Untersuchungen bisweilen monate- oder jahrelang auf einen Termin warten müssen. Die Opposition sieht dahinter den Plan der vollständigen Privatisierung des Gesundheitssystems. Bewusst schwäche die Regierung im Schulterschluss mit verbündeten Unternehmern die Caja: Unternehmen und selbst Regierungsinstitutionen zahlten ihre Pflichtbeiträge an die Caja nicht, und auf der Ausgabenseite sorgten Unterschlagung und überhöhte Preise dafür, dass sich immer größere Löcher im Budget auftun. Die Caja werde bewusst ausgeblutet, um eine Rechtfertigung für den Ausbau der privaten Gesundheit zu haben, die wiederum einigen Unternehmern große Profite beschere, schimpft Villalta.
Umverteilen geht im Costa Rica der Laura Chinchilla jedoch noch empörender. Die neue Uferstraße am Fluss Río San Juán, der Grenze zu Nicaragua, entwickelt sich laut Ansicht des christsozialen Abgeordneten Luis Fishman zum größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes. Per Notstandsdekret genehmigte die Präsidentin den Bau der Straße als Antwort auf den schwelenden Grenzkonflikt mit dem Nachbarland. In der Folge begann der Bau ohne Planung, ohne Umweltverträglichkeitsprüfung und offensichtlich auch ohne jede Kontrolle. Die Unregelmäßigkeiten beim Bau der Trasse, überhöhte Rechnungen, entwendete Materialien und Schmiergeldzahlungen könnten den costaricanischen Steuerzahler_innen einige Hundert Millionen Dollar kosten und bringen die regierende PLN bereits in größte Schwierigkeiten.
Zumal die Skandale mittlerweile im Wochenrhythmus einschlagen: Anfang Mai hatte der costaricanische oberste Wahlgerichtshof TSE die Staatsanwaltschaft beauftragt, gegen 90 führende Persönlichkeiten der PLN zu ermitteln. Auslöser dafür war die Erkenntnis, dass die Regierungspartei sich – neben den ihr zustehenden Geldern für ihre Wahlkampagne – 800.000 US-Dollar vom Staat für Mietverträge von Autos auszahlen ließ, die anscheinend nur vorgetäuscht wurden.
Das Ausbluten costaricanischer Staatsunternehmen und Staatsfinanzen sowie die ausufernde Korruption ist auch in Costa Rica kein neues Phänomen. Analyst_innen sprechen von einer „Zentralamerikanisierung“ Costa Ricas und meinen damit eine unternehmerische und politische Elite, die schon seit zwei Jahrzehnten zunehmend ungeniert das Land ausplündert. Neu ist die Frequenz der Skandale, und neu ist der gesellschaftliche Fundamentalismus, mit dem die PLN versucht, Wähler_innen an sich zu binden, die sich als Verlierer_innen der PLN-Politik eigentlich in Scharen abwenden müssten. Neu ist aber auch der zunehmende Widerstand gegen die Machenschaften der PLN. Und dieser kommt nicht nur aus der Opposition und von der Straße, sondern auch aus der PLN selbst. Vor allem die Jüngeren in der einstigen „Volkspartei“ wollen genau das Gegenteil von sozialer Vernachlässigung und klerikaler Gängelung. Aber auch PLN-Funktionsträger_innen wie Sissy Castillo, Vizeministerin des Gesundheitsministerium, beklagen den Vormarsch des Konservatismus‘.
Und so scheint der von vielen bereits ausgemachte Wahlsieg der PLN bei den Wahlen 2014, den Soziolog_innen für extrem schädlich für die costaricanische Demokratie halten, keineswegs in trockenen Tüchern. Für diesen Fall wird sogar in Anlehnung an mexikanische Verhältnisse vor einer „PRI-isierung“ Costa Ricas gewarnt. Laut Ansicht des Christsozialen Fishman, der PAC-Fraktionsvorsitzende Yolanda Acuña und des Sozialisten Villalta sei die progressive Opposition gefordert, gemeinsam ein alternatives politisches Projekt und eine_n gemeinsamen Kandidat_in zu präsentieren, die beide Ausdruck zivilgesellschaftlicher Prozesse und nicht Ergebnis von Hinterzimmerverhandlungen von Parteivorständen sein müssten. Wenn bis dahin auch eingefleischten PLN-Wähler_innen klar geworden ist, dass ihre Partei inzwischen das Gegenteil der Hüterin des costaricanischen Modells ist, könnte es in zwei Jahren tatsächlich zu einem Machtwechsel kommen.

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