El Salvador | Nummer 250 - April 1995

Vergeben kann nur das Volk

Drei Jahre nach dem Kriegsende – Eindrücke aus einem zerrissenen Land

Reimar Paul

Mit einem nervtötenden Schrei gibt ein Hahn das Zei­chen, daß die Nacht zu Ende ist. Oben am Hang antwortet ein Hund mit wüstem Gebell, dann fallen weitere Tiere in das Spek­takel ein. In der Dunkelheit nur schemenhaft zu erken­nen, regen sich vor den Hütten aus Brettern oder Well­blech die er­sten men­schlichen Gestalten. Mit Ma­cheten und Hacken auf den Schultern machen sich ein paar Bauern auf den Weg zu ihren oft weitab gelege­nen Maisfeldern. Frauen klatschen den aus Mais, Wasser und Salz zusam­men­ge­kne­teten Teig auf flache Steine und for­men die Masse zu hand­tellergroßen, run­den Fladen, den Tortillas. Für die meisten Leute in Guar­jila, einem Dorf in der sal­vadorianischen Provinz Cha­latenango, be­ginnt der Arbeitstag schon vor dem Mor­gengrauen.
Auch für die sechs Mit­arbeiter von Ra­dio Sumpul, die sich um halb fünf vor dem kleinen Ge­bäude am Ortsrand ver­sammelt haben. Ein kaum achtjähriger Junge schleppt einen Eimer mit Dieselöl heran und gießt den dickflüssigen Kraft­stoff in den Einfüll­stutzen des Motors, der in einem Bretterverschlag hinter der Hauswand un­tergebracht ist. Minuten später rumpelt das Ag­gregat, zwei an schlecht isolier­ten Drähten von der Decke bau­melnde Glühbir­nen beginnen zu flackern und tauchen den Innen­raum in ein trübes Licht.
Wilfredo Zepeda, Chefredak­teur und Leiter des vor einem knappen Jahr ge­gründeten Ra­dios, nimmt an einem wak­keligen Holztisch Platz, gießt Kaf­fee in schmutzige Plastikbe­cher und eröffnet die Redakti­onskonferenz. In einer knap­pen halben Stunde, um fünf Uhr, be­ginnt die Morgensendung. Zen­trales Thema die­ses Ta­ges sind die Schwierigkeiten bei der Land­übertragung an ehemalige Regie­rungssoldaten und Gueril­leros der Befrei­ungsfront FMLN. Die beiden Re­porterinnen haben Inter­views mit Betrof­fenen und einem Vertreter der UN-Beob­achtertruppe ONUSAL, der am Vortag Guarjila besucht hat, vor­bereitet und stel­len ihre Bei­träge vor. Juan, der Techniker, schaltet für einen Sound-Check das Mischpult und die Verstär­ker­anlage ein. Radio Sum­pul ging vor zehn Monaten zum er­sten Mal auf Sen­dung. Vier Stun­den täg­lich bestrahlt die auf einem Berg in der Nähe mon­tierte An­tenne weite Teile der nördlichen Pro­vinz Chala­tenango und einige Nach­barbezirke. Die niederländi­sche Nichtregie­rungs­organi­sa­tion World-Com hat die Technik in­stalliert, ein schwedi­sches Hilfs­werk führt seit dem Herbst ein Ausbil­dungs­programm für die Journali­sten und Jour­nalis­tin­nen durch.
“Unsere Leute hatten über­haupt keine Ahnung, wie Radio gemacht wird”, sagt Wilfredo Zepeda. Alle MitarbeiterInnen stam­men aus Dörfern in Chala­tenango. Einige verbrachten die Bürgerkriegsjahre mit ih­ren Fa­milien im Exil in Honduras, an­dere gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Eine Schule ha­ben sie, wenn überhaupt, nur für ein oder zwei Jahre besu­chen können. Das Schulge­bäude von Guarjila wur­de 1982 bei einem Angriff der Regie­rungs­armee zerbombt, die beiden Lehrer flohen in die Haupt­stadt. Ausgebil­dete Jour­nalisten aus San Salvador oder dem Ausland zu verpflich­ten, kam für Radio Sumpul von An­fang an nicht in Frage. “Die hät­ten wir gar nicht bezah­len kön­nen,” so Zepeda. “Und das hätte auch unse­rem Konzept wi­der­sprochen, ein Radio für die Bevölke­rung zu machen.” In Guarjila gibt es we­der Zei­tungen noch Fernsehen, aber in je­der Hütte steht ein batteriebetriebe­nes Radio­gerät. In der einmal pro Woche ta­genden Junta Directiva, einer Art Auf­sichtsrat von Radio Sumpul, haben die Landarbeiter­gewerkschaft, eine Frauen­gruppe und an­dere Basisor­ganisationen Sitz und Stimme.
Unterbrochen von schwung­vollen Ran­cheros läuft im Radio das Inter­view mit einem Vertre­ter des Gemeinderates von Guarjila. Etwas holperig infor­miert Caesar Ibarra über die Verzögerungen bei der Land­übertragung. Seit Anlaufen der Agrarreform vor drei Jahren dür­fen Großgrundbesitzer nur noch 245 Hektar Wirt­schaftsland be­sitzen und müssen alles, was darüber liegt, günstig an Nicht­ver­wandte verkaufen. Das meiste Land kauft der Staat auf und ge­währt ehemali­gen Gueril­leros, entlassenen Regierungssol­daten und Kleinbauern, die wäh­rend des Krieges in den Kon­fliktzonen verlassenes Land an sich genommen hatten, günstige Kredite. Bis zum April dieses Jahres soll der Prozeß der Land­übergabe abgeschlos­sen sein – so steht es in dem im Januar 1992 unterzeichneten Friedensab­kom­men.
Schwierigkeiten bei der Landverteilung
Doch die Wirklichkeit in Chalatenango und den an­deren früheren Konfliktregio­nen sieht an­ders aus. Bis heute haben noch nicht einmal 40 Pro­zent der fast 50.000 regi­strierten Antragstelle­rInnen Land er­halten, die mei­sten weniger als die ver­sprochenen 2,5 Hektar. Viele Bauern ha­ben sich nicht recht­zeitig bei den Behör­den gemel­det, andere wurden nicht als Be­günstigte anerkannt. In Guarjila und den umliegen­den Gemein­den, die im Krieg von der FMLN kon­trolliert wurden, ist die Si­tuation noch krasser.
Hier hatten sich die meisten ehemaligen Großgrund­besitzer nach Aus­bruch des bewaffneten Konflik­tes ins Ausland ab­gesetzt und sind deshalb oft nicht mehr aus­findig zu ma­chen. Ohne ihre rechts­gültige Unterschrift, so ar­gumentiert die Regierung, kann das Land aber nicht verkauft werden. Eine ge­meinsame Kommission der Gemeinde­räte aus Chala­tenango hat jetzt die ONUSAL aufgefordert, bei der Regierung auf eine Beschleuni­gung der Landübertra­gung zu drän­gen. “Wenn wir weiter hin­gehalten werden, gibt es massi­ven Krach,” warnt Caesar Ibarra.
Politische Absicht wäh­nen die Leute von Guarjila auch hinter der Tatsache, daß die im Krieg zerstörte Infrastruktur in ih­rer Re­gion noch nicht wieder in­takt ist. Trinkwasser, Strom und Telefonan­schlüsse hat die Regie­rung allen Gemein­den in ihrem von der Europäischen Union mit­finanzierten Nationalen Wieder­auf­bauprogramm ver­sprochen. In Guarjila zapfen die Menschen das Wasser weiter­hin aus selbst­gebohrten Brunnen. Und es gibt auch noch keine elektrische En­ergie, obwohl eine Leitung nur wenige hundert Meter ent­fernt am Ort vorbei­führt. Bei ei­ner Versammlung im Januar forder­ten aufge­brachte EinwohnerIn­nen, der Regie­rung eine letzte Frist für die Installie­rung der Kabel zu setzen. Ande­renfalls werde man die Strom­masten in die Luft spren­gen.
Trotz der verbreiteten Unzu­friedenheit in den ländlichen Re­gionen hat sich die politische Situation in El Salvador in den ver­gangenen drei Jahren spür­bar ent­spannt. Rubén Za­mora, der bei den Prä­sidentschaftswahlen im ver­gangenen März für eine Mitte-Links-Koalition ins Ren­nen ging, dabei aber dem Kandi­daten der rechtsgerichteten Partei ARENA unterlag, hält den Frie­densprozeß für unumkehr­bar. “Die Gefahr, daß der Krieg wie­der aus­bricht, existiert praktisch nicht,” sagt der 52jährige Rechts­anwalt, den wir in seinem Büro am Boulevard de los He­roes im Zentrum San Salvadors treffen. “Die Ent­militarisierung hat große Fortschritte ge­macht.”
In den vergangenen drei Jah­ren wurde die Regie­rungsarmee von über 60.000 auf 32.000 Mann reduziert. Die alten Sicherheits­organe, während des be­waff­neten Konfliktes für zahlrei­che Men­schenrechts­ver­letzungen verantwort­lich, sind auf­ge­löst worden. Eine neue Polizei­einheit, die unter zi­vilem Kom­mando steht, ist inzwischen im gan­zen Land prä­sent.
Konsens mit der Opposition in Grundfragen
Auch “Elemente einer neuen Streitkul­tur” hat Za­mora ausge­macht. “Der alte Stil, als die Re­gierung be­fohlen hat und die Be­völkerung gehorchen mußte, exi­stiert so nicht mehr.” In we­sentlichen Fragen müsse die Re­gierung den Kon­sens mit der Opposi­tion suchen, insbesondere mit der FMLN, der zweit­stärksten Fraktion im Parla­ment.
Präsident Armando Calderón Sol sieht El Sal­vador ebenfalls “auf dem Weg in eine bessere Zu­kunft.” Die Abkommen seien zu neunzig Prozent erfüllt, er­klärt er bei einer Kundgebung zum dritten Jah­restag des Friedensvertrages. Die Re­gierung werde alles tun, die noch offenen Punkte so rasch wie möglich umzusetzen. Die ver­sammelten Minister und Bot­schafter nicken beifällig und wenden sich dann den von emsi­gen Kellnern auf sil­bernen Ta­bletts gereichten Häppchen und Getränken zu.
Frieden heißt auch soziale Gerechtigkeit
Kritik an der gegenwärtigen Entwick­lung kommt vor allem von der Kirche. “Für die Ärm­sten ist der Frieden noch lange nicht erreicht”, sagt der Interims-Erzbischof von San Salvador, Rosa Cha­vez, in der Sonntags­messe in der großen Kathedrale. Frieden bedeute mehr als das Schweigen der Waffen. “Frieden heißt auch: Mehr soziale Ge­rechtigkeit, mehr und besser be­zahlte Arbeit, mehr Woh­nungen.”
Zur selben Zeit predigt Jon Cortina in San José Las Flores, einem Nachbardorf von Guarjila. Nur weil er sich damals nicht in der Hauptstadt aufhielt, entging der Jesuiten-Pater im November 1989 dem von ranghohen Mili­tärs befohlenen Mas­saker an sei­nen Kollegen auf dem Gelände der UCA, der Zentralamerikani­schen Universität. Cortina pran­gert das von der Regierung erlas­sene Amnestiege­setz an, durch das auch die schwersten Men­schen­rechtsverletzungen der Bürger­kriegsjahre ungesühnt blei­ben. Die Mas­saker und Morde könne nur das Volk ver­geben, nicht aber die Politiker.
Der Gottesdienst in San José Las Flores muß an diesem Tag im Freien stattfinden. Die Kir­che, die in den Kriegszeiten Be­schuß und Bomben standgehal­ten hatte, ist vor ein paar Wo­chen eingestürzt. Cortinas Worte erreichen nicht nur die Men­schen auf dem Dorfplatz. Radio Sum­pul über­trägt die Messe direkt.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren