Vergeben kann nur das Volk
Drei Jahre nach dem Kriegsende – Eindrücke aus einem zerrissenen Land
Mit einem nervtötenden Schrei gibt ein Hahn das Zeichen, daß die Nacht zu Ende ist. Oben am Hang antwortet ein Hund mit wüstem Gebell, dann fallen weitere Tiere in das Spektakel ein. In der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen, regen sich vor den Hütten aus Brettern oder Wellblech die ersten menschlichen Gestalten. Mit Macheten und Hacken auf den Schultern machen sich ein paar Bauern auf den Weg zu ihren oft weitab gelegenen Maisfeldern. Frauen klatschen den aus Mais, Wasser und Salz zusammengekneteten Teig auf flache Steine und formen die Masse zu handtellergroßen, runden Fladen, den Tortillas. Für die meisten Leute in Guarjila, einem Dorf in der salvadorianischen Provinz Chalatenango, beginnt der Arbeitstag schon vor dem Morgengrauen.
Auch für die sechs Mitarbeiter von Radio Sumpul, die sich um halb fünf vor dem kleinen Gebäude am Ortsrand versammelt haben. Ein kaum achtjähriger Junge schleppt einen Eimer mit Dieselöl heran und gießt den dickflüssigen Kraftstoff in den Einfüllstutzen des Motors, der in einem Bretterverschlag hinter der Hauswand untergebracht ist. Minuten später rumpelt das Aggregat, zwei an schlecht isolierten Drähten von der Decke baumelnde Glühbirnen beginnen zu flackern und tauchen den Innenraum in ein trübes Licht.
Wilfredo Zepeda, Chefredakteur und Leiter des vor einem knappen Jahr gegründeten Radios, nimmt an einem wakkeligen Holztisch Platz, gießt Kaffee in schmutzige Plastikbecher und eröffnet die Redaktionskonferenz. In einer knappen halben Stunde, um fünf Uhr, beginnt die Morgensendung. Zentrales Thema dieses Tages sind die Schwierigkeiten bei der Landübertragung an ehemalige Regierungssoldaten und Guerilleros der Befreiungsfront FMLN. Die beiden Reporterinnen haben Interviews mit Betroffenen und einem Vertreter der UN-Beobachtertruppe ONUSAL, der am Vortag Guarjila besucht hat, vorbereitet und stellen ihre Beiträge vor. Juan, der Techniker, schaltet für einen Sound-Check das Mischpult und die Verstärkeranlage ein. Radio Sumpul ging vor zehn Monaten zum ersten Mal auf Sendung. Vier Stunden täglich bestrahlt die auf einem Berg in der Nähe montierte Antenne weite Teile der nördlichen Provinz Chalatenango und einige Nachbarbezirke. Die niederländische Nichtregierungsorganisation World-Com hat die Technik installiert, ein schwedisches Hilfswerk führt seit dem Herbst ein Ausbildungsprogramm für die Journalisten und Journalistinnen durch.
“Unsere Leute hatten überhaupt keine Ahnung, wie Radio gemacht wird”, sagt Wilfredo Zepeda. Alle MitarbeiterInnen stammen aus Dörfern in Chalatenango. Einige verbrachten die Bürgerkriegsjahre mit ihren Familien im Exil in Honduras, andere gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Eine Schule haben sie, wenn überhaupt, nur für ein oder zwei Jahre besuchen können. Das Schulgebäude von Guarjila wurde 1982 bei einem Angriff der Regierungsarmee zerbombt, die beiden Lehrer flohen in die Hauptstadt. Ausgebildete Journalisten aus San Salvador oder dem Ausland zu verpflichten, kam für Radio Sumpul von Anfang an nicht in Frage. “Die hätten wir gar nicht bezahlen können,” so Zepeda. “Und das hätte auch unserem Konzept widersprochen, ein Radio für die Bevölkerung zu machen.” In Guarjila gibt es weder Zeitungen noch Fernsehen, aber in jeder Hütte steht ein batteriebetriebenes Radiogerät. In der einmal pro Woche tagenden Junta Directiva, einer Art Aufsichtsrat von Radio Sumpul, haben die Landarbeitergewerkschaft, eine Frauengruppe und andere Basisorganisationen Sitz und Stimme.
Unterbrochen von schwungvollen Rancheros läuft im Radio das Interview mit einem Vertreter des Gemeinderates von Guarjila. Etwas holperig informiert Caesar Ibarra über die Verzögerungen bei der Landübertragung. Seit Anlaufen der Agrarreform vor drei Jahren dürfen Großgrundbesitzer nur noch 245 Hektar Wirtschaftsland besitzen und müssen alles, was darüber liegt, günstig an Nichtverwandte verkaufen. Das meiste Land kauft der Staat auf und gewährt ehemaligen Guerilleros, entlassenen Regierungssoldaten und Kleinbauern, die während des Krieges in den Konfliktzonen verlassenes Land an sich genommen hatten, günstige Kredite. Bis zum April dieses Jahres soll der Prozeß der Landübergabe abgeschlossen sein – so steht es in dem im Januar 1992 unterzeichneten Friedensabkommen.
Schwierigkeiten bei der Landverteilung
Doch die Wirklichkeit in Chalatenango und den anderen früheren Konfliktregionen sieht anders aus. Bis heute haben noch nicht einmal 40 Prozent der fast 50.000 registrierten AntragstellerInnen Land erhalten, die meisten weniger als die versprochenen 2,5 Hektar. Viele Bauern haben sich nicht rechtzeitig bei den Behörden gemeldet, andere wurden nicht als Begünstigte anerkannt. In Guarjila und den umliegenden Gemeinden, die im Krieg von der FMLN kontrolliert wurden, ist die Situation noch krasser.
Hier hatten sich die meisten ehemaligen Großgrundbesitzer nach Ausbruch des bewaffneten Konfliktes ins Ausland abgesetzt und sind deshalb oft nicht mehr ausfindig zu machen. Ohne ihre rechtsgültige Unterschrift, so argumentiert die Regierung, kann das Land aber nicht verkauft werden. Eine gemeinsame Kommission der Gemeinderäte aus Chalatenango hat jetzt die ONUSAL aufgefordert, bei der Regierung auf eine Beschleunigung der Landübertragung zu drängen. “Wenn wir weiter hingehalten werden, gibt es massiven Krach,” warnt Caesar Ibarra.
Politische Absicht wähnen die Leute von Guarjila auch hinter der Tatsache, daß die im Krieg zerstörte Infrastruktur in ihrer Region noch nicht wieder intakt ist. Trinkwasser, Strom und Telefonanschlüsse hat die Regierung allen Gemeinden in ihrem von der Europäischen Union mitfinanzierten Nationalen Wiederaufbauprogramm versprochen. In Guarjila zapfen die Menschen das Wasser weiterhin aus selbstgebohrten Brunnen. Und es gibt auch noch keine elektrische Energie, obwohl eine Leitung nur wenige hundert Meter entfernt am Ort vorbeiführt. Bei einer Versammlung im Januar forderten aufgebrachte EinwohnerInnen, der Regierung eine letzte Frist für die Installierung der Kabel zu setzen. Anderenfalls werde man die Strommasten in die Luft sprengen.
Trotz der verbreiteten Unzufriedenheit in den ländlichen Regionen hat sich die politische Situation in El Salvador in den vergangenen drei Jahren spürbar entspannt. Rubén Zamora, der bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen März für eine Mitte-Links-Koalition ins Rennen ging, dabei aber dem Kandidaten der rechtsgerichteten Partei ARENA unterlag, hält den Friedensprozeß für unumkehrbar. “Die Gefahr, daß der Krieg wieder ausbricht, existiert praktisch nicht,” sagt der 52jährige Rechtsanwalt, den wir in seinem Büro am Boulevard de los Heroes im Zentrum San Salvadors treffen. “Die Entmilitarisierung hat große Fortschritte gemacht.”
In den vergangenen drei Jahren wurde die Regierungsarmee von über 60.000 auf 32.000 Mann reduziert. Die alten Sicherheitsorgane, während des bewaffneten Konfliktes für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, sind aufgelöst worden. Eine neue Polizeieinheit, die unter zivilem Kommando steht, ist inzwischen im ganzen Land präsent.
Konsens mit der Opposition in Grundfragen
Auch “Elemente einer neuen Streitkultur” hat Zamora ausgemacht. “Der alte Stil, als die Regierung befohlen hat und die Bevölkerung gehorchen mußte, existiert so nicht mehr.” In wesentlichen Fragen müsse die Regierung den Konsens mit der Opposition suchen, insbesondere mit der FMLN, der zweitstärksten Fraktion im Parlament.
Präsident Armando Calderón Sol sieht El Salvador ebenfalls “auf dem Weg in eine bessere Zukunft.” Die Abkommen seien zu neunzig Prozent erfüllt, erklärt er bei einer Kundgebung zum dritten Jahrestag des Friedensvertrages. Die Regierung werde alles tun, die noch offenen Punkte so rasch wie möglich umzusetzen. Die versammelten Minister und Botschafter nicken beifällig und wenden sich dann den von emsigen Kellnern auf silbernen Tabletts gereichten Häppchen und Getränken zu.
Frieden heißt auch soziale Gerechtigkeit
Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung kommt vor allem von der Kirche. “Für die Ärmsten ist der Frieden noch lange nicht erreicht”, sagt der Interims-Erzbischof von San Salvador, Rosa Chavez, in der Sonntagsmesse in der großen Kathedrale. Frieden bedeute mehr als das Schweigen der Waffen. “Frieden heißt auch: Mehr soziale Gerechtigkeit, mehr und besser bezahlte Arbeit, mehr Wohnungen.”
Zur selben Zeit predigt Jon Cortina in San José Las Flores, einem Nachbardorf von Guarjila. Nur weil er sich damals nicht in der Hauptstadt aufhielt, entging der Jesuiten-Pater im November 1989 dem von ranghohen Militärs befohlenen Massaker an seinen Kollegen auf dem Gelände der UCA, der Zentralamerikanischen Universität. Cortina prangert das von der Regierung erlassene Amnestiegesetz an, durch das auch die schwersten Menschenrechtsverletzungen der Bürgerkriegsjahre ungesühnt bleiben. Die Massaker und Morde könne nur das Volk vergeben, nicht aber die Politiker.
Der Gottesdienst in San José Las Flores muß an diesem Tag im Freien stattfinden. Die Kirche, die in den Kriegszeiten Beschuß und Bomben standgehalten hatte, ist vor ein paar Wochen eingestürzt. Cortinas Worte erreichen nicht nur die Menschen auf dem Dorfplatz. Radio Sumpul überträgt die Messe direkt.