Verlobt mit einer Schlange
Ein indigenes Märchen aus Peru, entnommen dem Sammelband wo der Kondor wacht und die Berge sprechen…
Eine Familie lebte in einem kleinen Dorf am Rande eines hohes Berges. Weit entfernt von diesem Ort besaßen sie ein wenig Land und ein paar Tiere. Die älteste Tochter widmete sich dem Hüten des Viehs und, da sie weder einen Verlobten noch viele Freundschaften zu haben pflegte, blieb sie häufig des Nachts allein in einer kleinen Hütte zurück. Diese hatten ihre Brüder neben einigen großen Bäumen, die Wärme und Schatten spendeten, errichtet.
Auf die Sorge ihrer Eltern hin, ob sie denn nicht Angst verspüre, wenn sie alleine in der Hütte übernachtete, entgegnete die junge Frau nur, dass der tägliche Weg viel Zeit in Anspruch nehmen würde und dass sie sich in der Hütte sicher und geborgen fühlte.
Tag ein, Tag aus trieb sie morgens die Kühe zum Weiden hinaus aufs Feld und gegen Nachmittag brachte sie diese zurück in die Stallungen, die neben der Hütte standen. Daraufhin aß sie selbst das Essen, was sie sich regelmäßig aus dem Dorf mitbrachte und legte sich früh schlafen.
In der Nähe der Hütte hauste ebenfalls eine große Schlange. Sie beobachtete die junge Frau von Zeit zu Zeit aus sicherer Entfernung und verliebte sich allmählich in sie.
Eines schönen Tages verwandelte sich diese Schlange in einen gut aussehenden Mann, trat an die junge Frau heran und stellte sich ihr vor. Das Mädchen, das zwar von einem guten Charakter und besonderer Schönheit gekennzeichnet war, hatte vorher keinerlei Verehrer oder Verlobte gehabt. Es war also nicht verwunderlich, dass sie sich, sobald sie merkte, dass dieser nette und schöne Mann ihr den Hof machte, ebenfalls schnell verliebte.
Es war die Zeit gekommen, ihren Eltern im Dorf einen Besuch abzustatten, was sie hin und wieder tat, um gleichzeitig Käse, frische Milch und weiteren Proviant mit zur Hütte zu nehmen. Verwundert fragte die Mutter, als sich ihre Tochter wieder auf den Rückweg zur Hütte begeben wollte: „Warum bleibst du nicht die Nacht über hier?“
„Aber dann sind doch die Kühe allein und zur Zeit gibt es viele Diebe in der Gegend. Was ist, wenn sie unser Vieh rauben?“
„Dann schicken wir eben eines deiner Geschwister“, entgegnete der Vater ihr. Ausweichend brachte seine Tochter an: „Ja, a-a-aber die Tiere haben sich an mich gewöhnt.“
Ohne die Antwort ihrer Eltern abzuwarten, raffte sie ihre Sachen zusammen und entfernte sich schnell. Die Mutter ahnte, dass ihre Tochter einen Geliebten hatte, und bat ihren Gatten nachzusehen, was an diesem Ort so weit vom Dorf entfernt vor sich ging.
So sprach sie zu ihm: „Folge ihr bitte in sicherer Entfernung und sieh nach, was los ist. Sie hat etwas Sonderbares an sich.“
Der Ehemann stimmte zu und ging augenblicklich aus dem Haus. Er nahm eine Abkürzung und überholte so seine Tochter, ohne dass diese es merkte. Als er nun als erster an der Hütte ankam, sah er gerade noch die große Schlange zwischen den Sträuchern entwischen.
Der besorgte Vater wartete eine Weile, bis seine Tochter zu ihm stieß, und verkündete dann, ohne weitere Erklärungen zu geben, dass er die Hütte an einen anderen Ort verlegen würde. Seine Tochter war sichtlich entrüstet und argumentierte: „Hier bin ich in der Nähe der Tiere. Von hier aus kann ich sie hören und beschützen, falls jemand ihnen etwas Böses anhaben möchte.“ Es war offensichtlich, dass die junge Frau der Ansicht des Vaters nicht nachgeben würde, und so kehrte dieser resigniert ins Dorf zurück. Dort angekommen, berichtete er alles seiner Frau und seinen Söhnen.
Es vergingen die Tage und die Schlange, gut genährt, wuchs mehr und mehr.
Sobald sie mit der jungen Frau zusammen war, nahm sie menschliche Gestalt an, aß eifrig Käse und trank eine Menge frischer Milch, die ihr das Mädchen in einer Schale servierte. Sobald die junge Frau ausging, verwandelte sich der Mann wieder zurück in eine Schlange, rollte sich in einer Ecke der Hütte zusammen oder schlängelte sich durch die nahen Felder.
Die junge Frau stattete ihren Eltern nur noch selten einen Besuch ab, denn sie erwartete inzwischen ein Kind und wollte auf keinen Fall, dass ihre Familie sie in diesen Umständen sah. Wenn es nötig war in ihr Elternhaus zurückzukehren, um Käse, frische Milch und weiteren Proviant zu besorgen, wartete sie ab, bis keiner zugegen war und verschwand dann schnell wieder.
Die Sorge der Familie um ihre Tochter wuchs und eines schönen Tages beschlossen sie zu handeln. Da sie zwar nicht wussten, wie, sich jedoch sicher waren, dass die große Schlange zu ihrem Unglück beigetragen hatte, ging der Vater mit seinen übrigen Söhnen los, um die Schlange zu suchen. Sie gelangten an die Hütte, zu einer Zeit, zu der das Mädchen auf einer entfernten Wiese das Vieh weidete. Der Vater trat mit seinen Kindern ein und schon nach kurzer Zeit hatten sie die enorme Schlange entdeckt. Sie schlief zusammengerollt auf dem Bett. Kaum waren der Vater und die Brüder auf sie gestoßen, brachten sie die Schlange mit ihren Macheten um.
Als die junge Frau mit ihren Tieren zur Hütte zurückkehrte und auf die leblose Schlange traf, brach sie in untröstliches Weinen aus.
Unter Tränen tadelte sie ihre Familie: „Wie konntet ihr dies tun?“
„Wie konntest du dich in eine Schlange verlieben“, warf ihr seinerseits der Vater vor. „Aber wenn wir zusammen waren, verwandelte sie sich in einen hübschen Mann“, rief die verzweifelte Tochter aus.
Nun kam Scham über den Vater und die Geschwister der Trauernden. Sie spendeten ihr Trost und nahmen sie mit ins Dorf zurück, ohne ihr weitere Vorwürfe zu machen.
Allerdings erholte sich die junge Frau nicht von dem, was geschehen war. Sie verbrachte von nun an den ganzen Tag auf einem Mahlstein. Dort saß sie in Schweigen und tiefer Traurigkeit versunken. Selbst zum Essen war sie nicht von dieser Stelle zu bewegen.
Genau an diesem Platz brachte die junge Frau wenig später viele kleine Schlangen zur Welt. Sie blieb fortan auf dem Mahlstein sitzen und achtete mit Argusaugen darauf, dass keiner ihre Kinder bemerkte.
Doch eines Nachmittags, an dem die gesamte Familie das Haus verlassen hatte, erhob sie sich vom Hunger getrieben von ihrem Platz auf der Suche nach Essbarem. Gerade in diesem Augenblick kehrten die Eltern zurück. Als sie sahen, dass ihre Tochter endlich ihren alten Platz aufgegeben hatte, nutzten sie die Gunst der Stunde, um nachzusehen, was sich unter dem Mahlstein verbarg, denn sie ahnten Unheilvolles. Als sie die ineinander verwirrten kleinen Schlangen sahen, begannen sie entsetzt mit den Füßen auf sie zu treten, bis schließlich allesamt reglos am Boden lagen. Lediglich eine kleine Schlange hatte es geschafft zu entkommen. Als die Mutter der Schlangen dies sah, griff sie eilig nach dieser einzigen Schlange, die überlebt hatte, und rannte ohne ein Wort zu verlieren davon.
Sie lief weit weg über Berge, vorbei an Flüssen und durch Täler, bis sie letztlich in ein weit entferntes Dorf gelangte. Dort fand sie Arbeit und zog ihre kleine Schlange versteckt in einer Truhe auf.
So vergingen die Jahre und, als die Schlangenmutter eines schönen Tages wie gewohnt die Truhe öffnete, um die Schlange zu füttern, war die Überraschung groß. Sie erblickte einen gut aussehenden jungen Mann, der sie an ihren Geliebten vor langer Zeit erinnerte. Dieser junge Mann sah sie, umarmte sie voller Zuneigung und sprach: „Ich bin dein Sohn, Mutter, und von nun an werde ich dich beschützen!“
Folglich traten Mutter und Sohn einen langen Weg über Berge, vorbei an Flüssen und durch Täler an. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, konnte sich die Mutter noch gut an den Weg, der sie zu ihrem Elternhaus führte, erinnern.
Als sie schließlich auf ihre Eltern traf, die mittlerweile schon ins hohe Alter gekommen waren, sprach sie in einer Mischung aus Stolz und Wut: „Seht her, dies ist euer Enkelkind, mein Sohn! Genauso wären all meine anderen Kinder geworden, die ihr so grausam ermordet habt!“
Der Abdruck dieses Märchens wurde mit freundlicher Unterstützung der verantwortlichen Organisationen ermöglicht (siehe Seite 50).