Argentinien | Nummer 450 - Dezember 2011

Vermeintlicher Linksruck

In Argentinien wurde Cristina Fernández im Amt bestätigt und linke bis linksliberale Parteien feierten Rekordergebnisse

Wirklich überrascht hat die Wiederwahl von Cristina Fernández de Kirchner am 23. Oktober niemanden. Spätestens nachdem die 58-jährige Witwe des im Oktober letzten Jahres verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner bei den erstmals durchgeführten landesweiten Vorwahlen 50 Prozent der Stimmen holte, ging es nur noch um die Frage, wie deutlich sie gewinnt.

Johannes Schulten

Es ist ein historischer Erfolg. Mit 54 Prozent der Stimmen erzielte CFK, wie die Linksperonistin von Anhänger_innen wie Gegner_innen genannt wird, den zweithöchsten Wahlsieg in der Geschichte der freien Wahlen des Landes. Überflügelt wurde sie lediglich vom peronistischen Übervater Juán Domingo Perón. Für dessen zweite Amtszeit stimmten 1952 ganze 60 Prozent.
Die eigentliche Überraschung vom 23. Oktober war jedoch die kleine linksliberale Sozialistische Partei (PS) um den Gouverneur von Santa Fé, Hermes Binner. Die PS hatte gemeinsam mit einigen linken Splitterparteien und bekannten Funktionär_innen des alternativen Gewerkschaftsdachverbandes CTA die Breite Progressive Front (Frente Amplio Progresista, FAP) gebildet. Wenn auch ohne klares wirtschaftspolitisches Programm, präsentierte sich die FAP geschickt als nicht etablierte Alternative zur Regierung – mit Erfolg. Sie landete mit 16,87 Prozent auf Platz zwei und düpierte die gesamte rechte Opposition. Ricardo Alfonsín, Kandidat der ältesten Partei Argentiniens, der Radikalen Bürgerunion (UCR), und Sohn des ersten demokratischen Präsidenten nach der letzten Militärdiktatur, Raúl Alfónsin, blieb mit 11,15 Prozent sogar weit hinter den ohnehin schon pessimistischsten Erwartungen zurück. Noch schlimmer erwischte es den rechten, mit dem Kirchner-Flügel zerstrittenen Teil der Peronistischen Partei, PJ. Dieser hatte sich nicht auf einen Kandidaten einigen können und zwei alte Hasen ins Rennen geschickt. Der Gouverneur der Provinz San Luís, Alberto Rodríguez Saá, kam auf gerade einmal 7,98 Prozent. Eudardo Duhalde, der einige Jahre Vizepräsident unter Carlos Menem war und das Land von 2002 bis 2003 regierte, schaffte nicht einmal die 6-Prozentmarke.
Gefreut haben dürfte sich die kleine trotzkistische Gemeinde Argentiniens. Mit 2,79 Prozent erreichten sie das beste Ergebnis der radikalen Linken der letzten Jahrzehnte. Ein Grund für den Erfolg war ironischerweise ein von ihnen kritisiertes neues Wahlgesetz. Dieses sieht unter anderem vor, dass eine Partei, um bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, in zuvor durchgeführten Vorwahlen mindestens 1,5 Prozent der Stimmen erreichen muss. Das zwang die Trotzkist_innen praktisch zur Einheit.
Knapp 70 Prozent der rund 28 Millionen stimmberechtigten Argentinier_innen haben sich für linke oder linksliberale Parteien entschieden. Daraus jedoch auf einen generellen Linksruck breiter Teile der Bevölkerung zu schließen, sozusagen als Langzeitfolge des argentinischen Aufstandes, der sich im Dezember zum zehnten mal jährt, wäre gleichwohl übertrieben. Ausschlaggebend für die Wiederwahl von CFK waren neben dem Popularitätsschub der Präsidentin nach dem Tod ihres Ehemanns vor allem ökonomische Motive. Der 2003 mit dem Amtsantritt Néstor Kirchners eingesetzte Wachstumsboom hielt auch während der vergangenen vier Jahre an. Anders als in den 1990er Jahren hatte das Wachstum auch spürbare Effekte auf den Lebensstandard größerer Teile der Bevölkerung.
Das bestätigten auch Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Poliarquía. Etwa 48 Prozent der Argentinier_innen glaubte vor den Wahlen, dass es dem Land besser gehe als vor vier Jahren. 52 Prozent meinten, dass die Regierung eine gute Arbeit gemacht habe und schätzten den starken Rückgang der Arbeitslosigkeit und das Wirtschaftswachstum von knapp acht Prozent im Wahljahr. Die Hauptthemen der rechten Opposition traten dagegen in den Hintergrund. Die massive Inflation, die nach offiziellen Angaben bei etwa zehn Prozent liegt, laut privater Institute bei bis zu 25 Prozent, wurde von „nur“ 33 Prozent der Wähler_innen als Problem angesehen. Auch die Kriminalität spielte nur für 22 Prozent eine wahlentscheidende Rolle.
Die wichtigste Basis der Regierung sind die Armen, die spürbar vom starken Ausbau der Sozialpolitik der vergangenen Jahre profitierten. Neben der Anhebung des Mindestlohns auf 2300 Peso, knapp 540 Euro, ist vor allem das im Dezember 2009 eingeführte universelle Kindergeld zu nennen. Insgesamt 3,7 Millionen Kinder armer Familien erhalten inzwischen eine staatliche Unterstützung von 270 Peso pro Monat (etwa 45 Euro). Einzige Bedingungen sind die regelmäßige Teilnahme am Schulunterricht und Impfungen. Die Zahl der Kinder an Sekundarschulen nahm in den letzten drei Jahren um 20 Prozent zu. Die Sozialleistungen bedeuteten für die meisten ihrer Bezieher_innen zwar keine Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt, indem die Regierung viele ihrer Sozialleistungen in Gesetze goss, koppelte sie diese jedoch zumindest teilweise vom für argentinische Politik typischen Klientelismus ab.
Königsmacher war allerings die Mittelklasse. Nach Jahren der Auszehrung hat sie am kräftigsten vom Boom mit neuen Jobs und steigenden Löhnen profitiert. Und sie kann wieder konsumieren. Argentiniens Einzelhandel profitiert davon ungemein, in diesem Jahr wurden täglich 5.000 neue Autos verkauft. In vielen kleineren Städten, besonders in Sojagebieten, werden so viele Häuser gebaut, dass die Gemeinden mit dem Straßenbau nicht mehr hinterherkommen.
In den nächsten vier Jahren wird die Regierung eine mehr als komfortable Position im Kongress haben. Neben der Besetzung des Präsidentenamts wurde am 23. Oktober auch über 24 der 72 Senatsmitglieder und 130 der 257 Parlamentsabgeordneten abgestimmt. Gemeinsam mit ihren Verbündeten würde die Regierungspartei FPV ab Ende des Jahres mit 135 Abgeordneten wieder die Mehrheit im Parlament stellen. Diese hatte sie nach der Schlappe bei den Regionalwahlen 2009 verloren. Im Senat steigerte sich die Regierung mit ihren Verbündeten von 37 auf 38 Sitze.
Von einem »Durchregieren« oder gar einem „Superautoritarismus“, wie ihn die Opposition vor den Abstimmungen heraufbeschwörte, kann jedoch nicht die Rede sein. »Man muss zwischen der Politik der Regierung und den Kräften unterscheiden, die sie unterstützen«, meint Sebastián Etchemendy in der spanischen Tageszeitung El País. Der Politikwissenschaftler der Universidad Torcuato Di Tella in Buenos Aires verweist darauf, dass das Regierungsbündnis weitaus heterogener ist, als es den Anschein hat. Maßnahmen wie die Verstaatlichung der Rentensysteme, die massiven Lohnsteigerungen, das neue Mediengesetz oder das im Juli 2010 aufgehobene Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen würden bei weitem nicht von allen Koalitionspartnern unterstützt.
So etwas wie einen Koalitionsvertrag gibt es nicht. In der Pipeline stehen unter anderem ein Gesetz zur Beschränkung des privaten Bodenbesitzes und mehrere Reformen der Subventionen für Unternehmen. Ob es allerdings zu einer neuen Anlauf kommen wird, den Einfluss und die Renditen des Sojasektors zu beschränken, kann gerade niemand sagen. Beim letzten Versuch 2008 ging die Regierung mit Pauken und Trompeten unter.

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