„Viele Gemeinden wurden bereits zerstört“
Interview mit Dom Luiz Cappio zur Situation am Rio São Francisco
Dom Cappio, wie ist die aktuelle Situation am Rio São Francisco? Anfang Dezember erhielt die LN-Redaktion ein Foto (siehe S. 17) von einem der neugebauten Kanäle, dessen Betonbett bereits geborsten war.
Aktuell ruhen die Bauarbeiten vollständig. Ja, es geht sogar darüber hinaus: die offenen Kanäle, die bereits fertiggestellt wurden, werden von dem extremen Klima im Sertão wieder zerstört, weil sich niemand um sie kümmert. Vielleicht passiert das nicht überall, wo gebaut wird, aber in großem Ausmaß. Wir haben viele Fotografien, die dies beweisen und die wir auch öffentlich machen.
Wirklich schlimm an der Situation ist, dass bereits viele Gemeinden zerstört wurden. Viele Menschen, die in der Region lebten, mussten ihr Land verlassen und wurden nicht dafür entschädigt. Das schafft einen wirklich großen Konflikt dort, wo die Baumaßnahmen schon durchgeführt wurden. Denn in dem Maße wie die Arbeiten voranschreiten, werden auch ihre Folgen immer deutlicher. Es gab so eine schöne Propaganda für die Umleitung des Rio São Francisco: Tausende und Abertausende sollten von ihr profitieren und Zugang zu Wasser erhalten. Aber es ist genau das Gegenteil passiert. Und nach und nach wird es die Bevölkerung auch spüren. Auch diejenigen, die die Umleitung bisher noch verteidigten, weil sie der schönen Regierungspropaganda glaubten.
Was ist der Grund für den Stillstand der Baumaßnahmen?
Das Motiv für die Umleitung des Rio São Francisco war die Beschaffung von Geld für die Wahlen. Das ist der Regierung gelungen. Sie hat viel Geld erhalten und wurde gewählt. Danach wurden die Arbeiten gestoppt. Ich glaube, dass der Fortgang der Baumaßnahmen wirklich sehr viel mit den Wahlen zu tun hat! Jetzt, nachdem die Regierung die Wahlen gewonnen hat, hat sie kein Interesse mehr daran, den Bau fortzusetzen. Und so sind die Baumaßnahmen im Augenblick vollständig eingestellt.
Hinzu kommt, wie die Präsidentin kürzlich mitteilte, dass im Moment keine Mittel für die Umleitung des Rio São Francisco zur Verfügung stehen, weil alle Ressourcen für die Schaffung der Infrastruktur der WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 eingesetzt werden sollen. Also für Stadien, Straßen und Flughäfen.
Wie ließ sich denn aus den Baumaßnahmen für die Umleitung des Rio São Francisco Geld für den Wahlkampf beschaffen?
Das ist ein sehr trauriger Fall von Korruption. Wenn eine Firma einen Auftrag für die Flussumleitung ausführte, dann wurden schon im Kostenvoranschlag die Zahlungen für die Politiker miteingerechnet. Dies passiert aber nicht nur am Rio São Francisco, sondern auch bei vielen anderen Baumaßnahmen, aus denen Geld an Korrupte fließt.
Ursprünglich wurden für die Umleitung des Rio São Francisco 3,5 Milliarden Reais veranschlagt, also rund 1,5 Milliarden Euro. Bereits jetzt wurden 1,8 Milliarden Reais zusätzlich ausgegeben. Allgemein wird davon gesprochen, dass es noch einmal 36 Prozent teurer werden soll. Ist das realistisch?
Diese Beträge, über die wir hier sprechen, beziehen sich nur auf die erste Phase der Baumaßnahmen. Wir haben Informationen, dass bis zum Abschluss der Arbeiten – falls sie jemals abgeschlossen werden sollten – insgesamt 20 Milliarden Reais ausgegeben werden. Denn außer den Geldern, die durch Korruption verschwinden, werden noch zusätzliche Mittel benötigt, um das zu reparieren, was im Moment verfällt. Die Baumaßnahmen wieder aufzunehmen, das wird sehr teuer werden.
Aber hat die Regierung nicht vor Baubeginn sogar garantiert, dass das Projekt nicht teurer als 5 Milliarden Reais werde?
Überlegen Sie mal: es gab ja bereits eine Steigerung der Ausgaben. Diese Summen verdienen nicht viel Vertrauen, denn ständig wird mit unterschiedlichen Beträgen operiert. Wir haben Analysen von seriösen Gutachtern mit großem Verantwortungsbewusstsein eingeholt, die alle zu dem Ergebnis kommen, dass die Baumaßnahmen sehr viel teurer werden als die Regierung behauptet.
Wie ist die Situation der sozialen Bewegungen, die sich gegen die Umleitung des Rio São Francisco engagieren?
Die gesamte Zivilgesellschaft ist gegen die transposição, die Universitäten, die Nichtregierungsorganisationen, die indigenen Gemeinden, die Basisorganisationen, die katholische Kirche, mehrere ökumenische Kirchen, alle haben eine Position gegen die Flussumleitung eingenommen. Genauso wie wir aktuell gemeinsam gegen den Bau des Wasserkraftwerks Belo Monte protestieren. Von der Regierung haben wir immer einen Dialog gefordert. Wir finden, dass ein Projekt von solchen Dimensionen, das so viele staatliche Mittel verbraucht, mit der Zivilgesellschaft diskutiert werden sollte, insbesondere mit der Bevölkerung, die von dem Projekt betroffen ist. Aber leider hat dies niemals stattgefunden. Nicht in Bezug auf die transposicão, nicht in Bezug auf Belo Monte und nicht in Bezug auf den Código Florestal (Waldgesetz, siehe LN 451, Anm. d. Red), der in dieser Woche durch den Senat ging.
Diese großen Projekte, die sehr komplexe soziale und ökologische Fragen aufwerfen, werden unglücklicherweise nicht mit der brasilianischen Gesellschaft diskutiert. Die Entscheidungen über sie werden im Kabinett getroffen, vorbereitet von den Lobbyorganisationen der Konzerne, die an den ganz großen Gewinnen interessiert sind. Und auch wenn wir noch so sehr dagegen sind – und der Widerstand gegen die transposição hält an – so wird doch unserer Kritik in keiner Weise Gehör geschenkt oder darauf eingegangen.
Ist die internationale Unterstützung gegen die Umleitung des Flusses heute noch wichtig für die sozialen Bewegungen am São Francisco?
Weil wir bei unserer Regierung kein Gehör finden, zählen wir besonders auf die internationale Unterstützung für unseren Widerstand. Wenn die internationale Presse, wenn die Bevölkerung außerhalb Brasiliens gegen diese Großprojekte protestiert, dann hat das einen Einfluss auf die nationale Politik. Um ein ganz konkretes Beispiel zu nennen: während meines zweiten Hungerstreiks verbot die Regierung den nationalen Medien darüber zu berichten. Das war eine Weisung der Regierung. Aber durch den internationalen Druck, die internationale Berichterstattung und das Internet sah sich die Regierung gezwungen, auf die Situation zu reagieren und danach berichteten auch die brasilianischen Medien darüber.
Kasten1: Dom Luiz Flavio Cappio
ist Franziskaner und seit 1997 Bischof der Diözese Barra am Mittellauf des Rio São Francisco im Nordosten Brasiliens. Die Diözese ist so groß wie die Schweiz, in ihr leben rund 250.000 Menschen. Dom Cappio engagiert sich bereits seit 1992 für den Fluss und die Menschen, die an und von ihm leben. International bekannt wurde er durch seinen Widerstand gegen die Umleitung des Rio São Francisco, gegen die er zweimal in Hungerstreik trat. Das Interview fand während seiner Deutschlandreise mit Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche, statt.
Kasten2: Rio São Francisco
Der „alte Chico“, wie der São Francisco-Fluss liebevoll von der Bevölkerung genannt wird, ist mit seinen 3.199 Kilometern Länge nur knapp halb so lang wie der Amazonas, doch nicht weniger wichtig. Im trockenen Nordosten hat er als einziger Strom eine immense ökonomische, ökologische, soziale und mythologische Bedeutung. Er speist drei Stauseen, betreibt zwei Wasserkraftwerke und fließt durch fünf Bundesstaaten. 2007 entzündete sich an ihm der bis dahin größte Konflikt zwischen den sozialen Bewegungen und der Regierung Lula, als diese beschloss die sogenannte transposicão (auf Deutsch in etwa Umleitung) durchzusetzen, obwohl die ökologischen und sozialen Folgen nicht absehbar waren. Die transposicão besteht im Wesentlichen aus dem Bau von Kanalsystemen, die das Wasser in andere Regionen führen als bislang der Fluss. Dabei ist nicht die Wasserversorgung der unter Wasserknappheit leidenden Bevölkerung das Ziel, sondern die Nutzung des kostbaren Guts durch Agro- und Großindustrie, wie sich an der Führung der Kanäle ablesen lässt.