VOM „GEWONNENEN“ ZUM „VERLORENEN“ JAHRZEHNT
Lenín lässt an der Correa-Ära kein gutes Haar
Auch aus Belgien bewegt Rafael Correa Ecuador. Gegen den Ex-Präsidenten wurde eine 14-tägige Meldepflicht verhängt, die Correa vor dem obersten Gericht in Ecuadors Hauptstadt Quito erfüllen müsste. Damit dreht sich der Fall „Balda“ weiter. Am 2. Juli hatte die Juristin Daniela Camacho, Richterin der Generalstaatsanwaltschaft Ecuadors den Beschluss gefasst, Correa in den Fall „Balda“ miteinzubeziehen. Bei diesem Fall handelt es sich um den Entführungsversuch des damaligen Parlamentsmitglieds Fernando Balda von der oppositionellen Partido Sociedad Patriótica in Bogotá im Jahr 2012. Balda hatte sich nach Kolumbien abgesetzt, nachdem er wegen angeblicher Falschaussagen gegen die Regierung zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Der Entführungsversuch schlug fehl, Balda wurde offiziell nach Ecuador ausgeliefert, um eine Haftstrafe von einem Jahr wegen öffentlicher Verleumdung der Regierung abzusitzen. Balda beschuldigt den Ex-Präsidenten, als Drahtzieher an seiner kurzzeitigen Entführung mitgewirkt zu haben.
Am 3. Juli hätte Correa vor dem Gericht in Quito erscheinen sollen. Stattdessen ließ er jedoch vor dem ecuadorianischen Konsulat in Brüssel sein Erscheinen protokollieren, da er dort seit einem Jahr mit seiner Familie wohnhaft ist – seine Frau ist Belgierin. Noch am gleichen Tag wurde in Quito ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Hinsichtlich des Haftbefehls von Interpol hat im Fall von Rafael Correa die belgische Regierung das letzte Wort. Sollte der Haftbefehl von Interpol vollstreckt werden, stünde Correa die unmittelbare Auslieferung nach Ecuador und eine Inhaftierung dort bevor.
Die Verwicklung Correas in den Prozess folgt einer generellen Tendenz in Ecuador – der Delegitimierung der Ära Correa trotz unbestrittener Erfolge im Kampf gegen Armut und Ungleichheit. Nachdem der aktuelle Präsident, Lenín Moreno, mit dem Versprechen einer Kontinuität des politischen Projekts seines Vorgängers und politischen Mentors, Rafael Correa, das Präsidentschaftsamt im April 2017 gewann, distanzierte sich die neue Regierung von ihrer Vorgängerin. Mittels einer Volksabstimmung gelang Moreno Anfang dieses Jahres ein bedeutender politischer Sieg: Er konnte seinem Vorgänger für die Zukunft die Möglichkeit eines erneuten Mandats per Verfassungsdekret endgültig verbieten.
Nach einem Jahr Regierungszeit Lenín Morenos steht nun endgültig außer Frage, dass dieser das vorherige Regierungsprojekt aufgegeben hat, für das er von der Bevölkerung explizit ein Mandat erhalten hatte. Seine Regierung zu verantworten, dass erneut mit den wirtschaftlichen Eliten paktiert wird. Einige Entscheidungen des Ministerkabinetts, vor allem die jüngste Ernennung des ehemaligen Präsidenten der ecuadorianischen Handelskammer, Richard Martínez, zum neuen Wirtschaftsminister und die Verabschiedung des „Gesetzes zur Förderung von Produktion und Investitionen, Schaffung von Arbeitsplätzen und steuerlicher Stabilität“ sind ein deutliches Indiz für die wirtschaftspolitisch neoliberale Ausrichtung der Regierung. Die Regierung möchte damit ein Zeichen gegenüber internationalen Investor*innen setzen und Ecuador ein neues Image als investor*innenfreundliches Land verpassen. Demnach soll Ecuador zum Beispiel in Zukunft, wie im Falle der Europäischen Union beim Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA), vor internationalen Gerichtshöfen von gerade diesen Investor*innen bei Streitigkeiten verklagt werden können. Generell scheint sich die Staatslogik auf allen Ebenen zu ändern. Die allmähliche Externalisierung von Staatskompetenzen, sowohl auf der lokalen wie nationalen Ebene, deutet darauf hin, dass staatliche Ausgaben und Programme systematisch gekürzt, ausgelagert und privatisiert werden.
Der kürzliche Besuch des Vizepräsidenten der USA, Mike Pence, in Quito lässt viele vermuten, dass womöglich vor Jahresende ein Handelsabkommen zwischen Ecuador und den USA unterzeichnet wird. Pence begab sich außerdem auf die Suche nach regionaler Unterstützung für das Bestreben seiner Regierung, Venezuela international zu isolieren. Weiterhin wurden nach den jüngsten Ereignissen an der Grenze zu Kolumbien, bei denen abgespaltene Fraktionen der FARC-Guerilla mehrere Personen auf ecuadorianischen Boden entführt und dort ermordet haben, bereits Sicherheitsabkommen in Grenzschutz und Kampf gegen transnationale kriminelle Organisationen unterzeichnet. Generell ist eine weitgehende Liberalisierung der Wirtschaft und eine zunehmende Öffnung der Politik und deren Unterordnung unter die Interessen der USA und der wirtschaftlichen Eliten des Landes festzustellen. Von Analyst*innen wird vermutet, dass diese Strategie in einen baldigen Kreditantrag beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einhergehen könnte, wie es zuletzt die neoliberale Regierung Macri in Argentinien vormachte.
In Lateinamerika gewinnen Meinungen Raum, welche nach einer Reihe von Wahlerfolgen der konservativen politischen Kräfte ein „Ende einer Epoche“ progressiver Regierungen ausmachen. Der jüngste Wahlerfolg López Obradors in Mexiko läuft dieser These jedoch zuwider. Dennoch ist vermehrt zu beobachten, dass linke politische Projekte oftmals entweder erschöpft erscheinen, oder aber durch Korruptionsermittlungen rund um die brasilianische Baufirma Odebrecht in Misskredit gezogen werden. Das spiegelt sich auch in Ecuador wider: Dort wurde Morenos damaliger Vizepräsident, Jorge Glas, zuerst des Amtes enthoben und dann zu sechs Jahren Haft verurteilt. Hinzu kommen wiederholte Versuche von Akteur*innen, die der aktuellen Regierung nahe stehen oder sogar Teil von ihr sind, Correa juristisch zu belangen. Correa selbst bezeichnet diese Versuche als lawfare, eine angebliche Strategie der politischen Verfolgung linker Politiker*innen mit juristischen Mitteln. Die jüngsten Ereignisse an der Grenze zu Kolumbien veranschaulichen, auf welche Weise die Regierung Morenos mit Unterstützung der Medien versucht, Correa für etliche Missstände zur Verantwortung zu ziehen. Dabei ist diese fast schon obsessive Haltung gegenüber der Vorgängerregierung genau das Merkmal, welches die Identität der Regierung Morenos definiert und aus welchem sie ihr größtes politisches Kapital schöpft. Die aktuelle Regierung hat es erfolgreich geschafft, die década ganada, also das „gewonnene Jahrzehnt“ – eine Bezeichnung Correas und seiner Anhänger*innen für seine Amtszeit – als década perdida, also verlorenes Jahrzehnt, umzudeuten. Grund dafür könnte unter anderem ihr Versuch sein, die Erinnerung an die eigene Mitwirkung unter Correa in dem kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft verblassen zu lassen.
Der Logik des verlorenen Jahrzehnts folgend zeichneten sich die vergangenen zehn Jahre angeblich dadurch aus, dass Misswirtschaft, Korruption und Überschuldung an der Tagesordnung waren; andere Staatsorgane und -befugnisse der Exekutiven untergeordnet, sich angeeignet und instrumentalisiert wurden, systematische Verfolgung an der Opposition betrieben wurde und eine generelle Kultur der Straflosigkeit herrschte. Dieses Bild möchte die Regierung nun mit einer Entführung schmücken und es ein „Staatsverbrechen“ nennen. Nachdem Correa nun durch das Referendum alle Möglichkeiten einer Wiederwahl genommen wurden, wird jetzt eine mögliche Verurteilung im Entführungsfall Baldas angestrebt. Diese Logik stimmt mit der Distanzierungsstrategie der aktuellen Regierung überein, die ihr eigenes Profil stärken soll und sich immer mehr als ein eigenes, unabhängiges Projekt zu definieren versucht.
Die Frage steht im Raum, weshalb der Fall „Balda“ überhaupt erst jetzt in Ecuador verhandelt wird, wo Balda schon 2013 eine Anzeige wegen des Vorfalls stellte. Außerdem sind bis dato keinerlei stichhaltigen Beweise vorgelegt worden, die auf Correas Verwicklung in den Fall hindeuten. Es scheint äußerst unwahrscheinlich, dass eine angeblich „vom Präsidenten höchstpersönlich“ angeordnete Entführung mit direkt aus dem Präsidentenbüro ausgestellten Schecks mit dem Titel „Operation Entführung“ finanziert wurde, wie von der Anklage behauptet wird. Jedenfalls ist unbestreitbar, dass Correa ein Jahr nach Regierungswechsel immer noch die öffentliche Debatte in Ecuador bestimmt.