Nummer 368 - Februar 2005 | Sachbuch

Von der Favela zum Stadtviertel

Die Verantwortlichen der Favela-Aufwertungsprogramme beschreiben ihre Arbeit

FavelaMetropolis, in der Reihe Bauwelt-Fundamente erschienen, wendet sich vor allem an die Urbanisten und StadtforscherInnen, deren Interesse an den „wilden Siedlungen“ des Trikont erwacht ist. Auch in dieser Hinsicht hat das „größte Land der Welt“ (so die BrasilianerInnen) einiges zu bieten. Denn im heutigen Brasilien wird die Politik des Abrisses der städtischen Armensiedlungen durch eine Politik der Anerkennung und subventionierten Konsolidierung ersetzt. Wie die progressive Neugestaltung und der Umgang mit den Quartieren aber im Einzelnen vor sich geht, erweckt in Europa die Neugier der PlanerInnen. Eine Neugier, die das Buch von Elisabeth Blum und Peter Neitzke befriedigen kann.

Alexander Jachnow

Was vorher eher nur für Nischen in der Sozialforschung und Entwicklungspolitik interessant war, erfreut sich zunehmender Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Disziplinen. Favela-Imitationen sind Eventkunst und das Thema hat sogar im Theater Einzug gehalten. Naheliegenderweise haben die ebenso prekären wie komplexen Siedlungen auch viel für Architekten und Stadtplaner zu bieten.
Aufwertungsprogramme sind nicht mehr reine Funktionallösungen der Stadtplanung oder zivilgesellschaftlich getragene soziale Experimente, sondern inzwischen soweit zu Prestigeprojekten für die Ausgeschlossenen avanciert, dass sie einen architektonisch-gestalterischen Anspruch erheben können. Die Harvardauszeichnung für den federführenden Architekten des Favela/Bairro-Programms, Jorge Jáuregui, belegt dies und gab Anstoß für das vorliegende Buch.
Ergebnis einer längeren Recherchearbeit der beiden Herausgeber, führt es die verschiedenen Blickwinkel von durchweg involvierten Fachleuten vor. So entsteht ein recht umfassendes Bild der Versuche, Favelas in Rio und São Paulo aufzuwerten und in die Gesamtstadt zu integrieren.
Zwischen die Texte und Interviews, die teils bereits im Juni 2002 geführt wurden, sind Kurzdarstellungen gestreut, die den Hintergrund des Bildes beleuchten: eine Beschreibung des neuen brasilianischen Stadtstatuts, eine Zusammenfassung der diversen Programme und Projekte in Rio, Überblicke über durchgeführte Eingriffe in Favelas.
Alle Texte beziehen sich auf Rio de Janeiro oder São Paulo, also auf die beiden größten Metropolen des Landes. Somit ist der Titel in seiner Umkehrung die Benennung seines Bezugsrahmens: Metropolen-Favelas. Diese dichten, meist zentral gelegenen, unmittelbar an die formelle Stadt angrenzenden Siedlungen sind Gegenstand aller Beiträge. Das verwundert nicht, denn gerade sie stellen stadtplanerisch, organisatorisch und rechtlich die größten Anforderungen an umfassende Lösungen und bieten zugleich auch ein reizvolles Experimentierfeld für PlanerInnen und ArchitektInnen. Die Fachleute, die in dem Buch zu Wort kommen, bestätigen dies. So ist es auch die Ästhetik, die bei der Darstellung der Projekte ein besonderes Augenmerk bekommt, obwohl sie gemeinhin das Stiefkind von Aufwertungsprojekten ist.
Bei den verschiedenen Betrachtungen der Favelas konzentrieren sich die Autoren zwar auf die planerischen
Interventionen, lassen aber noch genug Raum für soziokulturelle und philosophische An- und Einsichten, die immer wieder fast beiläufig in den Interviews (her)vorkommen.

Auch für Laien verständlich

Kein Text hält sich unnötig mit Statistiken und Zahlen auf und es ist den Herausgebern zu danken, dass sie auf die Ausbreitung von demographischen Daten weitgehend verzichtet haben. Zum Verständnis der Problematik reicht es, zu wissen, dass das zu den zehn führenden Wirtschaftsmächten zählende Brasilien über sechs Millionen Menschen in Favelas verbannt.
Was man von Rios Entwicklung wissen muss, um das Favela-Phänomen räumlich zu verstehen, wird graphisch und in einem einleitenden Text über Favela/Bairro zusammengefasst. Die Auswertung eines der größten und ehrgeizigsten Projekte zur Verwandlung von unterversorgten Favelas in funktionierende Stadtviertel ist präzise, wenn auch nicht übermäßig kritisch.
Alle Fachleute, die zu Wort kommen, stellen Projekte dar, an denen sie beteiligt waren. Da in den Interviews nicht immer skeptisch nachgefragt wird, bleibt der Blick auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung, wie zum Beispiel die tatsächliche Beteiligung der Bevölkerung an der Planung, etwas verstellt.
Dafür bekommt der Leser eloquente Berichte aus erster Hand. Und Fragen nach der persönlichen Vita von zwei der zentralen Figuren der Favela-Aufwertung in Rio bringen die menschliche Motivation hinter den Programmen zum Vorschein. Neben dem Architekten Jáuregui ist es besonders das Gespräch mit Maria Lúcia Petersen, das die Arbeit mit den favelados sehr nahe bringt.
Vor allem wird deutlich, wie sehr die favelados Teil der Stadt sind und deshalb aktiv an der Planung und Entwicklung beteiligt sein sollten. Auch im Gespräch mit der Selbstverwaltung von Heliópolis, São Paulos größter Favela, zeigen sich Präsident und Verwaltungsmitglieder versiert und offensichtlich in genauer Kenntnis ihrer Rechte, können Handlungsmotivationen der favelados und komplexe Zusammenhänge leicht erklären.

Bereicherung trotz Ärgernis

Einziges Manko des Buchs ist der journalistische Beitrag von Klaus Hart, der offensichtlich die Beschreibung des Alltaglebens zum Thema haben sollte. Doch statt den Alltag der Menschen zu beschreiben, wird Sex an Crime gereiht, unter Überschriften wie „Fragwürdige Pseudofreudigkeit“ und „Das ‚Gesetz des Schweigens’ gilt auch für Journalisten“. Schade, dass das nicht stimmt. Eine Leseprobe: „Manche weibliche Drogendealer verkaufen nur denen Kokain, Heroin, Haschisch, die auch mit Ihnen schliefen. Es sind Fälle bekannt, bei denen Banditinnen Männer mit der Waffe in der Hand zum Geschlechtsverkehr zwangen, das ganze Wochenende über.“ Weil sie am Montag wieder zur Arbeit mussten? Die DrogendealerInnen?
Wenn gewisse Medien über Neukölln schreiben, klingt es ähnlich: Dealer, Räuberbräute, Gangs und Gräueltaten. Wahr ist das alles, aber ist das alles? Hier wird nun schriftlich die nicht kriminelle Bevölkerungsmehrheit der Favelas vernachlässigt und marginalisiert. Falls es eine Wende in der Favela-Politik geben sollte: dieser Beitrag könnte als Begründung für eine Kriegserklärung dienen. Nach dem Motto: lieber alles vernichten, als weiterhin weinenden Auges mit ansehen zu müssen, wie schrecklich das Leben dort ist.

Hart ignorieren

Ignoriert man aber diesen allerletzten Beitrag, so stellt das Buch eine Bereicherung für die deutschsprachige Fachwelt und Interessierte dar, die eine Fülle von Eindrücken für einen guten Einstieg in die Thematik bekommen. Andere Bücher, wie zum Beispiel die ebenso im letzten Jahr erschienene Arbeit von Paula dos Santos „Neue Instrumente der Stadtplanung in Brasilien – Das Ende der Illegalen Stadt?“, können rechtliche und soziale Fragen noch eingehender beantworten. Die Auseinandersetzung lohnt sich, frei nach dem Schlusssatz von Marlene Fernandes: „ … Politiker, Architekten, Hochschullehrer, NGOs und Betroffenenvertreter sind der Auffassung, dass die internationale Gemeinschaft die brasilianischen Erfahrungen besser kennen müsste, um sie schätzen zu können.“

Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.): FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo, Birkhäuser/Bauverlag, 2004.

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