Argentinien | Nummer 336 - Juni 2002

Vorerst keine Alternativen in Sicht

Über den mühsamen Weg, die argentinischen Basisbewegungen wieder aufzubauen

Karina Ferraris, eine der Vorsitzenden der Gewerkschaftsjugend der CTA (Central de los Trabajadores Argentinos), analysiert im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten die Rolle der Gewerkschaften in der aktuellen politischen Krise und beharrt auf der Notwendigkeit, eine Bewegung zu schaffen, welche die vielfältigen neuen und alten Formen des Volkswiderstands vereinigt.

Timo Berger

Was ist deine Funktion in der Jugend der CTA (des Gewerkschaftdachverbandes „Zentrale der argentinischen Arbeiter“) und wie ist deren Verhältnis zur Führung der CTA?

Ich bin die nationale Leiterin des Bereichs „Gender und Chancengleichheit“ in der Jugend der CTA. Wir kämpfen für Autonomie und Unabhängigkeit unserer Politik innerhalb des Dachverbandes. Eines unserer Themen ist die Situation der Jugendlichen heutzutage, von denen sehr viele arbeitslos und von den staatlichen Bildungssystemen ausgeschlossen sind. Heutzutage studieren und arbeiten die meisten Jugendlichen nicht, sie organisieren sich nicht in Gewerkschaften, so dass unsere Arbeit die Bereiche Menschenrechte, Studenten- und Schülerbewegungen, Genderfragen erfasst, also vielfältige Aufgaben, die die Probleme der Jugend in ihrer Gesamtheit in Angriff nehmen und nicht allein aus einer gewerkschaftlichen Perspektive. Gleichzeitig sind wir der solidarische, rebellische und kämpferische Arm der CTA. Zum Beispiel haben wir am 1. Mai Demonstrationen vor den McDonald’s Filialen in Buenos Aires organisiert, um die prekären Anstellungssituation der – meist jugendlichen – Beschäftigten anzuprangern. Am offiziellen Akt der CTA beteiligten wir uns auch, aber darüber hinaus ergreifen wir Initiativen, die sich direkt mit der Situation der Jugendlichen auseinandersetzen.

Wenn die CGTs (siehe Kasten) die Politik der peronistischen Partei unterstützen, so war es in den letzten Jahren die CTA, die dem progressiven Sektor der ehemals regierenden Allianz nahe stand. Wie hat sich die Politik der CTA nach dem Rücktritt De la Rúas geändert?

Wir als Jugend waren aktive Protagonisten der Konfrontation mit der Polizei in den Straßen am 19. und 20. Dezember. Wenn jemand auf der Straße gekämpft hat, dann war es die Jugendbewegung: Die Jugendlichen aus den Stadtvierteln, der Universität und den Gewerkschaften, die zusammen mit den Motoqueros (motorisierte Boten) auf einen Schlag in Erscheinung traten.

Warum war die Jugend der CTA an den beiden Tagen auf der Straße und ihr Dachverband nicht? Auch die Piqueteros (Arbeitslosenvereinigungen), die in der FTV (Federación Tierra y Vivienda – Vereinigung für Land und Wohnung) unter D’Élia organisiert sind, haben ja einen ursprünglichen Demonstrationsaufruf für den 20. Dezember 2001 in letzter Minute zurückgezogen. Wurde da nicht doch versucht, ein überkommenes System zu unterstützen?

Ich würde nicht von unterstützen reden. Ich glaube, dass die Führung der CTA nicht wusste, was sie tun sollte, während wir, die Jugendlichen, keinerlei Zweifel hatten: Wenn die Leute auf den Straßen waren, dann hatten wir auch dort zu sein. Die Bewegung der Piqueteros hatte das ganze Jahr über bewiesen, dass sie sich auf Konfrontationen mit der Regierung einließ. Angesichts des Debakels der Regierung, waren sie aber unschlüssig.

Welche Beziehung besteht zwischen den Piqueteros und der CTA?

Die FTV der CTA vereint eine Vielzahl von Organisationen, die sich um die Belange der Arbeitslosen und der MieterInnen kümmern. Die FTV hat in den Jahren 2000/01 erfolgreich Straßen gesperrt. Man kann sagen, dass die Piqueteros Teil der FTV sind und die FTV Teil der Bewegung der Piqueteros.

Wie erklärt sich dann, dass es Piquetero-Organisationen gibt, die nicht mit der FTV zusammen arbeiten, sondern deren Führung für ihre Absprachen mit der Regierung Duhalde hart kritisieren?

Wenn man an Argentinien denkt, kann man das nicht tun, ohne an eine Linke zu denken, die in sich völlig gespalten und zerstritten ist. Du beziehst dich auf den Bloque Piquetero Nacional (Nationaler Piquetero-Block), der sich aus der Arbeiterpartei, der kommunistischen Partei und anderen, wie der MAV (Movimiento Aníbal Verón – Bewegung Aníbal Verón) zusammensetzt . Diese kritisieren die FTV. Aber auf der Basis des Sektierertums wird man nichts aufbauen können. Sie haben sich abgespalten, statt eine Basis für eine gemeinsame Politik mit aufzubauen.

Trotzdem ist unübersehbar, dass auch von Seiten der FTV keine Einheit der Bewegung gesucht wird. Die FTV, die inwischen von Duhalde heftig umworben wird, scheint ihre Kampfbereitschaft reduziert zu haben und lässt sich auf Gespräche mit der Regierung ein.

Die CTA nimmt nicht am Runden Tisch teil, den Duhalde einberufen hat.

Aber D’Élia war bei den ganzen Verhandlungen zur Arbeitslosenunterstützung dabei und seine Organisation, die FTV, sitzt jetzt in dem Gremium, das über die Verteilung der Hilfsgelder entscheidet.

Ich bin damit auch nicht einverstanden.

Was muss deiner Vorstellung nach getan werden?

Es ist notwendig, eine einheitliche Organisation aufzubauen, die den ganzen Bereich der Basisbewegungen umfasst und es ermöglicht, die verschiedenen Ebenen des Kampfes zusammenzuführen. Ich glaube, Duhalde muss abgesetzt werden. Duhalde ist kein Präsident, der eine Politik für die ArgentinierInnen macht. Es bestehen keine Entwicklungschancen, wenn Argentinien weiterhin vom IWF abhängig bleibt. Das ist das einzige, was Duhalde garantiert. Wenn die Basisbewegungen heute über keine einheitliche Organisation verfügen, ist es absolut notwendig, eine solche zu schaffen, damit der Widerstand stärker und schlagkräftiger wird. Argentinien befindet sich in einem Prozess der Zersplitterung: Es gibt einen sozialen Konflikt und eine Unmenge von Institutionen, die als Bezugspunkte dienen: die CGTs, die CTA, Aníbal Verón, die Menschenrechtsorganisationen, etc. Aber einen einzigen politischen Bezugspunkt, der all das zusammenfügt, um eine wirkliche Gegenmacht von unten aufzubauen, gibt es noch nicht.

War dann die Losung „Kochtopfdemonstrationen und Straßensperrungen sind Teil eines Kampfes“ nur rhethorisch?

Nein, diese Verbindung gibt es. Das Problem ist, dass es damit nicht ausreicht. Wenn in Argentinien vorzeitig Wahlen einberufen werden – was ich für sehr wahrscheinlich halte – dann wird es keine aus den Basisbewegungen hervorgegangene politische Organisation geben, weil es keine Partei, kein Bündnis gibt, dass daran denkt.

Von welchem Ort aus könnte man ein solches Bündnis heute in Argentinien aufbauen? Wer könnte mit hineingenommen werden, wer nicht?

Ich glaube, Argentinien findet in den nächsten fünf bis zehn Jahren keine Lösung für seine Probleme. Die Basisbewegungen, die seit der Militärdiktatur zerstört wurden, müssen wieder aufgebaut werden. In die aktuelle politische Führung des Landes setze ich keine Hoffnungen. Die neuartige Organisationsform der Asambleas (Volksversammlungen) in der Stadt und dem Großraum Buenos Aires hat AktivistInnen aus der heutigen Generation hervorgebracht, Personen, die daran interessiert sind, an den politischen Entscheidungen des Landes teilzuhaben. Der 1. Mai war ein so massives Ereignis, wie seit Jahren nicht mehr.

Trotzdem hat man von hier aus den Eindruck, dass die Beteiligung an den Asambleas, an den Demonstrationen und Protesten insgesamt abgenommen hat.

Die Asambleas zählen heute nicht mehr so viele TeilnehmerInnen. Sie fingen derart spontan an, dass sie so etwas wie Gruppentherapien darstellten. Der Park war unser Treffpunkt. Zweihundert, dreihundert Leute kamen und wurden erstmal ihren Kummer los. Das Wichtigste daran war, dass die Leute den öffentlichen Raum zurückgewannen. Davor hatten wir uns alle in unseren Häusern verkrochen. Heute haben die Asambleas hundert statt fünfhundert TeilnehmerInnen, aber diese hundert arbeiten in den Kommissionen: Gesundheit, Frauen und Arbeitsbeschaffung. Ich weiß nicht, wie sich diese Bewegung weiterentwickeln wird, aber es gibt eine Organisation und ein klares Bewusstsein darüber, wer die Verantwortlichen der momentanen Krise sind. Die offizielle Politik sorgt sich nur, doch noch zu einem Übereinkommen mit dem IWF zu kommen. Das Problem bleibt weiterhin, dass es von den Basisbewegungen aus keine wirkliche Handhabe gibt, die institutionelle Krise anzugehen. Heutzutage befinden wir uns in Argentinien nicht in einer revolutionären Etappe, wie viele vorschnell geschlussfolgert haben, sondern in einer Krise in allen Bereichen. Darüber hinaus fehlen Alternativen.

Auch von den Asambleas hört man ja in letzter Zeit nicht nur Gutes, viele TeilnehmerInnen beklagen sich, dass Parteikader inzwischen massiv versuchen, die Bewegung zu vereinnahmen.

Ja, die sektiererischen Parteien, von denen ich vorher gesprochen habe, haben die Strategie verfolgt, die Asambleas für sich zu vereinahmen, anstatt hinzugehen und am offenen Prozess teilzunehmen. Während die Leute die Angelegenheit von Grund auf neu konstruieren, bringen diese nur ihre alten Ideen und Forderungen zu den Asambleas. Das hat vor allem die Interbarrial in die Krise gestürzt. In den Stadtteilversammlungen wird diskutiert, was man mit den Aparatschicks machen soll. Ihre Art von Politik funktioniert nicht mehr, die Asambleas können zwar wachsen, so viel sie wollen, aber die Torte nehmen sich andere mit, sie streiten sich nur um die Krümel.

Interview und Übersetzung: Timo Berger

KASTEN:
Gewerkschaften in Argentinien

Argentinien hat eine lange Phase der Einheitsgewerkschaften, der CGT (Confederación General del Trabajo – Allgemeine Vereinigung der Arbeit), hinter sich. Juan Domingo Perón strukturierte die erste CGT in den 40er Jahren so um, dass sie seine Politik mittrug. Als die Militärs Perón 1945 absetzten, konnte die Mobilisierung der CGT einen solchen Druck auf die Junta ausüben, dass Perón in das Amt des Wohlfahrtsministers eingesetzt wurde. Während seiner beiden späteren Präsidenschaften baute er die Einheitsgewerkschaft zu einer wesentlichen Säule seiner Macht aus, die alle Gewerkschaften in sich vereinte und politisch einen der peronistischen Partei nahe stehenden Kurs verfolgte. Schließlich nahm Perón den ArbeiterInnen das Streikrecht. Die Einheit der CGT brach erst 1999, ein Jahr nachdem die Peronisten die Macht an die Allianz abgegeben hatten. Der radikale Flügel des Dachverbands um den Lastwagenfahrer Hugo Moyano, die so genannte CGT disidente, spaltete sich ab und erhebt den Alleinvertretungsanspruch der Interessen der ArbeiterInnen. Aufgrund der in der peronistischen Ideologie behaupteten Interessengemeinschaft von ArbeiterInnen, ArbeitgeberInnen und Staat unterstützt der größere Teil des Dachverbands, die so genannte CGT oficial, weiterhin die offizielle Politik .
Schon 1992, als Menem die Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells massiv vorantrieb, hatte sich ein neuer Gewerkschaftsdachverband gegründet, der die Privatisierungen ablehnte. Der neue Dachverband CTA (Central de los Trabajadores Argentinos) bestand anfangs nur aus der Gewerkschaft der Staatsangestellten und der der Lehrer und Dozenten, doch wuchs er innerhalb weniger Jahre zu einer schlagkräftigen Waffe der Arbeiterbewegung heran, insbesondere durch ihre Vernetzung mit den Arbeitslosenorganisationen der Piqueteros (Straßensperrer).
Heute gibt es ensprechend drei Dachverbände, die zwei CGTs (mit insgesamt 4 Mio. Mitgliedern) und die CTA (mit ca. 800.000 Mitgliedern). Im Unterschied zu den traditionellen Gewerkschaften kann jedeR ArbeiterIn und jedeR ArbeitsloseR der CTA beitreten, auch wenn die Gewerkschaft seines Berufstandes nicht der CTA angehört. Die CTA gliedert sich in verschiedene Kommissionen, wie Gesundheit, Bildung, Jugend, Federación Tierra y Vivienda (Vereinigung Land und Wohnung).
Timo Berger

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