Literatur | Nummer 273 - März 1997

“Wann hast du das letzte Mal gepinkelt, Großer Kojote?”

Roman über Wasserrechte und Identität im Südwesten der USA

“Cantinero!”, wandte sich Ben Chávez an den Barmixer. “Noch ein Glas für mich und meine Begleiterin. Tequila!” “Was für eine Begleiterin?” erwiderte der Barmixer mürrisch. “Ich sehe keine.” “Was weiß der denn schon”, ließ sich Doña Melancholia vernehmen, als sie mit großen Schritten die leere Bar durchmaß und neben Ben Platz nahm. (…) “Feierabend”, knurrte der Barmixer. (…) (Ben) stand auf und stolperte in der Dunkelheit zum Ausgang, dabei stieß er einen Stuhl um. Sie legte schützend den Arm um ihn, und eng umschlungen verließen sie den schalen Dunst der Bar und traten in die kühle, klare Nachtluft hinaus. Eine Straßenkehrmaschine rumpelte vorüber und wirbelte Bier, Blut und den Abfall der Nachtschwärmer in die Gosse. Hoch über ihm drehte sich das Firmament von Alburquerque. (…) Er stand allein auf dem Parkplatz.

Andreas Kühler

Da schimmert sie durch, die Verbindung zwischen Phantasie und Realismus. Leider gelingen Rudolfo Anaya in seinem Roman “Die Wasser des Río Grande” (das Original erschien 1992 unter dem Titel “Alburquerque”) erst im letzten Teil und viel zu vereinzelt solche schönen Passagen. Die Geschichte ist anfangs allzu durchsichtig. Die LeserInnen wissen zuviel, besonders das, wonach der Protagonist Abrán sucht. Er will seinen Vater finden, bringt dafür alle Mittel und Hebel in Bewegung. Immer ist er auf der Suche nach seiner Identität. Seine Mutter, eine Angloamerikanerin, lernt er erst kurz vor ihrem Tod kennen; wer sein leiblicher Vater ist, verschweigt sie ihm. Er wächst bei Adoptiveltern auf, diese sind mexikanisch-indianischer Herkunft, und wenn er sich selbst im Spiegel betrachtet, erforscht er seine eigene Abstammung. Nach und nach beleuchten neue Facetten die Szenerie, die Spannung steigt, es wird regelrecht dramatisch – bevor die Story, aus welchen Gründen auch immer, im völligen Kitsch endet. Das letzte Kapitel ist schlicht und einfach überflüssig.
Interessant an dem Buch ist zunächst einmal sein Autor. Anaya, Jahrgang 1937, ist emeritierter Professor für Englisch an der Universität von New Mexico. Er lebt in Albuquerque (sic!) – die “richtige” Schreibweise und die Gründe für die falsche erfahren wir im Roman – und hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten geschrieben, von denen allerdings nur zwei auf Deutsch erschienen sind. Neben dem vorliegenden erschien 1984 im Frankfurter Nexus-Verlag “Segne mich, Ultima” (Original 1972: Bless me, Ultima), die Geschichte einer Begegnung zwischen dem siebenjährigen Antonio und der Curandera Ultima. Anaya gilt als “Vater der Chicano-Literatur” in den USA. Dieter Herms stellt ihn in seiner Abhandlung über “Die zeitgenössische Literatur der Chicanos” in eine Reihe mit Rivera und Hinojosa. Er beschreibt Anaya zwar als einen der “Tres Grandes”, bemängelt allerdings anhand der Analyse von “Segne mich, Ultima” dessen folkloristische Sichtweise, die die alte indianische Vorstellung der Einheit von Mensch und Natur als Lösungskonzept für derzeitige Identitätsprobleme überstrapaziere. Diese Kritik läßt sich fast nahtlos auf den neuen Roman von Anaya übertragen. Auch hier wird als Ziel für die Identitätssuche die Rückbesinnung auf traditionelle indianische Werte und Lebensvorstellungen empfohlen.

“Sie knabberte sanft an seinem Ohr…

Um Curanderas, also weise, alte Frauen, die Menschen heilen, Geburtshilfe betreiben, böse Geister vertreiben und wahrsagen können, geht es auch in seinem neuen Roman. Sie stehen letztlich für die klare Priorität des Autors für die Tradition in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus und der Moderne. Darüberhinaus sind in dem Buch interessanterweise alle Frauen durchweg die stärkeren Charaktere, während sämtliche Männer entweder Identitätsprobleme haben oder Immobilienhaie sind – vielleicht auch etwas einfach gestrickt. Der Autor schreibt in Englisch, streut aber eine Vielzahl von mexikanischen Ausdrücken ein, die auch in der deutschen Fassung erhalten wurden. Ein weiteres bedeutsames Stilmittel bilden die Selbstgespräche.
Das große Thema ist, wie schon erwähnt, die Identitätsfindung der Chicanos. Bei der Suche nach seinem Vater gerät Abrán in den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt von Alburquerque. Ein weiterer Bewerber für das Amt, Frank Dominic, träumt davon, das Stadtzentrum zu einer Art zweiten Venedig zu machen, indem das Wasser des Río Grande umgeleitet wird. Dieses gigantische Bauvorhaben erinnert stark an den Film “Milagro” oder an die Kishon-Geschichte vom “Blaumilchkanal”; ein zweites Tenochtitlán – das präkolumbianische Mexiko-Stadt – soll entstehen. Sowohl linksliberale Umweltschützer als auch Konservative versuchen, das Projekt zu verhindern. Das Ganze mündet in einen spannenden, furiosen Boxkampf, der über zehn Runden geht, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

…und kroch in sein Herz”

Dabei hatte alles so harmlos mit einem Billardspiel begonnen. Die Männer lernen sich schon mal kennen, helfen einander aus. Wer weniger besoffen ist, fährt den anderen nach Hause. Überhaupt geht es in dem Buch oftmals um Duelle: beim Billard, Boxen, der Kandidatur ums Bürgermeisteramt – und letztlich auch bei der matanza, dem rituellen Schweineschlachten. Alt gegen jung und natürlich wieder Tradition gegen Moderne. Dabei bleibt Anaya den LeserInnen letztlich den Überlegenheitsbeweis der Tradition gegenüber der Moderne schuldig. “Wir werden sterben, und das alles wird vergehen”, sagt selbst einer der Alten und meint damit das Ende der überlieferten Sitten und Gebräuche. Trotzdem malte Cynthia, die Mutter Abráns, genau diese traditionellen Motive. Sie hielt den Zauber jener Augenblicke in der dörflichen Gemeinschaft fest. Hätte sie das unterlassen, wäre Abrán wohl nie zur inneren Ruhe und die Geschichte nicht zum Abschluß gelangt. In der Wirklichkeit hingegen ist der Prozeß der Identitätsfindung ungleich schwieriger als im Roman dargestellt.
Der Knaur-Verlag – sonst nicht gerade für die Beschäftigung mit mexikanischer bzw. Chicano-Literatur bekannt – reiht diesen Roman in eine “Ethno”-Reihe ein. “Grenzenlos lesen” sollen da die KäuferInnen. Für dieses Buch heißt das, es ist schnell zu lesen, leichte Bettlektüre. Dank des niedrigen Preises verkauft es sich wahrscheinlich nicht schlecht, und für EinsteigerInnen in die Chicano-Literatur halte ich es auch für geeignet. Diejenigen, die einen guten Roman über Identitätsfindung suchen, werden hingegen enttäuscht sein. Daß das dreiundzwanzigste Kapitel, das Letzte, ungenießbar ist, sagte ich schon.

Rudolfo Anaya: “Die Wasser des Río Grande”, Knaur-Verlag, München 1996, 425 Seiten, 14,-DM (ca. 8 Euro), ISBN: 3-426-60501-5.


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