Literatur | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

Ein Buch voller Lebensrealitäten

Namhafte Autor_innen Lateinamerikas dokumentieren in Verdammter Süden alltägliche Geschichten

Ina Wehr

Eine Jugendliche in einer Anstalt, deren Leben durch unvorhergesehene Ereignisse scheinbar aus den Bahnen geraten ist. Ihre Situation können wir durch die Autorin, die sie in der Pflegeeinrichtung besucht, miterleben. Wir sitzen der Jugendlichen gegenüber. Wir hören zu, was sie von ihrem Leben erzählt. Das ist die erste kleine Geschichte des Buches Verdammter Süden.
Der Sammelband ist ein Werk verschiedenster zeitgenössischer Autor_innen Lateinamerikas, die in journalistischer Manier Geschichten ihres Kontinents dokumentieren und dadurch eine lustige, komische, traurige, brutale und faszinierende Lektüre schaffen, die beim Lesen unterschiedlichste Emotionen auslösen. 17 kleine literarische Reportagen führen von Argentinien, Brasilien und Paraguay über Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama nach Mexiko und in die USA. Das Buch erzählt von selbstproduzierten Dorf-Telenovelas, von einem Liebesknast, einem Ort, in dem fast nur Zwillinge geboren werden, von Wrestlerinnen aus dem Hochland oder einer Insel in der Karibik, die eigentlich nur aus Müll besteht und durch den Müll der Bewohner_innen stetig wächst. Es wird von Kuriositäten berichtet wie vom letzten Totenwachenkomiker in Soledad, Kolumbien, der Menschen auf Beerdigungen zum Lachen bringt, oder über die vereinsamten Nilpferde Pablo Escobars, die nun statt im Nil im Río Magdalena leben. Es finden sich auch bedrückende Berichte von der Grenze Mexikos und dem Überlebenskampf migrierender Menschen in der Wüste zu den USA.
Es sind keine erfundenen Geschichten, die man zu lesen bekommt, sondern Reportagen, crónicas, die im Stil Kurzgeschichten ähneln. Der Titel „Verdammter Süden“ lässt jedoch nichts über die crónicas erahnen und noch weniger darüber, was die Lektüre tatsächlich zu bieten hat. Das „Verdammte“ am Süden oder am Sammelband erschließt sich nämlich nicht. Die Autor_innen brechen vielmehr mit Klischees und stereotypen Bildern. Durch die Beschreibung der einzelnen Personen und Hauptfiguren ihrer Reportagen führen sie uns an die Wirklichkeit heran und bringen uns individuelle Lebenslagen nahe. Dadurch werden gleichzeitig Einblicke in die jeweilige Gesellschaft und Umgebung freigelegt, in soziale Kontakte und Gebräuche, familiäre Konstellationen, politische Strukturen und Arbeitsfelder.
Die Herausgeberin Carmen Pinilla und der Herausgeber Franz Wegner fassen es passend zusammen: Man braucht Geschichten nicht zu erfinden – es reicht, sie zu entdecken. Sie geben Alltägliches wieder und verdeutlichen Lebensrealitäten, wo das Bizarre im Normalen liegt. Das Buch lädt ein, zum Lachen und Weinen, zum Eintauchen in die Welten vor Ort, es liest sich wie eine kleine Lateinamerika-Reise. Verdammt gutes Lesevergnügen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hg.) // Verdammter Süden. Das andere Amerika // Suhrkamp Verlag // Berlin 2014 // 315 Seiten // 20 Euro // www.suhrkamp.de

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