Literatur | Nummer 379 - Januar 2006

„Buenos Aires, als ich fern von dir war”

Die neunzehn Stufen zum argentinischen Mythos

Tomás Eloy Martínez setzt in seinem Roman „Der Tangosänger“ auf Buenos Aires, den Tango und Borges. Aus einer gewissen Distanz heraus kann der argentinische Schriftsteller die Mythen behandeln, denn er floh unter dem Regime Isabel Peróns 1975 ins Exil nach Venezuela und lebt heute in den USA.

Franziska Ostertag

Bruno Cadogan arbeitet in New York an seiner Dissertation über die Essays, die Jorge Luis Borges den Ursprüngen des Tangos gewidmet hat. Er hält es nicht für nötig, nach Buenos Aires zu fahren, um sich einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen, denn er denkt sich Buenos Aires als eine Stadt wie Kuala Lumpur, die sich tropisch und exotisch sowie unecht modern zugleich gibt. Als ihm eine Bekannte jedoch von Julio Martel berichtet, einem „außerordentlichen Typ, der uralte Tangos singt“, von denen er noch „nie auch nur eine einzige Strophe aufgenommen“ hat, bricht er auf.

Das Aleph

In Buenos Aires kommt er in einer kleinen Pension unter, die – welch Zufall – angeblich jenes Haus aus Borges‘ Erzählung ist, in dem die neunzehn Kellerstufen zum Aleph hinunterführen sollen. Die anfängliche Suche nach dem Aleph wird jedoch bald von der Jagd nach der wundervollen Stimme Martels durch eine Stadt abgelöst, die von Unruhen gebeutelt ist und für die es keinen gültigen Stadtplan zu geben scheint.
Seine Auftritte kündigt Martel nie an. Die Konzerte scheinen keiner durchschaubaren Ordnung zu folgen. Die Neugier, den Tangosänger einmal zu hören, wird so zu einer Manie, die Brunos Leben in Buenos Aires bestimmt.
Er begegnet Alcira, einer Bekannten Martels. Zu einem erhofften Treffen mit Martel kommt es jedoch nicht, da dieser bereits schwer erkrankt ist.
Brunos Verzweiflung steigt ins Unermessliche, und er wünscht sich das Aleph herbei, das das Universum in einer Kugel vereint, um Martel, Buenos Aires und seine Rätsel erfassen zu können.
Schließlich darf er dem Tangosänger kurz vor dessen Tod noch den ersehnten Besuch abstatten und so das Geheimnis seiner Auftritte entschlüsseln. Das Muster ihrer Reihenfolge zeichnet „keine alchimistische Figur auf dem Stadtplan von Buenos Aires (…), sondern es verfolgt dem Zufallsprinzip nach den Weg der ungesühnten Verbrechen, die in der Stadt begangen worden waren“. Die Orte, an denen Martel wie aus dem Nichts erscheinend auftritt, bilden eine „endlose Kette namenloser Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten“, denen der Tangosänger Erinnerung entgegen setzt. Opfern wie Violetta Miller, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die Fänge einer Zuhältermafia geriet, den Gefangenen der Diktatur in der Folterkammer des „Club Atlético“ und den dreißig streikenden Arbeitern, die 1919 durch die Polizei ermordet wurden, gibt er eine unvergessliche Stimme. Diese Schicksale sind die eindrücklichen Momente des Romans. Bruno und Martel bleiben eher blasse Erscheinungen.

Das Labyrinth

Zahllose Zitate aus Liedtexten, Gedichten, Filmen und Romanen sowie die Verknüpfung von historischen Tatsachen mit Imagination tragen zur Vielschichtigkeit des Romans bei. Vor dem Hintergrund der Unruhen im Jahr 2001 in Argentinien taucht der Roman in die Hauptstadt des mythischen und „ursprünglichen“ Tangos, aber auch in ihre teils düstere politische Vergangenheit ein.
Martínez beschreibt die Tiefen der Stadt als einen labyrinthischen Mikrokosmos, der die Menschen gefangen hält und deren Bewoh-nerInnen leugnen, was um sie herum passiert. Der Tangosänger wirkt dieser Ignoranz und diesem Vergessen entgegen.
Der Roman ist eine Reise durch Raum und Zeit. Sie beginnt auf den Spuren von Borges und endet mit der Stimme Martels, die sich mit „Buenos Aires, als ich fern von Dir war“ verabschiedet. Am Ende bleiben dann doch wenig rätselhafte Mythen erhalten.

Tómas Eloy Martínez: Der Tangosänger, Suhrkamp Verlag, 2005, 236 Seiten, 19,80 EURO

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