„Warum sprichst du nicht für dich selbst?“
Rodrigo Rey Rosa über sein Schreiben in Marokko und Guatemala und die veränderte Rolle der Literatur
Warum sind Sie als junger Mann, mit 21 Jahren, nach Marokko gegangen?
Zunächst einmal aus Neugier. In Marokko steht die Welt auf dem Kopf: Während in Guatemala Alkohol erlaubt ist und Marihuana verboten, ist das in Marokko anders herum … Ich identifiziere mich nicht über das Exil, im Sinne von Flucht, denn ich persönlich wurde nicht gezwungen, mein Land zu verlassen, ich wurde nicht direkt verfolgt. Nein, ich wollte schreiben, und das ging zu jener Zeit in Guatemala nicht. Damals, zur Zeit der Diktatur Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, herrschte eine furchtbare Leere, eine geistige, kulturelle Verwüstung. Ein unerträglicher Sauerstoffmangel. Wie sollte ich schreiben können angesichts dieser Zensur und der Repression um mich herum? Man wusste, dass viele Leute umgebracht wurden, aber wenn man nicht zu den entsprechenden Kreisen gehörte, zum Beispiel an der Universität, bekam man keine genauen Informationen. Die Zeitungen, das Fernsehen, die schwiegen sich darüber aus. Es wurde entführt, ermordet, aber ich konnte das nicht, sozusagen, „verdauen“, es machte mich krank.
Und warum gerade Afrika, warum Marokko?
Vermutlich wegen der Jugendbücher, so genau weiß ich das nicht. Diese Abenteuergeschichten, die in Nigeria, in Mali spielen, von einem Jungen, der versklavt und bis nach Marrakesch verschleppt wird … Ich erinnere mich weder an Titel noch an die Geschichten selbst, aber sie müssen meine Vorstellungswelt ziemlich angeheizt haben, dass ich eines Tages tatsächlich dorthin gefahren bin.
In Tanger sind Sie dem US-amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles begegnet. Auf kaum einem Ihrer Buchumschläge fehlt der Hinweis auf Ihre Zusammenarbeit und Freundschaft. Stört Sie das manchmal?
Überhaupt nicht. Meine Erinnerung an Bowles [er starb 1999; d.Red.] ist durchweg angenehm; es war eine fruchtbare und glückliche Verbindung. Ich verdanke ihm viel, nicht zuletzt, dass er mich zum Erben seiner literarischen Rechte gemacht hat. Das ist nicht gerade eine Last.
Fühlen Sie sich als Schriftsteller von ihm unabhängig?
Ja, auf jeden Fall. Von Bowles habe ich gelernt, wie man Schriftsteller ist und das Leben um das Schreiben herum organisiert. Das ist sein größter Einfluss auf mich gewesen. Natürlich gibt es Affinitäten auch auf der inhaltlichen Ebene; diese unwahrscheinlichen Begebenheiten in seinen Texten, die dann gewaltsam gelöst werden – das teilen wir. Er hat ja meine ersten Erzählungen übersetzt; die hatte ich geschrieben, unmittelbar bevor wir uns kennen lernten, und sie scheinen ihm gefallen zu haben. Aber es war auch die Übereinstimmung im literarischen Geschmack – die Begeisterung für Borges! Borges hat in mir frühzeitig den Wunsch geweckt zu schreiben, Borges hat mein erstes Gespräch mit Bowles bestimmt und ist ein unerschöpfliches Thema. Dennoch: Stilistisch kommen wir aus ganz unterschiedlichen Traditionen, und ich hatte meinen Stil schon gefunden, bevor wir uns trafen. Er sowieso.
Warum gab Jorge Luis Borges den zündenden Impuls für Ihr Schreiben — und nicht ein Autor aus Guatemala, Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias zum Beispiel?
Ich werde niemals ein Schriftsteller der Sorte von Ángel Asturias sein. Nie habe ich ihn mit Vergnügen gelesen; er war Pflichtlektüre in der Schule, aber er hat mich nicht überzeugt. Dass ich mit Ángel Asturias den geographischen Raum teile, hat nichts zu bedeuten. In unserer Art zu schreiben sind wir komplett gegensätzlich. Er ist ein Sprachvirtuose, er entfacht Feuerwerke mit Worten, ist eher ein Poet. Damit kann ich in Prosatexten wenig anfangen. Wenn er einen Roman mit einer lautmalerischen Gedichtzeile beginnt, dann halte ich dies schlicht für einen Irrtum.
Wie bitte?
Er spricht mich nicht direkt an, sondern erfindet eine mystische Welt um sein Thema herum, die Maya-Kultur Guatemalas. Er gibt vor, über den Dingen zu stehen und sie mir erklären zu können, auf seine persönliche Art – mit Wortschöpfungen und Lautimitationen, mit Rückgriffen auf die Mythen. Dass der Literatur die Aufgabe aufgebürdet wird, eine Kultur zu erklären, halte ich für einen Irrtum. Wenn sich jemand die Mayas erklären lassen will, sollte er besser wissenschaftliche, anthropologische Bücher lesen, als sich bei einem Schriftsteller zu erkundigen.
Dass sich Ángel Asturias wohl als Repräsentant und Aufklärer verstanden hat, das teilt er mit vielen anderen lateinamerikanischen Schriftstellern. Wenn Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit ein Massaker an streikenden Bananenarbeitern beschreibt, von dem es nur einen Zeugen gibt, dem aber keiner glaubt — dann tut er genau dies, er schreibt Geschichte und will aufklären. Das sollte ein Irrtum sein?
In der Tat, ich halte dies für einen ästhetischen Irrtum, aber er ist Teil des Programms, das die Schriftsteller damals für sich als Aufgabe angesehen haben. Und es stimmt, früher hatten in Guatemala die Unterdrückten nicht die Möglichkeit, die Stimme zu erheben, sie konnten sich publizistisch nicht gegen Gewaltexzesse wehren. Aber heute kann man von einem Schriftsteller nicht mehr verlangen, dass er diese Rolle übernimmt. Man kann sie übernehmen, natürlich. Aber es scheint mir eine gewisse Redundanz vorzuliegen. Um heute zu erfahren, wer die Unterdrückten sind, muss man keinen Ángel Asturias mehr lesen, es genügt, in die Zeitung zu schauen oder die Texte der Testimonial-Literatur zu lesen, für die Rigoberta Menchú so wichtig war. Aber vor welchem Publikum sollte ein Schriftsteller etwas anklagen? Vor dem Romanleser?
An Ihren Büchern ist es manchmal irritierend, dass Sie über die jüngsten politischen Ereignisse in Guatemala, über den Bürgerkrieg und die Zeit danach schreiben – diese Themen fordern geradezu dazu heraus, sich zu positionieren. Aber Sie halten sich mit Stellungnahmen sehr zurück und lassen nicht erkennen, wo Sie sich selbst politisch und ethisch verorten. Laufen Sie da nicht Gefahr zu relativieren?
Relativieren im negativen Sinne, meinen Sie? Da sehe ich kein Problem.
Nehmen wir ein Beispiel: Eine Quiché-Frau, die unter menschenunwürdigen Bedingungen im Krieg lebt, muss miterleben, wie ihr Mann bei einem Armeeangriff ermordet wird. So eine Geschichte könnte in einem Ihrer Romane vorkommen. Natürlich betrachten wir sie als Opfer, oder?
Das Leben dieser Frau ist nicht nur der Tod ihres Mannes. Dies ist ein Moment in ihrem Leben, aber danach lebt sie weiter, und vielleicht – ich kenne sie nicht, aber im Leben eines Menschen wandeln sich die Umstände. Mag sein, zu einem anderen Zeitpunkt ist sie Unterdrückerin, gegenüber ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrer Mutter. Das hängt davon ab, in welchem Moment du einen Menschen betrachtest. Wir können das Leben dieser Frau nicht völlig überblicken, wir können es auch nicht auf diesen einen Moment reduzieren, in dem sie ihren Mann verloren hat. Das hieße, sie arm zu machen.
Dennoch, wenn wir nur diesen Moment herausgreifen, ist klar, wer der Täter ist und wer das Opfer.
Ja, sicherlich. Aber das Leben besteht nicht aus Momenten, das Leben ist zum Glück viel komplexer. Ich glaube, wir spielen immer ein widersprüchliches Spiel, und deswegen ist die Vieldeutigkeit realistischer als der Schnappschuss eines isolierten Ereignisses. Natürlich kann jemand Opfer sein, aber niemand, kein Erwachsener, ist immer nur Opfer.
Erich Hackl, der zwei Ihrer Bücher übersetzt hat, charakterisierte ihr Schreiben mit den Worten: „Alles ist leicht, und alles ist vieldeutig.“ Was halten Sie von diesem Urteil?
Damit bin ich völlig einverstanden. Die Vieldeutigkeit ist etwas, was mich zum Beispiel auch mit Paul Bowles verbindet, es ist geradezu die Suche nach erzählerischer Vieldeutigkeit. Sie schafft eine reichhaltige Textur, ganz wie bei einem Gewebe, das eine vielfältige Tiefenstruktur hat. Es hängt davon ab, wie das Licht darauf fällt; das Erscheinungsbild der Oberfläche ändert sich mit. Ich glaube, alle Prosa, die mir gefällt, hat diesen Hang zur Vieldeutigkeit.
Wenn die Literatur nicht die Aufgabe hat zu erklären, wie Sie sagen, welche hat sie dann?
Sie soll etwas ausdrücken, nicht erklären und interpretieren. Wenn du dir anmaßt, für einen anderen zu sprechen, begibst du dich in eine schwache Position. Warum sprichst du nicht für dich selbst?
In Ihrem Roman Die Henker des Friedens taucht am Schluss, in einem Kinderheim, eine Art Spruchtafel auf, die an einem Baum befestigt ist, mit der Aufschrift: „Ist die Zukunft ein Produkt der Vergangenheit?“ Wie beantworten Sie diese Frage?
Zunächst einmal, diese Tafel gibt es wirklich, und sie ist über einem Teich mit Krokodilen befestigt.
Also ist die Zukunft eher eine Frage des Schicksals, des Glücks?
Dafür steht dieser Satz ja in Fragezeichen.
In Ordnung, aber was meinen Sie? Ist es notwendig, die Vergangenheit zu kennen, um sich heute in Guatemala orientieren zu können, um Entscheidungen zu treffen?
Das wäre schon nützlich.
Spielt die Literatur dabei eine Rolle, vielleicht für so etwas wie Bewusstseinsbildung?
Ich denke schon, obwohl ja eigentlich die Geschichtsschreibung zuständig ist, wenn es um die historische Aufklärung als solche geht. Oder vielleicht doch die Geschichte in Kombination mit der Literatur, denn die Geschichte schreiben immer die Sieger … Ich denke, die Literatur hilft uns eher, einen Autor kennen zu lernen als die soziale Wirklichkeit eines Landes. Vielleicht so: Die Mentalitäten und Denkweisen, die aus der Literatur erkennbar werden, können unser Geschichtsbild bereichern, sie können die offizielle Geschichtsschreibung korrigieren und ergänzen.
Möglicherweise erwartet man jetzt von einem Autor wie Ihnen, dass er klarer Position bezieht.
Es ist komisch: Ein junger Kritiker in Guatemala, der sich, soweit ich weiß, der Linken zuordnet, hat zu Henker des Friedens gesagt, das sei ein anachronistisches Buch. Dass der Bürgerkrieg vorbei sei und man von ihm nicht mehr so viel zu reden braucht. Also eine Position, die das Gegenteil von dem vertritt, wovon wir gerade reden. Nein, ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir anfangen können, darüber zu reden. Die Henker des Friedens wurde in dem Jahr veröffentlicht, als das Friedensabkommen unterzeichnet wurde. Aber zwischen der Niederschrift eines Buches und seiner Veröffentlichung vergeht oft ein Jahr. Literatur ist kein Journalismus! Sie kann nicht synchron sein.