Nummer 360 - Juni 2004 | Venezuela

„Was auch immer nötig ist, um Chávez loszuwerden”

Warum Venezuelas Opposition trotz schlechter Chancen ein Referendum will

Am letzten Maiwochenende fand in Venezuela eine zweite Unterschriftensammlung für ein mögliches Abwahlreferendum gegen Präsident Hugo Chávez Frías statt. Nach einer Entscheidung des Nationalen Wahlrates CNE mussten auf diese Weise über eine Million der ursprünglich mehr als drei Millionen von der Opposition Ende Dezember eingereichten Unterschriften auf ihre Echtheit hin überprüft werden. (Bei Redaktionsschluss lag das Ergebnis der Auszählung noch nicht vor.) Dem jetzt ausgehandelten Prozedere waren monatelange Auseinandersetzungen vorausgegangen.

Markus Plate

Am 27. Februar 2004 bringt die Opposition Hunderttausende auf die Straße, um ihrer Forderung nach einem Referendum gegen Hugo Chávez zusätzliches Gewicht zu verleihen: „Respektier’ meine Stimme, Diktator“, schnauben die TeilnehmerInnen. Doch die Demonstration eskaliert, Schüsse fallen, es gibt Tote. Der traurige Höhepunkt der aktuellen Oppositionskampagne, die sich auf der Tatsache gründet, dass die venezolanische Verfassung erlaubt, den Präsidenten nach der Hälfte seiner Amtszeit per Volksentscheid abzuwählen. Diese 1999 etablierte, bolivarianische Verfassungsneuerung könnte nun zum ersten Mal angewandt werden, und zwar ausgerechnet gegen den Präsidenten, der sie erst ins Leben rief: Hugo Chávez.
Wie funktioniert ein solcher Abwahlprozess? Die Verfassung schreibt vor, dass, wer ein solches Referendum initiieren will, zunächst eine Menge UnterstützerInnen für diese Idee finden muss, die bereit sind, ihren Willen per Unterschrift kund zu tun. Zehn Prozent der Wahlberechtigten fordert die Verfassung, das entspricht 2,4 Millionen Menschen. Wird diese Marke überschritten, so hat der Nationale Wahlrat unverzüglich ein Referendum vorzubereiten. In einem solchen Volksentscheid haben die GegnerInnen des Präsidenten dann zwei Hürden zu nehmen: Zum einen benötigen sie die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, zum anderen müssen sie mehr Stimmen erhalten, als der Präsident bei den letzten Wahlen bekommen hat. In Chávez Fall wären rund 3,8 Millionen zu überbieten. So weit die Theorie.
Die Praxis sieht in Venezuela um einiges komplizierter aus. Ende November 2003 sammelte das Oppositionsbündnis Coordinadora Democrática vier Tage lang fleißig Unterschriften für ein Referendum, begleitet von einer medialen Schlacht, in der die privaten Fernsehkanäle und Zeitungen bereits Chávez Untergang feierten. Ein sichtlich gut gelaunter Präsident verkündete derweil genüsslich den Misserfolg dieser Sammlung . Eine Woche später tönten die InitiatorInnen, man habe weit über dreieinhalb Millionen Unterschriften zusammen. Jedoch traue man den staatlichen Institutionen nicht über den Weg und wolle die Listen stattdessen der Organisation Amerikanischer Staaten OEA übergeben. Der Beginn eines Gezerres, das bis heute anhält.

Gefälschte Unterschriften
Am 29. Dezember schließlich reichte die Opposition rund 3,2 Millionen Stimmen ein: viel weniger, als zuvor vollmundig erklärt, aber immer noch deutlich mehr als erforderlich – und forderte den Nationalen Wahlrat per Live-Interviews und Schlagzeilen auf, nunmehr zügig das Referendum einzuleiten. Doch der CNE nahm sich zunächst das Recht und die Zeit, die vorliegenden Unterschriften zu prüfen – und schloss 380.000 Stimmen als gefälscht oder „nicht mit dem Wahlregister konform“ aus. Tote und nicht existierende Personen könnten schlecht ihre Stimme abgeben, und Minderjährige sowie AusländerInnen dürften nun einmal nicht. Mehr noch: Der Wahlrat erkannte nur 1,9 Millionen Unterschriften als echt an, die restlichen seien zweifelhaft, vor allem auf Grund vielfach ähnlicher Handschriften.
Womit der Wahlrat beiden Parteien Futter für ihre Argumentation gegeben hatte: Das Chávez-Lager erklärte das Referendum bei weniger als zwei Millionen Unterschriften für gestorben, während die Opposition auf der Gültigkeit ihrer Unterschriften beharrte und den CNE der Komplizenschaft mit der Regierung beschuldigte. Die InitiatorInnen riefen die Wahlkammer des Obersten Gerichtshofes an, in der Hoffnung, eine Mehrheit oppositioneller RichterInnen würde den CNE dazu zwingen, alle fraglichen Unterschriften ohne Prüfung anzuerkennen. Was dann auch geschah. Die Regierung zog postwendend vor die von Chavisten dominierte Verfassungskammer, die die Wahlkammer für nicht zuständig erklärte und deren Urteil wieder aufhob. So müssen inzwischen sich die Parteien gegenseitig nicht mehr lediglich Zahlen um die Ohren hauen, sondern können auch mit widersprüchlichen Urteilen höchster Instanzen winken.

Unter Argusaugen
Der Nationale Wahlrat hatte nach zähem Ringen endlich ein Prozedere für die fast 1,2 Millionen zweifelhaften Unterschriften vorgelegt. Zwischen dem 28. und 30. Mai sollten diese Stimmen überprüft werden. Die angeblichen UnterzeichnerInnen hatten sich erneut in den übers ganze Land verstreuten, etwa 2700 Wahlzentren einzufinden, um noch einmal zu unterschreiben – diesmal unter schärferer Kontrolle durch die Konfliktparteien, den CNE, das Carter Center und die OEA. Damit gilt immer noch: die Opposition braucht mindestens 2,4 Millionen gültige Unterschriften, um ein Referendum zu erzwingen. Unter diesen Bedingungen ist abzusehen, dass auch das verifizierte Ergebnis wenig Aussichten auf Anerkennung beider Seiten hat.

Chávez vor der Opposition
Ein Blick auf die politische Lage in Venezuela verstärkt die Konfusion. Der anti-chavistische Journalist Francisco Torro, der mit den Caracas Chronicles eine englisch sprachige Internetzeitung publiziert, fragte sich, warum die Opposition mit aller Macht ein solches Referendum durchdrücken will, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin verlieren wird. Und warum Chávez auf der anderen Seite so daran gelegen ist, dass die Opposition mit ihrer Unterschriftensammlung durchfällt, obwohl er sehr gute Chancen hat, ein Referendum gegen ihn zu überstehen. Das untermauert auch eine aktuelle Meinungsumfrage des von vielen als oppositionsfreundlich angesehenen Keller-Institutes: Die Opposition könne bei nur 31 Prozent Zustimmung und 34 Prozent Neutralen kaum auf eine Mehrheit in einem Referendum hoffen. Andere Institute prognostizieren Chávez gar 40 bis 45 Prozent Zustimmung.
Auch ist die Opposition, die Coordinadora Democrática, nicht so koordiniert, wie ihr Name oder ihr öffentliches Erscheinungsbild vermuten ließen. Sie hat bislang keine Kandidatin und keinen Kandidaten, die oder der sowohl offene Chávez-GegnerInnen wie Unentschlossene hinter sich vereinigen könnte. Wie auch, denn in diesem Bündnis tummelten sich bislang von den traditionellen christlichen und sozialdemokratischen Parteien über ultra-rechte Vereinigungen bis zum Movimiento al Socialismo alle möglichen Richtungen. Ein eigenes politisches Programm gibt es nicht, das einzige, was die Opposition eint und was sie nach außen zu tragen vermag ist ihr abgrundtiefer Hass auf Chávez.
Hinzu kommt, dass gerade die traditionellen Parteien lieber bis zu den regulären Wahlen im Jahr 2006 warten würden, befinden sie sich doch, nach dem Bankrott des alten politischen Systems in den neunziger Jahren, in einem Prozess des Neuanfangs und Wiederaufbaus. Das gilt für die christlich-konservative COPEI und vor allem für die Acción Democrática (AD), die alte sozialdemokratische Regierungspartei, die unlängst sogar mit dem Ausstieg aus dem Oppositionsbündnis drohte. Sie hofft auf ein gutes Abschneiden bei den Gouverneurswahlen im September und setzt zunehmend auf die Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2006. Ein Sturz Chávez in diesem Jahr würde womöglich Kräften zur Macht verhelfen, die die alten Parteien als Neureiche oder Emporkömmlinge verachten.

Machtkämpfe innerhalb der Opposition
Zu diesen gehören insbesondere Proyecto Venezuela (PV) und Primero Justicia (PJ). Henrique Salas Römer vom PV gilt als möglicher Kandidat im Falle außerordentlicher Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr. Doch wirft Acción Democrática dem PV vor, aus dem Referendumsprozess eine Farce zu machen, um einen weiteren Putschversuch zu rechtfertigen, während sie selbst die Verifizierung Ende Mai befürwortet.
„Dem AD käme es nicht ungelegen, entweder beim Verifizierungsprozess oder beim Referendum zu unterliegen“, meint die Geschichtsprofessorin Margarita López Maya. „Dies wäre in erster Linie eine Schwächung der radikalen Kräfte innerhalb der Opposition und gäbe der AD nicht nur Zeit und ein vermeintlich demokratisches Profil, sondern auch Munition gegen die oppositionelle Konkurrenz.“
So ist wohl auch die Erklärung des ambitionierten AD-Generalsekretärs Henry Ramos Mitte April zu verstehen, man werde nicht schweigen, wenn andere Oppositionsparteien einen weiteren Umsturzversuch unternehmen würden.

Der Neue könnte der Alte sein
Der Opposition mag es gelingen, Chávez per Referendum abzuwählen. Aber wer soll bei den dann anstehenden Präsidentschaftswahlen den Kandidaten der Chavisten schlagen, die unumstritten zumindest auf die relative Mehrheit im Lande bauen können? Dieser Kandidat der Chavisten könnte, darüber streiten sich die VerfassungsrechtlerInnen derzeit, möglicherweise einen bekannten Namen haben: Hugo Rafael Chávez Frías.
Die Verfassung schließt den per Referendum gestürzten Präsidenten nicht explizit von den Neuwahlen aus, sondern spricht nur von einem „neuen Präsidenten“. Der, das interpretiert nicht nur Margarita López Maya, könnte durchaus auch der alte sein. Und Chávez würde wohl noch jeden halbherzigen oppositionellen Kompromisskandidaten schlagen.
Also wozu das alles? Um im Gespräch zu bleiben, Chávez zu bremsen, von eigenen Differenzen abzulenken und um hinter einer brüchigen demokratischen Fassade einen neuen Putsch vorzubereiten, so die Analyse von Henry Suárez, Professor an der Universidad Central de Venezuela.
Die Opposition hat viel probiert in den letzten Jahren: Der Putschversuch vor zwei Jahren, der landesweite, dreimonatige UnternehmerInnenstreik ein halbes Jahr später. Seit Monaten nun das Kapitel „Ringen um ein Referendum“.

Trommelfeuer der Opposition
Auch hier stehen die Chancen der Coordinadora Democrática längst nicht so gut, wie sie behauptet. Bislang habe die Opposition noch jede Auseinandersetzung verloren, feixen denn auch die AnhängerInnen des Präsidenten. Doch hat sie das wirklich? Die Opposition hat das Land gelähmt und entzweit. Unter der vor allem von ihr betriebenen Polarisierung leidet die Wirtschaft, die sozialen Programme der Regierung, die Menschenrechte.
Und darum geht es der Opposition: Ein Trommelfeuer aus Medienkampagnen, Streiks und Putschplänen soll das Land mürbe machen und ruft das besorgte Ausland auf den Plan.
Es ist dieselbe Taktik, die schon vor über 30 Jahren in Chile den alten Eliten wieder zur Macht verhalf.


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