Nicaragua | Nummer 474 - Dezember 2013

Weg zu den Sternen

Die feministische Bewegung Nicaraguas kämpft gegen das Patriarchat

Nicht erst seit der Wahl Daniel Ortegas zum Präsidenten 2006 hat die feministische Bewegung in Nicaragua mit vielen Problemen zu kämpfen. Doch seit dem von ihm durchgesetzten rigiden Abtreibungsverbot kämpfen unterschiedlichste Organisationen verstärkt gegen die moralische Vorherrschaft der Kirche und des Patriarchats.

Evelyn Linde

„Wir haben zwei große Monster in Nicaragua, die uns festhalten – das Patriarchat und die Religion.“ Im neu errichteten Seminarraum der Vereinigung für integrale kommunale Entwicklung (ADIC) spricht Maria Teresa Castilblanco gegen den Baulärm im Innenhof an. Maria sieht in diesen „Monstern“ die Hauptfeinde ihrer jahrelangen Arbeit für die Rechte und die Gleichberechtigung der Frauen. Bei der Stadtteilarbeit von ADIC liegt der Fokus auf der Gleichstellung und dem Empowerment von Frauen. Das größte Problem der Frauen in Nicaragua sei die Gewalt, meint Blanca A. Herrera González, Koordinatorin von ADIC. Diese sei das Produkt des vorherrschenden Patriarchats und des Machismo. Und die Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet.
Das Frauenkollektiv Matagalpa (CMM) will das ändern. In großen Lettern prangen Männernamen an der Wand des Zentrums, welches das Frauenkollektiv im Stadtzentrum Matagalpas (im Nord-Westen Nicaraguas) eingerichtet hat. Den Namen der Männer sind Verbrechen wie „Vergewaltiger“, „unverantwortlicher Vater“ oder „freigesprochener Femizid“ beigefügt. Verbrechen, für die die Täter nicht bestraft wurden. Mit dieser „Mauer der Anklage“ will das Kollektiv auf das Ausmaß strafloser Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen. In der Frauenbewegung wird immer wieder auf die Vergangenheit des Präsidenten Daniel Ortega hingewiesen: Seine Stieftochter Zoila América Narváez Murillo klagte ihn 1998 wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch an. Aufgrund seiner politischen Immunität und Verjährung, wurde Ortega nicht verurteilt.
Als großen Schritt vorwärts sieht ein Großteil der Frauenbewegung das im Januar 2012 verabschiedete Gesetz 779 zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Es stärkt die rechtliche und institutionelle Position der Frauen, indem es Präventions- und Hilfsmaßnahmen sowie verschärfte Strafen für die Täter vorsieht und erstmals den „Femizid“, den Frauenmord, als Straftatbestand aufnimmt. Langjährige Forderungen wurden damit endlich festgeschrieben. „Das Gesetz 779 ist mit Abstand das beste Gesetz in Zentralamerika“, urteilt Luz Marina Tórrez Velásquez, die Koordinatorin vom Frauenkollektiv 8. März. Die Klimaanlage vertreibt surrend die Hitze der Hauptstadt Managua aus dem Raum. Das nach dem Internationalen Frauenkampftag benannte Kollektiv bemängelt aber zugleich, dass zur Umsetzung des Gesetzes kein ausreichender Etat eingerichtet wurde: „Sie geben uns das Gesetz, aber es taugt nichts“. Zudem fürchtet Luz Marina, dass auf Druck konservativer Männer wichtige Teile des Gesetzes wieder gestrichen werden und die Mediation als Schlichtungsmöglichkeit wieder eingeführt wird.
Zwei Monate nach dem Gesetz 779 wurde das neue Familiengesetz verabschiedet. Dieses spiegele die eigentliche Geschlechter- und Familienpolitik des Präsidenten Daniel Ortega von der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN wieder, so Luz Marina. Das Gesetz stelle unter anderem die zahlreichen alleinerziehenden Mütter schlechter und werde den diversen Familienverhältnissen im Land nicht gerecht. Vielmehr propagiere es ein klassisches Familienbild und stelle einen deutlichen Rückschritt in Bezug auf die Anerkennung sexueller Diversität dar. Dies trifft bei den Frauenkollektiven auf wenig Verwunderung. Denn bereits 2006 sicherte sich die FSLN durch einen Pakt mit der Katholischen Kirche die Wiederwahl nach 16 Jahren neoliberaler Regierung. Der Pakt stellte den, bis dahin legalen, Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation unter Strafe. Viele in der Frauenbewegung kämpfen seitdem gegen das rigide Verbot. „Wir sind für das Recht auf Abtreibung aus medizinischer Indikation“, erklärt die Präsidentin von CIPRES Irma Ortega Sequeira, dem Zentrum für die Erforschung und soziale Entwicklung der ländlichen Regionen.
CIPRES ist eine wichtige Institution für viele Kooperativen im Land, da sie diese bei ihrer Gründung und Arbeit unterstützt. Teile der Regierungsprogramme zur ländlichen Entwicklung, wie das Null-Hunger-Programm, wurden von CIPRES entwickelt. Die Organisation verbindet in ihren Projekten jedoch die materielle Ausstattung mit fachlichen wie ideellen Fortbildungen. Dabei geben sie Frauen in ihren Programmen die Priorität, arbeiten jedoch gleichzeitig mit Männern. „Die Leute sagen ,Ja, gebt den Frauen Hühner, aber die Kuh? Das ist doch Angelegenheit der Männer’”, erzählt Irma. „Wir befähigen Frauen dazu, die Kühe zu impfen, und lehren Männer, Hühner zu halten“. In ihren Fortbildungen und durch die ökonomische Absicherung im Rahmen der Kooperativen fördert CIPRES das Selbstwertgefühl von Frauen und Männern. „Ein Mann mit hohem Selbstwertgefühl kauft seiner Frau Schminke, statt ihr die Augen mit der Faust zu färben“, sagt Irma. Sie wollen erreichen, dass Männer die Reproduktionsarbeit, also Erziehungsaufgaben und Haushalt, als gemeinsame Verantwortung begreifen. Die Gleichstellung der Geschlechter soll sich nicht auf die Kooperativen beschränken, sondern auch im privaten Rahmen fortgesetzt werden.
Die Frauen vom Komitee der Landfrauen (CMR) in León sehen ebenfalls die Notwendigkeit, das Thema der Reproduktionsarbeit, die immer noch zum allergrößten Teil in den Händen von Frauen liegt, zu bearbeiten. „Oft hören wir die Frauen sagen: ‚Früher bin ich um drei Uhr in der Frühe aufgestanden, um zu euren Workshops gehen zu können‘“, berichtet Paty Siles, die seit 14 Jahren beim CMR arbeitet. Heute würden die Männer den Frauen vermehrt im Haushalt helfen, meint Olga María Espinoza, die das CMR vor 20 Jahren gründete. Aber zu oft werde das von den Männern immer noch nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als ein Gefallen angesehen. „Es ist gar nicht einfach, die Geschlechterverhältnisse zu verändern, aber es ist jeden Tag ein Tropfen Wasser, der den Stein höhlt“, sagt Olga.
Einen Wandel in Hinblick auf Sexualität und die Bestimmung über den eigenen Körper zu erzielen, sei schwieriger, fährt Olga fort. Fortschritte sieht sie in der Familienplanung, da die Frauen inzwischen im Durchschnitt drei Kinder bekämen, statt fünf bis sieben. Olga meint, dass es nicht reiche, die Frauen mit ökonomischer Macht auszustatten. Wenn die Frau geschlagen werde und die gesamte Reproduktionsarbeit tätige, könne sie kein Geschäft führen. Ähnliche Erfahrungen macht Irma von CIPRES: „Die Frauen gehen raus, um sich fortzubilden. Früher hieß es dann: ‚Wer wird auf meine Kinder aufpassen?‘“. Allerdings kämen immer noch selten Männer mit ihren Kindern, so Irma. Fortschritte konnten vor allem im öffentlichen Raum erzielt werden, im Privaten beobachtet CIPRES eher bei den Kindern einen Mentalitätswandel. Wenn es mehr Geld gäbe, würde Irma gerne mehr Fortbildungen mit Männern machen, so haben die Frauen Vorrang. Dies spiegelt ein generelles Problem der Frauenbewegung wieder: den Mangel an finanziellen Mitteln. Keine der erwähnten Organisationen erhält Mittel von Seiten des Staates. Projekte, die wenigen bezahlten Stellen und auch die Frauenhäuser des Kollektivs 8. März finanzieren sich über internatio­nale Geldgeber_innen. So bekommen auch die sozialen Bewegungen die weltweite Wirtschaftskrise zu spüren. Diese Abhängigkeit könnte für die Arbeit der Bewegungen das Ende bedeuten, wenn die Mittel wegfallen. Daher fordern die Frauen vom Kollektiv 8. März, dass der Staat Mittel für Frauenhäuser bereitstellt.
Auch Blanca von ADIC meint, dass eigentlich der Staat die Aufgaben übernehmen müsste, die ADIC erfüllt: Die Menschen über ihre Rechte aufklären, Projekte zur kommunalen Entwicklung durchführen. Aber die Regierungsprogramme hängen davon ab, wer gerade Repräsentant_in ist – und das sind meistens Männer. Dennoch: Sie wollen mit ihrer Arbeit diejenigen erreichen, die an den Programmen der Regierung nicht teilhaben.
Im Gegensatz dazu setzen andere Organisationen ihren Schwerpunkt auf die politische Einflussnahme. Janett Castillo von der Kommunalen Bewegung Matagalpa (MCM) erklärt das Ziel, Menschen zu organisieren, damit diese für ihre Rechte einstehen und auf diesem Weg ihre Lebenssituation verbessern.
Die Politik Ortegas brachte auf institutioneller Ebene einige Fortschritte, erklärt Janett. So wurden beispielsweise bei der Polizei extra Frauenkommissariate für Opfer von sexualisierter Gewalt eingerichtet. Grundsätzlich würden die Probleme jedoch nicht angegangen, weshalb die Institutio­nen ihre Wirkung oft nicht entfalteten, kritisiert Janett. Und die Regierung trage zur Spaltung der feministischen Bewegung bei. Blanca von ADIC ist dennoch optimistisch. Denn der Grad der Organisierung nimmt zu: „Es ist ein wenig vorangegangen, aber wir kämpfen weiter.“
In Estelí trifft Diana Martínez, Gründerin der Stiftung zwischen Frauen (FEM) mit einigen Kleinbäuerinnen der Organisation zusammen. Der Regen prasselt auf das Dach, unter dem die Kleinbäuerinnen stolz von ihren Erfahrungen mit der FEM erzählen. Estelí liegt in der Kaffeeanbauregion im bergigen Norden des Landes. Der Pilz namens Kaffeerost, der sich in ganz Mittelamerika ausgebreitet hat, hat den Kleinbäuerinnen dieses Jahr die Hälfte der Ernte zerstört.
Zudem gebe es einen weiteren Pilz anderer Natur, „einen politischen Pilz“. Diana schimpft: Daniel Ortega und seine Ehefrau Rosario Murillo, die als Nachfolgerin gehandelt wird, seien dieser Pilz. Auch Diana teilt die in der Frauenbewegung verbreitete kritische Haltung gegenüber der Regierung, die auf ihren rosa Wahlplakaten mit dem Slogan „Cristiana, Socialista, Solidaria!“ – „Christlich, Sozialistisch, Solidarisch!“ wirbt. Die FEM ist ein seit 1996 existierender Zusammenschluss von rund 250 Kleinproduzentinnen in sechs Kooperativen in der Region um Estelí. Vor einem Jahr haben sie die Zentrale der multisektoralen Kooperativen von ländlichen feministischen umweltbewussten Frauen, kurz Las Diosas (Die Göttinnen) gegründet. Die FEM stärkt ihre Frauen auf ideologischer, ökonomischer und organisatorischer Ebene. Die in der FEM organisierten Kleinproduzentinnen stehen für eine Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts, in der sie ihre sexuellen und reproduktiven Rechte ausüben und frei am öffentlichen Leben teilnehmen können, erklärt die Aktivistin Isabella Mesa. „Aus dieser Perspektive gehört zur Ernährungssouveränität, dass wir über eigene ökonomische Mittel verfügen und auch über große Dinge entscheiden können. Auch, dass wir ein politisches Bewusstsein haben und an wichtigen Entscheidungen teilhaben können“, so Isabella.
Im Frühjahr dieses Jahres hat die FEM eine „Abteilung für Maskulinität“ ins Leben gerufen, um im Kampf gegen das Patriarchat und den Machismo gemeinsam mit Männern eine neue Maskulinität zu konstruieren. „Eine Bewusstmachung und Sensibilisierung dafür, wie die machistische Männlichkeit konstruiert wird, ist wichtig für einen Wandel“, meint der für die Abteilung verantwortliche Hamlet Ramírez. Im Rahmen einer Workshopreihe arbeitete er mit jungen Männern die eigenen Rollenvorstellungen auf. Er selbst habe bis zu seinem 30. Lebensjahr nicht darüber nachgedacht, was es bedeute, im Patriarchat Macht zu besitzen. Genauso müsse über Homophobie gesprochen werden.
Sehen die Frauen bei ADIC zwei Monster in Nicaragua am Werk, so identifizieren die Frauen von FEM ihrer drei: die Kirche, den Staat und die Ehemänner, dies sei das „Dreieck des Bösen“. Dagegen setzen die Frauen ihren Kampf. „Wir spürten, dass wir mit den Füßen nicht vorankamen, bis wir entdeckt haben, dass wir Flügel haben und versucht haben, sie zu öffnen“, erklärt Diana. Die verschiedenen Organisationen eint dabei vor allem der Wille und die Tatkraft, die Bedingungen emanzipatorisch zu verändern. „Wir haben die Sterne nicht erobert, aber wir sind auf dem Weg“, meint Irma.

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