Film | Nummer 347 - Mai 2003

„Wer hat gesagt, dass der Laden Dir gehört?“

Mit „Cidade de Deus“ („City of God“) ist dem brasilianischen Film der größte Wurf seit „Central Station“ gelungen

„Das hier ist die ‘Stadt Gottes’, aber Gott hat vergessen, herzuschauen“, so lautet eine Liedzeile aus dem Soundtrack des Films „Cidade de Deus“. Sie trifft zu: Die „City of God“ ist eine der berüchtigsten im Großraum Rio. Der Werbefilmer Fernando Meirelles will mit seinem gleichnamigen Film die Realität der Favela von innen darstellen. Die Schauspieler sind zum großen Teil „echte“ Faveleiros, und die Kulisse ist ihre Favela. Nominiert für den Oscar als bester ausländischer Film und gefeiert auf den Filmfestivals in Cannes und Toronto, läuft „City of God“ nun auch in den deutschen Kinos an.

Debora Gerstenberger, Thilo F. Papacek

Auf drei verschiedenen Zeitebenen (60er, 70er und 80er Jahre) laufen die Geschichten der „City of God“ in- und gegeneinander. Die Ästhetik des Films kann es locker mit „Pulp Fiction“, „Fight Club“ oder auch „Amores Perros“ aufnehmen. Das Stoccato der Bildfolge raubt dem Zuschauer mehr als einmal den Atem.
„Hey, Busca-Pé!“ – Dem so gerufenen gefriert das Blut in den Adern. Vor ihm steht Locke (Zé Pequeno) mit seiner Gang. Hat der mächtigste Drogenboss der City of God es auf ihn abgesehen? Plötzlich taucht auf der anderen Seite der Häuserschlucht die Polizei auf: Busca-Pé steht genau zwischen den Fronten. Die Kamera kreist um seinen Kopf. Sein Leben zieht an seinem inneren Auge vorbei.
Die lange Rückblende beginnt mit der Gründung der „Stadt Gottes“: Sie wurde von der Militärregierung in den 60er Jahren aus rötlicher Erde herausgestampft. Dort sollte der verarmte Mittelstand und die Arbeiterschaft eine neue Heimat finden, fernab des „Postkarten-Zentrums“ von Rio de Janeiro. Häuser wurden gebaut, aber ohne Strom, ohne Wasser und ohne Verkehrsanbindung. Das Neubauviertel verkommt so innerhalb kurzer Zeit zu einem Slum. Angesichts der trostlosen Wirklichkeit erhält der Name „Stadt Gottes“ einen zynischen Beiklang.
Hier wächst Busca-Pé auf, der als Erzähler durch den Film führt. Er beobachtet die Kämpfe, die Liebschaften und das Sterben seiner Altersgenossen, seiner Freunde und Rivalen.
Er will keine krummen Dinger mehr drehen, sondern Fotoreporter werden. Der in der Favela üblichen Kriminalität stellt er ein anderes, ein ehrliches Lebenskonzept gegenüber und verfolgt geduldig seinen Traum.
Das gleichaltrige Löckchen träumt hingegen von der Macht in der Favela. Mit zehn Jahren überredet er die Gang „Wild Angels“, ein Stunden-Motel samt Gästen auszurauben. Er selbst darf – als „Belohnung“ für seine Idee – Schmiere stehen. Im Stunden-Motel gibt es ein brutales Massaker. Daraufhin verstärkt die Polizei ihre Präsenz in der Favela. Nachdem einige Unschuldige sterben müssen, überlässt sie die City of God wieder sich selbst und den rivalisierenden Gangs, die zunehmend in den Drogenhandel einsteigen. In kurzen Rückblenden wird die Entwicklung des Drogenhandels in der Favela über die Jahrzehnte hinweg gerafft dargestellt. Alles dreht sich dabei um die bocas, die Apartments, in denen Koks und andere Drogen gehandelt werden. Wer die boca besitzt, beherrscht das jeweilige Favela-Gebiet. Mit der Waffe in der Hand werden diese Besitzverhältnisse geklärt.

Krieg und Frieden in der Favela

Locke (Zé Pequeno), wie sich Löckchen später nennt, reißt nach und nach alle bocas bis auf eine an sich. Mit den Worten: „Wer hat gesagt, dass der Laden Dir gehört?“ macht er seinen Anspruch deutlich und erschießt dann den jeweiligen Boss.
Da ihn sein Freund Bené darum bittet, lässt er Karotte (Sandro Cenoura) in sein Gebiet. Obwohl die BewohnerInnen der City of God Locke fürchten und hassen, hat seine Herrschaft ein Gutes: er duldet keinen Raub und keine Vergewaltigung in seinem Einflussgebiet. Verstößt ein „moleque“ (Bengel) gegen das Verbot, schießt ihm Locke „zur Erinnerung“ ein Loch in die Hand oder zwingt ihn, seinen Kumpel zu erschießen, der längst kapituliert hat und schluchzend neben ihm steht. Es herrscht also relative Ruhe.
Durch die „Geschichte von Mané Galinha“ wandelt sich diese Ruhe in einen offenen Krieg. Locke ist ein hässlicher Gangster, der seine Einsamkeit hinter Waffen, Macht und schmutzigem Geld versteckt. Er kann das Glück von Mané Galinha nicht ertragen: Mané Galinha sieht gut aus, verdient sein Geld mit ehrlicher Arbeit und hat eine wunderschöne Frau an seiner Seite. Locke vergewaltigt aus Frust vor Galinhas Augen dessen Frau. Mané Galinha und Karotte, der nach dem Tod von Bené um sein Leben fürchtet, schließen daraufhin ein Bündnis. Sie entfachen in der Favela einen brutalen Krieg. Die „Soldaten“ werden immer jünger, die Waffen immer automatischer, die Anlässe für Schießereien immer nichtiger. Die Grenze zwischen Gut und Böse schwindet im Kugelhagel. Eines tritt glasklar hervor: die sinnlose Verschwendung des Lebens.
„City of God” ist nicht nur ein Gangster-Epos (wie es in der deutschen Ankündigung des Verleihs Constantin-Film heißt), sondern zeichnet ein Bild vom Mikrokosmos der Favela. Er bildet die Rückseite der Postkarten-Stadt Rio ab, in der die Armut den Alltag bestimmt, die Polizei korrupt ist und die Drogenbosse das Sagen haben. Normale Gesetze haben hier keine Gültigkeit. Nur jemand, der diese Welt genau kennt, kann sie Außenstehenden vermitteln. Paulo Lins, der den 550 Seiten starken Roman verfasste, der dem Film als Vorlage diente, ist selbst in der City of God aufgewachsen. Er hat über 300 Personen und deren Schicksale beschrieben – Episoden, die zwar fiktiv, aber der Realität direkt entlehnt sind.
Fernando Meirelles ist es meisterhaft gelungen, diese präzisen (fast anthropologischen) Beobachtungen in eine angemessene Filmsprache zu übersetzen. Eigentlich eine unmögliche Aufgabe für jemanden, der aus der Mittelschicht São Paulos kommt, von Beruf Werbefilmer ist, niemals Kokain genommen hat und Rio de Janeiro nicht kennt, geschweige denn seine Favelas. Dennoch habe ihn das Buch zu seiner „Geisel“ gemacht – er ging das Projekt an. Wesentlich für sein Gelingen war Ko-Regisseurin Kátia Lund, die bereits mehrere Dokumentarfilme in den Slums von Rio (z.B. „Notícias de uma guerra particular“, 1999) gedreht hat. Sie kennt die Drogenbosse und deren spezifische Codes sehr genau und konnte dem Filmprojekt deshalb Tor und Türen öffnen.
Gemeinsam casteten die beiden Regisseure ein Jahr lang hunderte Laienschauspieler (zum großen Teil Jugendliche aus verschiedenen Favelas der Stadt) und drehten über acht Monate am Film. Selbst bei der letzten, der zwölften Fassung des Drehbuchautors Bráulio Mantovani, wurden viele Szenen nach den Proben spontan neu geschrieben.

Normale Gesetze haben keine Gültigkeit

Herausgekommen sind Charaktere, die so überzeugend sind, dass sie fast real wirken. Und doch ist der Film Kunst. Kunst, die etwas bewegen kann. „Wenn Kunst zu irgend etwas nützt, dann soll sie helfen, unseren Blick der City of God zuzuwenden, auf jene, die inmitten einer fürchterlichen Gewalt am Rande des Gesetzes leben. Dann können wir Brasilianer vielleicht auf uns selbst sehen“, sagt Matheus Nachtergaele alias „Karotte“, der einzige bekannte Schauspieler des Films.
Der Film hat in Brasilien und in aller Welt Aufsehen erregt und bereits jetzt Kinogeschichte geschrieben. Der brasilianische Star-Regisseur Walter Salles verglich ihn gar mit „Pixote“ (1981) von Hector Babenco. Er hat schonungslose Wahrheiten aus dem Leben der Favela an die herangetragen, die auf der anderen Seite sind, also an die, die es sich leisten können, ins Kino zu gehen. Mit anderen Worten: Er hat alle Missionen, die ein Film erfüllen kann, erfüllt. Wirklich alle? „Der Film transportiert sehr gut das innere Anliegen meines Romans“, sagte Paulo Lins auf seiner Lesung Anfang März in Berlin. „Was ich schade finde, ist, dass Locke dunkelhäutiger ist als die anderen. Es kommt so rüber, als ob alle Schwarzen Verbrecher seien.“

City of God (Cidade de Deus), Regie: Fernando Meirelles, Brasilien 2002, Farbe, 128 Minuten.

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