Dossier | Gewerkschaften | Nummer 495/496 – September/Oktober 2015

„Wie von einem Löwen zu verlangen, vegetarisch zu leben“

Interview mit dem Arbeitsrechtsexperten Sergio Chávez über den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in der zentralamerikanischen Textilindustrie

Angesichts eines Lohnes, der nicht zum Leben reicht, und Fällen von 24 Stunden ununterbrochener Arbeit ist es offensichtlich, dass in den Billiglohnfabriken Arbeiter*innen ausgebeutet werden. Doch diese skandalösen Bedingungen müssen erst öffentlich gemacht werden. Die LN sprachen mit dem Aktivisten Sergio Chávez über seinen schwierigen Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, die Taktik der Konzerne und die besten Methoden, der Ausbeutung entgegenzutreten.

Interview: Claudia Fatzkämper, Julian Grau

Wie sehen die Arbeitsbedingungen in der Maquila-Industrie derzeit aus?
Um nicht nur zu wiederholen, was jeder ohnehin schon weiß, werde ich die Zukunft schildern, welche die Maquila-Arbeiterinnen erwartet. Die Rentenfonds wurden in El Salvador vor etwa zehn Jahren privatisiert und basieren nun auf einem Modell, welches Pinochet in Chile damals auf Anraten der berühmten „Chicago Boys“ eingeführt hat. Es handelt sich also nicht mehr um ein Solidaritätsprinzip, in welchem es eine „Tasche“ gibt, in die Geld eingezahlt wird, und im Rentenalter erhält man 60 Prozent des ehemaligen Lohnes für den Rest des Lebens. Jede Arbeiterin hat nun ihr eigenes Rentenkonto. Die Gehälter der Beschäftigten in den Maquilas sind so niedrig, dass die Ersparnisse der Arbeiterinnen für eine Rente nicht ausreichen werden. Die Höhe der Konten beläuft sich lediglich auf etwa 8.000-9.000 Dollar. Die Unternehmen sagen den Arbeiterinnen, sie hätten keine Möglichkeit auf eine Rente und zahlen ihnen das Geld auf einmal aus. Das Problem ist, dass es keine weitere Rente gibt. So verlieren die Arbeiterinnen automatisch das Recht auf Gesundheits- und Sozialversicherung, weil das Geld auf besagtem Konto schlicht und einfach nicht ausreicht.
Der Mindestlohn in der Textilindustrie beträgt in El Salvador monatlich 210,90 Dollar und liegt damit unter der offiziell durch die Regierung etablierten Armutsgrenze von 387,22 Dollar für eine Familie. Zwischen diesen Zahlen liegt ein großer Unterschied. So können wir sagen, dass – egal um welche Marke es sich handelt – die Gehälter unter der Armutsgrenze liegen. Es handelt sich nach Standards in El Salvador um schlecht bezahlte Arbeit.

Ist sie das auch im Vergleich zu anderen Sektoren?
Ja, wenn man es mit dem Baugewerbe oder dem Dienstleistungssektor vergleicht oder mit anderen Arbeiten im produzierenden Gewerbe: die Arbeiter der Maquilas sind in einer untergeordneten Situation. Die Firmen, die in Maquilas produzieren lassen, zahlen keine Steuern. Die anderen Firmen, die mehr Lohn bezahlen, bezahlen auch Steuern. Zehn Prozent der Einnahmen gehen an den Staat. Doch diejenigen, die in Maquilas produzieren lassen, fahren nur ihre Gewinne ein und bringen diese in ihre Heimatländer.

Wer sind die Auftraggeber vor Ort und international?
Die großen Marken, damit meine ich bekannte Marken, sind nicht die Besitzer der Fabriken in der Region. Sie haben nur Büros in Zentralamerika und geben Aufträge an Fabriken vor Ort. Die Firmen gehören vor allem Personen aus El Salvador, aber auch Koreanern. Es gibt zwei transnationale nordamerikanische Unternehmen, die ihre eigenen Fabriken in El Salvador betreiben. Diese stellen rund 24 Prozent der Angestellten in Maquilas. Das sind Fruit of the Loom und Hanesbrands. Auch deutsche Marken sind dabei. Puma, Adidas und Reebok (gehört zu Adidas) haben Produktionen in Zentralamerika und in El Salvador.

Puma und Adidas beteuern, alles Denkbare zu tun, um die Situation der Näherinnen zu verbessern. Wie ist Ihr Eindruck? Können Sie das bestätigen?
Der Punkt ist, dass diese und andere Marken versuchen, ihre Waren in mehr als nur einer Fabrik herstellen zu lassen. Oder besser gesagt: Sie dominieren nicht die Produktion in diesen Fabriken. Es ist unwahrscheinlich, eine Fabrik zu finden, in der Adidas 80 Prozent der Produktion in Anspruch nimmt. Sie lassen in verschiedenen Fabriken produzieren, sodass der Anteil 10-25 Prozent beträgt. So ist es einfach für sie zu sagen: „Wir wollen, dass die Situation sich bessert, aber die anderen Marken interessiert das nicht. Wir haben nur einen kleinen Anteil an der Produktion und für uns ist es sehr schwierig, Einfluss zu nehmen.“ Das ist Teil ihrer Taktik.

Unterstützt die Regierung in El Salvador die Beschäftigten? Wenn ja, in welcher Form?
Wer sich um das Wohlergehen der Arbeiter in El Salvador sorgen müsste, ist der salvadorianische Staat und das Ministerium für Arbeit. Sie sind laut Verfassung dazu verpflichtet, erlauben aber diesen Missbrauch, weil sie ausländische Investitionen nicht behindern wollen. Manchmal wird die Rolle des Staates El Salvador in der Diskussion um die Maquilas vergessen. Der Staat ist abwesend, wenn es um Treffen geht, um Dialoge, die die Situation verbessern sollen. Sie kennen die Situation nicht, fragen auch nicht nach und es scheint, als ob den Staat nichts interessiert. Aus diesem Grund sehe ich eine geteilte Verantwortung. Aus politischen Interessen wollen einige Leute nicht reden. Die Wahrheit kann unbequem sein.

Hat sich etwas geändert, seit mit der FMLN eine linke Partei an der Regierung ist?
Klar gab es durch die linke Regierung Veränderungen. Aber im Bezug auf das Thema, über das wir reden, habe ich keine wesentliche Veränderung bemerkt. Die transnationalen Unternehmen haben freies Feld. Sie haben Macht und Gesetze im Rücken, die ihnen zu Gute kommen.

Sie führen mittlerweile eine eigene Organisation Equipo de Investigación Laboral. Wie können Sie Ihre Arbeit beschreiben? Was sind Eure Methoden, welches die Herausforderungen?
Die Herausforderung liegt in der Finanzierung. Wir sind ein sehr kleines, sehr neues Team. Wir haben uns im letzten Jahr gegründet. Wir haben auf zwei Fälle mit relativem Erfolg Einfluss genommen. Unsere Methode ist es, mit den Arbeitern zu arbeiten, mit der Information der Arbeiter, nicht mit Informationen der Firma. Die Firma stellt immer alles schön dar und sagt, dass die Arbeiter das Problem darstellen, nicht die Firma. Unsere Arbeit ist auch sehr diskret. Ich bin nicht auf Versammlungen von Maquila-Vereinigungen gegangen, da sie den Reisepass haben wollen und diesen danach kopieren und schon ist man in einer Situation, in der man kontrolliert wird. Keine Pressekonferenzen – nie. Ich arbeite wie ein Koch. Jemand anders soll das gute Essen servieren. Anerkennung und Applaus interessieren mich nicht. Mich interessiert, meine Arbeit zu machen, und umso weniger sie mich dort kennen, umso leichter ist diese Arbeit für mich. In unserem Land ist diese Form der Arbeit wirklich schwierig.

Konnten Sie Erfolge verbuchen?
Wir haben auf zwei Fälle mit relativem Erfolg Einfluss genommen. Ein weiterer Fall stellt eher ein Scheitern dar. Ein erster Erfolg ist die Einführung eines Verhandlungstisches in dem Unternehmen „young one“, Hersteller für Northface. Bei einem anderen Fall in Honduras wurde die Zahlung von ausstehenden Gehältern anerkannt und die Verhandlung über einen kollektiven Vertrag für August dieses Jahres angestoßen. Das scheint recht wenig, aber, da wir eine kleine, neue Organisation mit Finanzierungsschwierigkeiten sind, sind dies wahre Errungenschaften. Sie kommen mehr als 2.000 Arbeitern zu Gute.
Als wir eine „nicht autorisierte“ Produktion für Puma in einer üblen Fabrik entdeckten, war das leider eher ein Misserfolg. Diese Fabrik entsprach dem, was man auf Englisch einen Sweatshop nennt. Die Entdeckung dieser Produktionsstätte zog den schnellen Rückzug Pumas nach sich, aufgrund der schlechten Presse. Nur hat Puma immer wieder verlauten lassen, dass die Produktion nicht autorisiert gewesen sei und keine Geschäftsbeziehung bestanden hätte. Aber wenn keine Geschäftsbeziehung bestanden hat, heißt das ja auch, dass die produzierte Kleidung, 60.000 Stück, nicht verkauft wurde. Das Geld haben sie natürlich genommen, dementsprechend gab es auch eine Geschäftsbeziehung.

Kooperieren die großen Marken oder erschweren sie die Untersuchungen?
Die großen Marken zahlen keine besseren Gehälter als die günstigen Marken. Der Lohn ist der Mindestlohn. Manchmal sind ihre Fabriken besser ausgestattet, aber manchmal sind sie auch identisch. Es ist ein Mythos zu sagen, dass bei teureren Marken die Arbeiter zufriedener sind. Das ist nicht so. Die Firmen haben auf die harte Tour gelernt, dass negative Öffentlichkeit ihnen keinen Gewinn bringt. Sie halten sich an das Gesetz, aber was sie nicht tun müssen, was über das Gesetz hinausgeht, das machen sie nicht.

Was ist für Sie die bessere Methode – Angriff oder Dialog?
Das ist nicht einfach schwarz oder weiß. Man muss jeden Fall analysieren, die Möglichkeiten sehen. Wir können nicht sagen, dass die Marke sich in jedem Fall immer gut oder immer schlecht verhält. Man muss die effektivste Methode suchen. Worte reichen jedenfalls nicht. Die Marken brauchen einen Verhaltenskodex. Und wenn sie diesen haben, sollen sie ihn einhalten. Und wenn es keinen existenzsichernden Lohn gibt, sollen sie diesen einführen. Denn wenn nicht, ist es keine „saubere Kleidung“. Der Lohn ist das Fundamentale. Alles andere kann Dekoration sein. Was nützt eine saubere Fabrik, in der alles korrekt beschildert ist, mit schönen sanitären Einrichtungen und du kommst nach Hause und musst feststellen, dass die Fabrik schöner ist als dein Haus?

Was müsste sich dringend ändern und wer kann diese Veränderungen bewirken?
Wir sind produzierende Länder. Der Schlüssel liegt für mich bei den Konsumenten. Daten von vor vier Jahren besagen, dass jeder Nordamerikaner 22 Kleidungsstücke im Jahr gekauft hat. Multipliziert man 300 Millionen Bewohner Nordamerikas mit 22 Kleidungsstücken pro Person, kommen wir zu einer enormen Menge.

Weniger Konsum bedeutet ja aber nicht automatisch, dass die Arbeitsbedingungen sich verbessern, oder?
Wir befinden uns in einem Kreislauf. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Frage ist, wie wir diesen Kreislaufen unterbrechen. Darauf habe ich allerdings keine Antwort. Aber immerhin kann ich sagen, dass die zentralamerikanischen Länder aufhören müssten, in einem Wettbewerb untereinander zu stehen, wer die besseren Konditionen für die transnationalen Unternehmen anbieten kann. Unsere Rivalen sind unsere armen Nachbarn. Die Arbeiter aus den Maquilas in El Salvador müssen mit den Arbeitern aus den Maquilas in Honduras konkurrieren. Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Unternehmen, auch die Gewerkschaften müssen sich einig werden. Wir tragen auch selbst Verantwortung als gewerkschaftliche oder soziale Organisationen. Wir müssen eine Plattform für unsere Gemeinsamkeiten schaffen, um zu sehen, wie wir wirkungsvoll für die Arbeiter kämpfen können.

Was müssten die Konzerne tun, um die Situation zu verbessern?
Firmen existieren, um Geld zu erwirtschaften. Sie sind keine Armenhäuser. Sie sind keine sozialen Wohltäter, sondern Geldmaschinen. Und ich glaube, dort muss man ansetzen. Zu sehen, was Konzerne eigentlich sind. Ich habe keine hohen Erwartungen an sie. In Krisenzeiten schließen sie Produktionen an einem Ort und bringen sie an einen anderen, da sie nur der maximale Gewinn interessiert. Sie interessieren sich nicht für die Arbeiter, Gewerkschaften oder die Zivilgesellschaft. Aber sie versuchen, keine negativen Schlagzeilen zu machen. Um diese zu verhindern, entstanden die Verhaltenskodizes, freiwillig von den Unternehmen eingeführt. Verbesserungen darüber hinaus, das wäre wie von einem Löwen zu verlangen, vegetarisch zu leben. Das ist sehr schwierig. Ich sage ganz ehrlich, ich habe keine Antwort und möchte auch keine erfinden. Ich weiß es nicht, ich bin alt, die neue Generation muss sich etwas überlegen, etwas erfinden.

Sergio Chávez
ist Experte für Arbeitsrechte in der Bekleidungsindustrie. Seit Jahren kämpft er für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie Zentralamerikas. Während des Bürgerkriegs in El Salvador (1980-1992) wegen der tödlichen Repression von Gewerkschaftsarbeit zur Flucht gezwungen, kehrte er nach Kriegsende wieder zurück und leitete das Nationalbüro des NLC (National Labour Rights Committee). Letztes Jahr hat er die Organisation „Equipo de Investigación Laboral“ (dt. Team zur Untersuchung von Arbeitsbedingungen) gegründet, mit der er Recherchen in Fabriken durchführt, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Dafür schleusen sie auch Frauen als Näherinnen in die Fabriken ein.

Die Maquila-Industrie
„Maquila“ hieß in der Kolonialzeit Mexikos der Anteil, den ein Müller für das Mahlen von Getreide einbehalten durfte. So wie dieser das Korn zu Mehl weiterverarbeitet hat, werden in den heutigen Produktions- und Montagebetrieben der Maquiladoras bzw. Maquilas Rohstoffe oder importierte Einzelteile zusammengesetzt und die Endprodukte exportiert. Ab den 1960er Jahren entstanden sie zunächst in der mexikanischen Grenzregion zu den USA, in Freihandelszonen sollten sie durch Billiglöhne und Steuervergünstigungen Arbeitsplätze schaffen. Nicht nur die Löhne, sondern auch die fehlende Sicherheit und das Verbot von Gewerkschaften sorgen allerdings für miserable Arbeitsbedingungen, unter denen mehr als eine Million Arbeiter*innen der Maquilas leiden, mehrheitlich Frauen.
Dieses Wirtschaftsmodell hat auch in Zentralamerika Anklang gefunden – mit all seinen Problemen. Allein in der Textilindustrie arbeiten hier 58 Prozent bzw. mehr als 263.000 Frauen. In El Salvador sind 80 Prozent der 72.000 Beschäftigten Frauen. Vor allem nordamerikanische, aber auch europäische Marken profitieren von Steuerbefreiungen, während die Arbeiter*innen mit einem zu niedrigen Mindestlohn bezahlt werden. In einer Studie berichtet die Organisation Oxfam über die unwürdigen Arbeitsbedingungen der Maquilas in Honduras. Um die Anforderungen der Produktion zu erfüllen, reichen Überstunden nicht mehr aus und die Arbeiter*innen sind gezwungen, besondere „Strategien“ anzuwenden: Fast 80 Prozent der befragten Personen stehen nicht von ihrem Arbeitsplatz auf, die Hälfte schränkt die Essenspause ein und gar 40 Prozent trinken kein Wasser, um nicht auf Toilette gehen zu müssen.
LN


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