Chile | Nummer 449 - November 2011

„Wir brauchen eine Änderung der Verfassung“

Die Proteste für eine gerechte Bildung in Chile gehen unvermindert weiter

Obwohl von Seiten der Regierung schon ein Ende der Bewegung prophezeit worden war, werden die Proteste für eine kostenlose Bildung immer selbstbewusster, ihre Forderungen immer weitgehender. Der offizielle Diskurs ist aber weiterhin von Diffamierung und Kriminalisierung geprägt.

David Rojas-Kienzle

„Ein Attentat auf die Freiheit“ – laut Präsident Sebastián Piñera wäre öffentliche, gebührenfreie Bildung nichts anderes als das. Auch ansonsten wird von Regierungsseite eifrig daran gearbeitet, die Bildungsproteste in Chile zu delegitimieren. Nachdem die Regierung zwischenzeitlich postuliert hatte, die Bewegung sei kurz vor dem Niedergang, fand am 22. September erneut eine Großdemonstration in Santiago de Chile mit mehr als 100.000 Teilnehmer_innen statt, womit sich diese Behauptung als falsch erwies. Wahr ist, dass es zwischenzeitlich Konflikte innerhalb der Bewegung gab. Vor allem Camila Vallejo wurde von einigen Studierendenvertreter_innen als nicht mehr repräsentativ kritisiert, da an den Verhandlungen mit der Regierung teilweise kommunistische und sozialistische Oppositionspolitiker_innen teilnahmen.
Mittlerweile sind die Kritiken innerhalb der Bewegung aber verstummt, und die Regierung ließ über den Regierungssprecher Andrés Chadwick verlauten, es sei ein Fehler gewesen, von einer „Abnutzung der Bewegung“ zu sprechen.
Die Anerkennung der Stärke der Bewegung hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Forderungen der Studierenden als ernstzunehmender Vorschlag aufgefasst werden. Präsident Piñera behauptet, die Regierung sei gegen kostenlose Bildung, da „erstens Chile nicht in der Lage ist, dieses Ziel, zu erreichen, und es zweitens ungerecht ist, mit den Steuern, die die Ärmsten in unserem Land zahlen, die Bildung für die Reichsten zu finanzieren.“
Die Behauptung der Regierung, kostenlose Bildung sei in Chile unmöglich, hat auch dazu geführt, dass die Studierendenvertreter_innen erneute Verhandlungen mit der Regierung abgebrochen haben. Davor hatte es so gewirkt, als ob die Regierung schlussendlich doch auf die Studierenden eingehen würde, hatte sie doch angekündigt, die Ausgaben für Schulen und Universitäten im kommenden Jahr um sieben Prozent zu erhöhen. Nachdem dann die Studierenden aber ihren Druck fortsetzten, um ihrer Forderung nach kostenloser Bildung Nachdruck zu verleihen, zeigte sich, dass die Regierung am Grundprinzip von gebührenpflichtiger Bildung ohne Wenn und Aber festhält. Ihr Kompromissvorschlag sah lediglich vor, Stipendien an die ärmsten 40 Prozent der Studierenden zu vergeben. Die zu großen Teilen private Finanzierung der Bildungseinrichtungen soll aber beibehalten werden, obwohl die OECD erst kürzlich feststellte, dass Chile das Mitgliedsland mit dem größten Anteil an eben dieser privaten Finanzierung sei.
Dass die Studierenden diesen Kompromiss ablehnen, der im Gegensatz zu der wegen des Pinguinaufstands (siehe LN 385/386) von der Regierung Bachelet verabschiedeten Gesetzesänderung im Jahr 2006 ein großer Fortschritt wäre, zeugt von gewachsenem Selbstbewusstsein der Studierenden. „Unter diesen Bedingungen ist es unmöglich weiter am Verhandlungstisch zu bleiben“, meinte Studierendensprecherin Camila Vallejo. Leisten können sich die Studierenden ihre harte Linie auf jeden Fall, ist die Popularität von Sebastian Piñera und seiner Regierung wegen der Proteste doch immer noch äußerst niedrig, während die Studierenden weiterhin von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt werden. Zusätzlichen Aufwind haben die Protestierenden durch ein von einer großen Gruppe verschiedener Organisationen am 7. und 8. Oktober durchgeführtes Plebiszit erfahren. An diesem nahmen rund eineinhalb Millionen Chilen_innen teil, was gut zehn Prozent der Bevölkerung entspricht, von denen sich 87,15 Prozent der Forderung nach einer kostenlosen Bildung und einem verbindlichen Plebiszit zur Lösung des Konflikts anschlossen. Beispielhaft für den Umgang der Regierung mit basisdemokratischer Initiative steht die Äußerung von Senator Víctor Pérez von der postfaschistischen UDI (Demokratische Unabhängige Union): „Ein ernstzunehmendes Land regiert man nicht mit Plebisziten im kubanischen und chavistischen Stil.“
Genauso konstant wie die Unbeweglichkeit der Regierung bei inhaltlichen Fragen bleibt auch die Gewalt gegen die Aktivist_innen im Land. Bei einer Demonstration am 6. Oktober in Santiago wurden mehr als 130 Demonstrant_innen festgenommen, die aber zu großen Teilen direkt danach wieder freigelassen werden mussten. Berichte über Übergriffe auf friedliche Demonstrant_innen sind nach jeder Demonstration zu hören. In Temuco, im Süden des Landes, wurde ein Wohnheim studierender Mapuche gestürmt und von Polizisten verwüstet, was landesweite Empörung in der Studierendenbewegung auslöste.
Neben der physischen Gewalt wird auch juristisch daran gearbeitet, den Protesten Raum für Entfaltung und Legitimität ihrer Aktionsformen zu nehmen. Piñera und sein Kettenhund, Innenminister Rodrigo Hinzpeter, kündigten einen Gesetzesentwurf an, mit dem sie gegen „Kriminalität, gegen diejenigen, die gegen öffentliche Ordnung und somit gegen die Rechte und Freiheiten der immensen Mehrheit der Chilenen handeln“ vorgehen wollen. Diese Maßnahme bedeute vor allem, dass das Besetzen einer Schule oder Universität keine Ordnungswidrigkeit mehr wäre, sondern eine Straftat, die mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann. Gleichzeitig soll auch das Tadeln eines Polizisten unter Strafe gestellt werden – eine politische Maßnahme, um die Justiz noch mehr zur Waffe gegen die Proteste zu machen.
Doch die Proteste bekommen mittlerweile auch Unterstützung von unerwarteter Seite. Michelle Bachelet, von 2006 bis 2010 Präsidentin des Landes, die sich die letzten fünf Monate nicht zu den Protesten geäußert hatte, erachtete es wohl als opportun, sich nun, da klar ist, dass die Schüler_innen und Studierenden nicht klein beigeben werden, zu äußern. In dem Interview mit dem Radiosender Radio Cooperativa meinte die Ex-Präsidentin, dass Chile heute eine „enorme Chance“ habe, „das Bildungssystem zu verbessern“, eine Chance, die sie während ihrer Regierungszeit nicht gehabt habe, da sie nicht mit der Unterstützung der Rechten rechnen konnte, als sie das Bildungssystem ändern wollte. Auch von dem unabhängigen Präsidentschaftskandidaten von 2010, Marco Enríquez-Ominami, kam Unterstützung. Vor den letzten Verhandlungen der Studierendenvertreter_innen mit der Regierung meinte er, die Studierenden sollten auf keinen Fall ihre Forderungen abschwächen.
Die Anbiederungsversuche von Parteipolitiker_innen haben jedoch bis dato wenig Eindruck bei den Studierenden und Schüler_innen hinterlassen. Mittlerweile werden die Forderungen ob des Rückenwinds, den sie haben, immer weitreichender. „Wir brauchen eine Änderung der Verfassung“ so Camila Vallejo im Interview mit der Zeitung el ciudadano. Der Kampf für eine gerechte und kostenlose Bildung geht in Chile unvermindert weiter.

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