„Wir können uns keine Fehler leisten“
Interview mit dem Ökonomen Omar Everleny Pérez Villanueva über den Fortschritt der Wirtschaftsreformen in Kuba
Vielen Unternehmer_innen in Kuba geht es nicht schnell genug mit den Reformen. Warum mahnt Raúl Castro zur Geduld statt den Umbau der kubanischen Wirtschaft wie auf dem Parteitag beschlossen voranzutreiben?
Es passiert doch kontinuierlich etwas. Jede Woche gibt es eine neue Maßnahme, neue Bestandteile einer Reform. Am 20. Dezember wurde eine Maßnahme bekannt gegeben, am 23. Dezember eine weitere; nun am 4. Januar wieder eine – es geht schon voran, aber in kleinen Schritten.
In sehr kleinen Schritten, denn die Reform des Gesetzes 259, welches die Landwirtschaft im zweiten Anlauf wieder flott machen soll, wurde vertagt…
Die Entscheidungen sind gefallen, nur die Ausformulierung zum Gesetz scheint nicht fertig zu sein. Unstrittig ist, dass die Bauern das Land länger vom Staat zur Verfügung gestellt bekommen; unstrittig ist auch, dass die Bauern auf dem Land nun Häuser, Lagerhallen und dergleichen bauen dürfen. Es ist nicht so, dass hier nichts passiert. Vor ein paar Tagen sind Maßnahmen beschlossen worden, die den einkommensschwachen Schichten ermöglichen, Baumaterialien zu kaufen und ihre Häuser zu reparieren – dafür soll es auch Kredite geben.
Seit Monaten warten die Selbständigen in Kuba auf die Einrichtung von Großmärkten, um Arbeitsmaterialien zu kaufen. Warum lässt man die Leute so lange warten?
Die Leitlinien zur wirtschaftlichen Neuausrichtung reichen bis in Jahr 2015 und es gibt einen Zeitplan. Man will nichts überstürzen und es gibt Leitlinien, die schnell umgesetzt werden können wie die Aufhebung von Verboten, andere sind komplexer und brauchen mehr Zeit. Geplant ist aber, dass in den Jahren 2012 und 2013 die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden. Die wichtigsten Maßnahmen, so hat es Marino Murillo Jorge, der Beauftragte für die Umsetzung der Beschlüsse des Parteitags angekündigt, werden derzeit ausgearbeitet. Zudem hat es einige Maßnahmen in den letzten Woche gegeben, die für Schlagzeilen gesorgt haben – der freie Autoverkauf, der freie Hausverkauf, die ersten Maßnahmen in der Landwirtschaft, die Kreditprogramme…
Dennoch: Wenn man in Havanna mit Handwerker_innen und Selbständigen im gastronomischen Sektor spricht, fällt immer wieder das Wort Großmärkte. Warum gibt es die bisher immer noch nicht? Warum müssen die Selbständigen ihre Produkte zu Einzelhandelspreisen kaufen?
Bisher gibt es diese Märkte nicht, aber es wurden im Dezember die ersten Maßnahmen verabschiedet, die in diese Richtung gehen. Es soll einen Preisnachlass von 20 Prozent für Lebensmittel in Großhandelsmengen geben – zum Beispiel werden 5-Liter-Kanister mit Speiseöl und Mehlsäcke für die Gastronomie billiger.
Ein Schritt, aber noch keine Lösung.
Ja, aber man muss auch etwas Geduld haben, wie Raúl Castro mehrfach angemahnt hat. Alle Welt will einen schnellen Reformprozess, aber ich ziehe eine langsamen und dafür soliden Weg vor. Wir können uns keine Fehler leisten. Man muss auch bedenken, dass es bis heute keine Rückschläge gibt – keine Maßnahme wurde zurückgenommen. Es geht nur in eine Richtung.
Wie sieht es denn im Bereich der freiberuflichen Tätigkeit aus? Wird es in absehbarer Zeit Neuerungen geben?
Ja, es gibt neue Pläne, aber keine konkreten Zeitpunkte. Aber eine interessante Maßnahme gibt es. Die staatlichen Reparaturunternehmen sollen allesamt privatisiert werden. Das betrifft Elektriker, die Fernseher, Radios oder Uhren und Nähmaschinen reparieren. Aus diesen Bereichen wird der Staat sich zurückziehen. Bisher gibt es rund 340.000 erteilte Lizenzen für die Freiberuflichkeit in Kuba – diese Zahl soll weiter zunehmen und hat sich 2011 fast verdoppelt.
Wie steht es um die anvisierten Kredite von Seiten des Staates? Hat die Regierung ausreichend Kapital, um diese Kredite zu gewähren?
In nationaler Währung ja, in harten Devisen nicht. Mit den Krediten betreten wir Neuland, denn Kredite in nationaler Währung und in CUC, dem Devisenpeso, hat es bisher in Kombination nicht gegeben. Da muss sich das Banksystem vollkommen neu aufstellen.
Warum hat die Regierung in Havanna bisher die Angebote aus Brasilien und der EU nicht angenommen sich bei den Kreditprogrammen helfen zu lassen? Mehr als 20 Millionen US-Dollar wurden angeboten.
Es hat eine Reihe von Angeboten gegeben, aber die Regierung will anscheinend mit den eigenen Ressourcen zurechtkommen. Ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu Kreditprogrammen kommen wird, die vom Ausland finanziert werden, muss man abwarten. Der Prozess geht etwas langsam voran, das ist richtig.
Welche Bedeutung hat die Bohrinsel, die seit einigen Wochen vor Kuba nach Öl bohrt?
Aus ökonomischer Perspektive keine, denn selbst wenn man Öl finden sollte, wird es mindestens fünf Jahre dauern bis gefördert werden kann. Aber natürlich gibt es eine große Hoffnung, dass Öl in kommerzialisierbarer Menge und Qualität gefunden wird. Sollte das eintreten, dann wird es auch Geld für die Förderplattformen geben. Kuba könnte zum Ölexporteur werden oder zumindest unabhängig von Importen und das wäre schon ein großer Schritt für die Erholung der Wirtschaft. Derzeit importieren wir ungefähr 50 Prozent unseres Erdölbedarfs.
Ist denn die Produktivität gestiegen? Es hat den Anschein, dass sich die Regierung schwer tut Maßnahmen wie die Legalisierung von kleinen Genossenschaften umzusetzen.
Grundsätzlich stellt uns hier die Alterung der Bevölkerung vor neue Aufgaben. Der Anteil der Jungen ist stark rückläufig und der Anteil der älteren Menschen steigt kontinuierlich. Wer soll dann für die Alten in Zukunft arbeiten? Wir müssen deswegen die Produktivität erhöhen, dazu gibt es keine Alternative. Das Genossenschaftsgesetz wird in diesem Jahr verabschiedet werden. Es betrifft den nicht-landwirtschaftlichen Sektor und kann einiges zu mehr Produktivität beitragen.
Gibt es ein konkretes Datum?
Nein, nein, konkrete Daten werden nie im Vorfeld bekannt gegeben.
Viele der Maßnahmen, die angedacht sind und in diesem Jahr umgesetzt werden sollen, kosten Geld. Wie steht es um die finanzielle Situation der Regierung?
Es gibt sicherlich nicht genug Geld, aber anders als früher setzt die Regierung auf eine restriktive Geldpolitik. Die hat es ermöglicht, dass das Gros der Schulden bei den Unternehmen, die in Kuba agieren, bezahlt wurden. 2009 wurden mehrere Konten eingefroren, weil Kuba in finanziellen Schwierigkeiten war. Diese Konten sind nun allesamt wieder frei und die Außenstände bezahlt. Derzeit gibt es die Leitlinie, Schulden zu zahlen, speziell die kurzfristigen Verbindlichkeiten mit China und anderen Ländern zu begleichen. Ohne die Bedienung der Schulden wird Kuba keine neuen Kreditlinien erhalten, so einfach ist das und deshalb versucht die Regierung besser zu wirtschaften. Wir wollen unsere finanzielle Situation verbessern, aber derzeit sind die Beträge, die ins Land kommen, noch zu gering.
Bis zum 1. April 2011 sollten eigentlich eine halbe Million Kubaner_innen in staatlicher Beschäftigung entlassen werden, um das Budget zu entlasten. Die Entlassungen wurden im Februar aber unterbrochen. Sollen sie wieder aufgenommen werden?
Sie wurden nie ganz eingestellt, aber es ist richtig, dass nie die Zielperspektive erreicht wurde. Es sind 127.000 Kubaner entlassen worden und ich bin der Meinung, dass man das eine mit dem anderen kombinieren muss – Reformen mit Entlassungen. Das ist genauso wichtig, wie die Löhne zu erhöhen. Natürlich ist es Ziel, die Unterbeschäftigung zu beenden, doch das geht nur graduell und sollte kombiniert werden mit Lohnanreizen. Ich glaube, dass wir in diesem Jahr etwas produktiver werden.
Wo sehen Sie die wichtigsten Herausforderungen? In der Landwirtschaft?
Da sind erste Ansätze zu sehen, es gibt einige Anbauprodukte, bei denen die Erträge gestiegen sind. Ich denke, dass es eminent wichtig ist, dass die Leute sehen, dass es vorangeht, dass sich etwas bewegt. Immerhin wurde mehr als eine Million Hektar Fläche an Klein- und Neubauern verteilt – da sollten sich Erfolge einstellen, denn grundsätzlich produzieren die privaten deutlich mehr als die staatlichen Unternehmen. Das liegt nicht nur an den Besitzverhältnissen, sondern auch an den Produktionsverhältnissen und den Strukturen. Wie organisieren sich die Bauern, wie verkaufen sie ihre Produkte und so fort. Das sind Herausforderungen, vor denen wir stehen, und wir müssen es schaffen, die Bauern zu animieren, die Erträge zu steigern. Zudem müssen wir auch Mittel für Investitionen generieren.
Woher sollen die kommen? Die Regierung hat kaum Mittel und die Investor_innen stehen nicht gerade Schlange.
Die Regierung sucht Investoren für Großprojekte und einige schreiten voran, wie der Ausbau des Hafens von Mariel, für den Brasilien Kredite gewährt hat. Der Ausbau der Raffinerie in Cienfuegos geht dank der Kredite aus China und Venezuela voran. Daneben gibt es kleinere Projekte, doch generell erwarte ich mehr Investitionen erst im Jahr 2013.