Nummer 456 - Juni 2012 | Queer

„Wir sind keine Geisteskranken“

Interview mit der Trans*-Aktivistin Amancay Diana Sacayán zum neuen Gesetz über die Geschlechtsidentität in Argentinien

Am 9. Mai 2012 beschloss der argentinische Senat die Einführung des Gesetzes über die Geschlechtsidentität. Damit gibt es weltweit erstmals in einem Land ein umfassendes Gesetz, das vor allem die Rechte von Trans*-Personen stärkt. Es enthält unter anderem das Recht auf die selbstbestimmte Entscheidung, Änderungen des Geschlechtseintrags, des Vornamens und des Fotos in Personaldokumenten vornehmen zu lassen – ohne sich dafür einer chirurgischen, hormonellen oder psychologischen Behandlung unterziehen zu müssen. Gleichzeitig ist vorgeschrieben, dass jede Person kostenlosen Zugang zu solchen geschlechtsangleichenden Maßnahmen bekommt, wenn sie dies wünscht. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Amancay Diana Sacayán, Redakteurin der argentinischen Trans*-Zeitschrift El Teje und Mitglied des Nationalen Bündnisses für das Gesetz über die Geschlechtsidentität (FNLIG).

Interview: Sebastian Henning

Frau Sacayán, nach vielen Jahren des Kampfes ist in Argentinien das Geschlechtsidentitätsgesetz angenommen worden. Was sind die wichtigsten Folgen für Trans* (Travestis, Transsexuelle und Transgender)?

Das wichtigste Ergebnis besteht in der Möglichkeit der Personenstandsänderung: Die Standesämter sind verpflichtet, eine neue Geburtsurkunde auszustellen, in der das von der Person selbst empfundene Geschlecht steht. Das Verfahren ist einfach, schnell und kostenlos. Zum anderen müssen staatliches und privates Gesundheitssystem jedem Menschen kostenlosen Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen gewähren. Dies beinhaltet chirurgische Eingriffe und Hormonbehandlung und erfordert keinerlei vorherige Genehmigung durch Gerichte oder Behörden.

Wird es ein Monitoring zur Umsetzung des Gesetzes in allen Landesteilen und Konsequenzen in Fällen der Verweigerung der zu gewährenden Rechte geben?

So etwas ist geplant. Dabei ist es wichtig, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Behörden gibt. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Gesetz überall gewissenhaft umgesetzt wird.

Während andere Organisationen, wie die Argentinische Föderation der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans* (FALGBT), für ein schrittweises Vorgehen mit zwei getrennten Gesetzen plädierte, forderte Ihr Bündnis die gemeinsame Behandlung von Personenstandseintrag und medizinischen Leistungen in einem einzigen Gesetz. Warum?

Wir können ehrlich gesagt nicht verstehen, warum der Föderation die Einbeziehung der Gesundheitsfragen nicht so wichtig war. Für uns ist der kostenlose Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen essenziell. Viele Trans*-Personen waren in der Vergangenheit gezwungen, auf illegale Behandlungsmethoden zurückzugreifen, was in einigen Fällen zum Tod führte. Oftmals schlugen Chirurg_innen des privaten Gesundheitssystems außerdem Kapital aus der Situation und verlangten horrende Preise für Maßnahmen, deren Erfolg vorher oft nicht abzusehen ist. Auch mussten wir jahrelang warten und unangenehme Gerichtsprozesse durchmachen, bis ein Gericht schließlich zustimmte. Wir waren bisher gezwungen, uns von ärztlichen und psychologischen Gremien pathologisieren zu lassen.

In Argentinien arbeiten viele Trans*-Frauen als Sexarbeiter_innen, eine Folge der Diskriminierung im Bildungswesen und in der Arbeitswelt. Das neue Gesetz bietet sicherlich mehr Schutz vor dem Machtmissbrauch durch Polizeikräfte. Wodurch kann die Situation von Sexarbeiter_innen weiter verbessert werden?

In dem Spektrum, aus dem ich komme, sprechen wir davon, dass, wer zu so etwas gezwungen ist, Prostitution ausübt. Diese als Arbeit zu verstehen und gewerkschaftliche Rechte in dem Bereich durchsetzen zu wollen, halten wir für absurd. Es wäre, als ob man die Sklaverei legalisieren wollte.

Wie erklären Sie sich, dass das Gesetz im Senat fast einstimmig beschlossen wurde – unabhängig von der politischen Zugehörigkeit?

Dieses Abstimmungsverhalten ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist das Ergebnis langandauernder Anstrengungen der Trans*-Aktivist_innen – und das trotz beschränkter Ressourcen. Es hat wirklich lange gedauert, bis unsere Bewegung ein Ende der Exklusion, der Ausklammerung des Themas oder sogar der Verfolgung erreichen konnte.

Auf welche Dinge wird sich die Trans*-Bewegung jetzt konzentrieren?

Wir arbeiten in dem Projekt „Mocha Celis“ an einem verbesserten Zugang zu Bildung, durch die Schaffung einer Einrichtung, an der Trans* das Abitur nachholen können. Des Weiteren fordern wir vom Ministerium für Arbeit einen gleichberechtigten Zugang zum Recht auf Arbeit. Dazu gehören Weiterbildungsmaßnahmen der beruflichen Bildung, die Unterstützung von Kleinstunternehmen sowie die Förderung von Genossenschaftsgründungen.

Die Organisationen FALGBT und Homosexuelle Gemeinschaft Argentiniens (CHA) haben die Kampagne für das Gesetz unterstützt. Der Christopher Street Day in Buenos Aires trug die Forderung in den letzten zwei Jahren im Motto. Ist der Eindruck richtig, dass Trans* innerhalb der LGBT-Community sehr respektiert sind, dass eine große Sensibilität gegenüber den anstehenden Aufgaben herrscht?

Die CHA war Teil unseres Bündnisses; die FALGBT hat sich jedoch äußerst unfair und egoistisch verhalten. Sie hat versucht, unser langjähriges Engagement unsichtbar zu machen – nur um sich selbst zu profilieren. Das Gesetz wurde jedoch von uns erkämpft und nichts in der Welt kann diesen Fakt auslöschen.

Worin bestehen die Unterschiede zwischen dem Gesetz in Argentinien und dem uruguayischen Geschlechtsidentitätsgesetz, das bereits 2009 beschlossen wurde?

Das vom uruguayischen Senat verabschiedete Gesetz hält an der Pathologisierung fest und verlangt immer noch das Beschreiten des Rechtswegs. Das argentinische Gesetz hingegen ist die erstmalige Umsetzung der Yogyakarta-Prinzipien, einem Katalog der die Menschenrechtspakte in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität durchdekliniert und konkretisiert.

Warum ist es wichtig, auch weiterhin die Kampagne STP-2012, mit dem Ziel der Streichung von Transgeschlechtlichkeit aus dem Krankheitskatalog der Weltgesundheitsorganisation, fortzusetzen?

Weil die Menschheit verstehen muss, dass wir keine Geisteskranken sind, und dass wir ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaften sind, in denen wir leben. Es kann uns einfach niemand verweigern, uns mit unseren Erfahrungen und unserem Wissen einzubringen.

Glossar:

Intersexuelle // Menschen, die aufgrund verschiedener körperlicher Merkmale von Geburt an nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.

LGBTI // Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intersexuelle.

Trans* // Oberbegriff für Menschen mit transgeschlechtlichen Identitäten. Er umfasst sowohl Transgender-Personen, die das Überwinden von Geschlechterkategorien anstreben, als auch Transsexuelle, die eine Geschlechtsangleichung innerhalb der gegebenen Kategorien wünschen.

Transgender // Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit den ihrem anatomischen Geschlecht zugewiesenen sozialen Rollen und Praktiken identifizieren können.

Transsexuelle // Menschen, deren anatomisches Geschlecht bei Geburt nicht der selbst empfundenen Geschlechtsidentität entspricht und die eine Angleichung ihres Körpers an diese Identität wünschen.

Travestis // (span.) Subkulturelle Selbstbezeichnung für Transgender mit ursprünglich männlicher Zuordnung, die selbstbestimmt ihre geschlechtliche Identität leben und definieren und ihre Körper teilweise modifizieren, etwa mittels der Einnahme weiblicher Hormone und der Injektion von Silikon.

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