Argentinien | Nummer 393 - März 2007

„Wir wollen unser solidarisches Modell globalisieren“

Interview mit José Abelli von der Nationalen Bewegung Wiederangeeigneter Betriebe (MNER) über selbstverwaltete Betriebe in Argentinien

Seit dem Massensterben argentinischer Betriebe und den anschließenden Besetzungen und Wiederaneignungen durch ihre ArbeiterInnen wurden sie von den einen als Alternative zur kapitalistischen Produktion gefeiert. Die meisten jedoch hielten sie für ein reines Krisenphänomen. Die Zahl der demokratisch geleiteten Betriebe nimmt jedoch unvermindert zu.

Jannes Bojert

Den MNER gibt es jetzt schon fast sieben Jahre. Glaubst du, die Bewegung hat ihren Höhepunkt schon hinter sich oder wächst sie noch weiter?

Das wird immer wieder diskutiert in Argentinien. Vor allem von links hören wir permanent, wenn es der Wirtschaft besser ginge, würde es bald keine Kooperativen mehr geben. Aber 2006 sind weitere zehn Betriebe wiederangeeignet worden. Natürlich liegt noch viel vor uns. Insgesamt sind es jetzt um die 200 Betriebe von 80.000, die während der 1990er Jahre in den Ruin getrieben wurden. Darüber hinaus haben wir allerdings auch schon angefangen eigene, neue Betriebe zu gründen.

Also eine einzige Erfolgsgeschichte oder hat es auch Krisen oder Rückschläge gegeben?

Ja, letztes Jahr haben wir die Bewegung in der Krise gesehen. Mitte des Jahres wurde Eduardo Murúa, einer der Gründer des MNER, von der Organisation H.I.J.O.S. (Organisation der Kinder von Verschwundenen, Anm. d. Red.) angeklagt, einen Kredit über 400.000 US-Dollar veruntreut zu haben, den die Organisation der selbst verwalteten Aluminiumfabrik IMPA gewährt hatte. Das Geld stammte von den Entschädigungen für ihre verschwundenen Eltern und sollte dem Betrieb IMPA in Buenos Aires, dessen Präsident Murúa damals war, helfen, die Produktion aufrecht zu erhalten. Als einige der H.I.J.O.S. ihr Geld zurück haben wollten, war die IMPA dazu nicht in der Lage. Später stellte sich heraus, dass der Betrag nirgendwo in den Geschäftsbüchern der IMPA auftaucht. Die Aluminiumfabrik und Eduardo selbst waren schon so etwas wie Symbole der Bewegung, deshalb meinen viele, die Krise der IMPA sei eine Krise der ganzen Bewegung.

Laufen die Besetzungen und Wiederaufnahmen der Betriebe heute noch immer so ab wie zu Beginn? Oder hat sich da etwas geändert hinsichtlich der Behandlung von Seiten des Staates? Gesetzlich hat sich doch einiges getan.

Wichtiger noch als die gesetzlichen Reformen sind die politischen Veränderungen. Seit Kirchner an der Regierung ist, gibt es eigentlich keine Repression mehr. Er empfängt uns sogar in der Casa Rosada, dem Regierungspalast in Buenos Aires, und diskutiert mit uns. Auch wenn dabei für uns noch nichts raus gesprungen ist, Repression gibt es keine mehr.

Was versucht ihr in diesen Gesprächen mit der Regierung Kirchner zu erreichen?

Vor allem eine Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben. Wenn man sich mal den argentinischen Haushalt für 2007 ansieht, findet man da einen Posten von 37 Milliarden Peso an Subventionen für die Privatwirtschaft. Der öffentliche Transport ist defizitär wie überall sonst auf der Welt, also müssen die privatisierten Staatsunternehmen unterstützt werden. Ein weiterer Teil dieses Geldes geht in den Finanzsektor, an die Banken, die Argentinien so betrogen haben. Man glaubt sie seien nicht rentabel und sie würden pleite gehen, wenn man sie nicht unterstützt. Und es gibt kein modernes Land ohne Banken. Und ein weiterer großer Teil dieser Summe sind Steuerabschreibungen. Alle großen Unternehmen behaupten sie würden investieren, bezahlen keine Steuern mehr.
Um die legitime Beschäftigung in den selbst verwalteten Betrieben aufrecht zu erhalten und zu unterstützen, hat der Staat gar kein Budget. Gleichzeitig gibt der Staat im Jahr 10.000 bis 12.000 Peso pro Arbeitslosen aus. Das was davon für den Arbeitslosen selbst bleibt, ist sehr wenig und nicht ausreichend. Unserer Meinung nach sollte der Staat lieber in die Schaffung von Arbeitsplätzen in den selbst verwalteten Betrieben investieren. Das hilft nicht nur dem Einzelnen, der Arbeit hat, sondern indirekt auch der gesamten Gesellschaft, da der Arbeiter Steuern und Sozialabgaben zahlt.
Und der Arbeiter oder die Arbeiterin bewahrt die eigene Qualifikation…
Seine Qualifikation und seine Würde. Also wenn der Staat 37 Milliarden für die privaten Unternehmen bereithalten kann, wie kann es dann sein, dass er nicht einmal zehn Milliarden für einen Fonds aufbringen kann, aus dem die Kooperativen ein Grundkapital beziehen, um produzieren zu können. Im Vergleich ist das nichts! Leider haben wir das trotz unserer guten Beziehung zum Präsidenten nicht erreicht, aber wir werden es weiter fordern.

Nehmen sich die selbst verwalteten Betriebe auch der Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit an?

Ja, da wird einiges unternommen. Zum Beispiel bilden wir in der ehemaligen Adidas-Fabrik in Pigué Häftlinge in textiler Produktion und in einer anderen Fabrik im Schiffbau aus. Ein weiteres Beispiel ist eine Glasbläserei in der Provinz Santa Fe. Nach deren Rückgewinnung hatten wir Schwierigkeiten, ein adäquates Produktionsniveau zu erreichen, da es nur noch einen Meister gab. Also haben wir eine Schule aufgebaut, in der jetzt Jugendliche in diesem Handwerk ausgebildet werden. Der Betrieb ist heute der größte Argentiniens.
In Rosario haben vier Metallbetriebe eine Genossenschaft mit einer Technikschule aus einer sehr armen Gegend gebildet. Für ein Jahr können die SchülerInnen für einen Basislohn ein Praktikum machen. Von den fünf PraktikantInnen des letzten Jahres sind drei übernommen worden, zwei arbeiten in privaten Betrieben. Diese Genossenschaft ist übrigens im Rahmen eines Abkommens mit Venezuela gegründet worden. 2000 Traktoren und andere Maschinen hat Venezuela von diesen Betrieben bestellt.

Gibt es sonst noch internationale Kooperationen oder Versuche welche aufzubauen?

Ein compañero hat einmal gesagt, wir hätten vor allem drei Aufgaben: besetzen, Widerstand leisten, produzieren. Mittlerweile sind wir allerdings in einer neuen Etappe angelangt, in der es darum geht, auch intelligent zu wirtschaften, nachhaltig zu produzieren und vor allem darum, zu kooperieren und uns zu vernetzen.
Zur Zeit sind wir dabei, das erste multinationale selbst verwaltete Unternehmen zu gründen. Gomus, ein italienischer Betrieb, der Kautschuksohlen herstellt, baut zusammen mit der Ex-Adidas Fabrik in Pigué eine neue Schuhfabrik auf. Die Italiener liefern das Know-How und die Maschinen und wir sorgen für die Arbeiter, das Gebäude und die Infrastruktur. Am Ende sollen Schuhe unter der Marke CADI, abgekürzt Argentinisches Leder Italienisches Design, vertrieben werden. Nur mit Hilfe solcher Netzwerke können wir auf Dauer auf Märkten bestehen, die einer kapitalistischen Profitlogik folgen. Wir wollen unser solidarisches Modell globalisieren und zeigen, dass Ausbeutung, Kinderarbeit und private Konzentration von Vermögen nicht notwendig sind.

Bedeutet dieses solidarische Modell, dass alle, vom Näher bis zur Designerin, den gleichen Lohn bekommen?

Alle die in einem solchen Betrieb arbeiten sind gleichzeitig dessen Besitzer. Natürlich nicht im Sinne von Privateigentum, sondern sozialem Eigentum. Also haben alle im Prinzip die gleichen Ansprüche, was nicht heißt, dass die Löhne unbedingt einheitlich sein müssen. Darüber entscheidet die Betriebsversammlung. Grundsätzlich gilt, dass die höchsten Löhne nicht mehr als das Dreifache der niedrigsten betragen dürfen. Anders ist das mit den erwirtschafteten Gewinnen. Meistens werden sie in Produktentwicklung und Maschinen reinvestiert, aber wenn beschlossen wird, dass sie an die TeilhaberInnen ausgezahlt werden sollen, dann immer zu gleichen Teilen.

Wie funktioniert der demokratische Alltag in einer Kooperative? Es können doch nicht immer alle Entscheidungen von allen getroffen werden.

Eine Kooperative hat immer einen Verwaltungsrat mit PräsidentIn, Vorstand, SekretärIn und SchatzmeisterIn. Außerdem gibt es síndicos/as, die die Interessen aller TeilhaberInnen vor diesem Gremium vertreten. Der Verwaltungsrat ist sozusagen die Exekutive, die Betriebsversammlung die Legislative des Betriebes. Gesetzlich vorgeschrieben sind zwei Betriebsversammlungen im Jahr, auf denen der Verwaltungsrat Rechenschaft ablegen muss. Bei der Menge an Entscheidungen, die gefällt werden müssen ist es allerdings unmöglich, nur zwei Versammlungen im Jahr abzuhalten. Jeden Tag eine Versammlung wäre genauso wenig praktikabel. Schließlich muss ja auch noch produziert werden. Meistens gibt es pro Monat eine, aber das ist nur die formelle Seite der Partizipation. Partizipation ist eigentlich unumgänglich und eigentlich partizipiert man jeden Tag.

In jedem Fall bedeutet diese Partizipation aber, zusätzlich Zeit im Betrieb zu verbringen. Und demokratische Entscheidungsfindung kann eine langwierige Angelegenheit sein. Nehmen an den Versammlungen alle teil oder gibt es auch welche, die nach Hause gehen?

Nein, an den Versammlungen nehmen in der Regel alle teil. Trotzdem ist das ein kompliziertes Thema. Jemand hat mal gesagt, die Kooperativen hätten einen großen Körper mit kleinem Kopf, was bedeuten soll, dass immer nur ein kleiner Teil versucht mitzudenken und Verantwortung übernimmt. Das Problem ist, dass wir noch kein Produktionsmodell gefunden haben, das zu der Art der Organisation der Betriebe passt. Die wohlfahrtsstaatliche Marktwirtschaft hatte ein Produktionsmodell, den Fordismus, und das neoliberale Modell ist der Toyotismus. Wir sind alle sozialisiert in Betrieben mit einem Chef, der die Entscheidungen trifft. Eine mit der demokratischen Organisation korrespondierende Arbeitskultur gibt es noch nicht. Vielleicht hat die nächste Generation von ArbeiterInnen schon eine Vorstellung davon, wie in einem selbst verwalteten Betrieb produziert wird. Da liegt eine unserer größten Herausforderungen.

In Deutschland werden ständig Betriebe geschlossen und die Belegschaft entlassen. Trotzdem kommt offenbar niemand darauf, den Betrieb zurückzuerobern. Was sind aus deiner Sicht die Voraussetzungen dafür, dass sich diese Idee verbreitet?

Ich glaube letztendlich können die Entlassenen doch nur gewinnen. Das war auch die Frage, die wir uns gestellt haben: Was haben wir denn noch zu verlieren?

Also muss die Situation erst richtig aussichtslos sein.

Nein, ich denke nicht. Die maoistischen Gruppen in den 1970ern haben das geglaubt. Dem Volk müsse es erst so richtig schlecht gehen, damit das richtige Bewusstsein entsteht. Wir sind keinesfalls der Meinung, das sei wie beim Tango, wo man sagt: Zuerst lerne zu leiden, dann zu weinen. Davon abgesehen ist soziale Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit doch schon längst auch in Europa zum Problem geworden. Und in einigen Ländern gibt es doch auch schon Beispiele wiederangeeigneter Betriebe. In Italien sind es schon über 100 selbst verwaltete Betriebe und als ich vor kurzem dort war, musste ich den ArbeiterInnen einer Kooperative erst erzählen, dass es in ihrem Land noch so viele weitere gibt. Es fehlt also auch an Kommunikation. Wenn sich diese Erfahrungen erst einmal verbreitet haben, wird das bald auch in Europa ähnlich sein wie in Argentinien.

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