Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte
Der Vizedirektor des Zentrums für Amerikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Bestandsaufnahme der Krise der kubanischen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel geraten, der bis dato noch nicht gebremst werden konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent seines Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Verschärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwähnung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubanischem Nickel hergestellte Produkte, besitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der weltweiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem sowjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund ungünstiger klimatischer Verhältnisse ebenfalls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirtschaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Ergänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernommene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Importniveau, trieb entsprechend die Auslandsverschuldung in die Höhe und in Verbindung mit der 1982 ausbrechenden Verschuldungskrise Kuba in die Zahlungskrise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstellung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubiger. Die weitere Verlagerung der Handelsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regierungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialistischen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, sondern eine umfassende wirtschaftliche Einbindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität beschreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der importabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeidlich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Verteilungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatlichen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Deviseneinnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Ausbau des Tourismussektors gelten als Hoffnungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwicklung zumindest mittelfristig mit eingeschränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuverhandlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an industrieller Infrastruktur mitsamt hochqualifizierten Arbeitskräften kann wegen Kapitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis einerseits und eines hinterherhinkenden inländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegenüber dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Auslandsinvestitionen mit dem internen Sektor und für eine integrale Wirtschaftsreform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, vermag der Autor allerdings nicht zu konkretisieren.
Über dieses neue System der Wirtschaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereignisse, mit denen Kuba seit 1989 konfrontiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswirkungen in bemerkenswerter Offenheit. Offen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die kubanische Politik sei, so Castro, Sachzwängen ausgeliefert. An erster Stelle steht dabei die Notwendigkeit, die Deviseneinnahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen jedoch nicht in einem problemübergreifenden Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extremsituation, in der sich Kuba befindet, ein langfristiges Konzept im Moment implementiert werden könnte, steht indessen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperiode in Friedenszeiten jedoch ein Ende finden soll, ohne daß ein Gesamtkonzept inklusive eines neuen Systems zur Wirtschaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Antwort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittelpunkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, arbeitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Behinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätigkeiten sind eingeschränkt. Der Dienstleistungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Berufen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisierung von Tätigkeiten, die ohnehin ausgeübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durchführbar. So bleibt für viele die Versuchung groß, sich nicht registrieren zu lassen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Registrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Effizienzsteigerung, eine Schaffung von Arbeitsanreizen, um mit geringstmöglichem Ressourceneinsatz einen Produktionszuwachs zu erzielen sowie die Selbstfinanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten. Die Reform soll zwei Ebenen betreffen. Zum einen geht es um die Umwandlung der staatlichen Betriebe in Genossenschaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Überschüsse zu staatlich bestimmten Konditionen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bisher ungenutzte Kleinflächen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversorgung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsangestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu retten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Reformmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regierung, beispielsweise der wachsenden Ungleichheit in der Bevölkerung und der zunehmendem Bedeutung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewaltsam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für offen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktuellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So produzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und arbeitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich hervorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im handwerklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoffindustrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Suche nach Erdölvorkommen und der Modernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nutzung von überschüssigen Raffineriekapazitäten in Kuba anzubieten. Am erfolgreichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tourismussektor zur zweitgrößten Devisenquelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren verstärkt auftauchten, hält der Autor eine Erfolgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Dennoch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte anbieten können.” Die Konsequenzen bleiben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Deviseneinnahmen und der Schaffung von Arbeitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mitarbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Veränderungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschaftssystem mit dem “System der Wirtschaftslenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslandsinvestitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüsselrolle zu. Neben Wachstum und Exportdiversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Priorität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirtschaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Aktiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regierungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Veränderungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfassungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergänzende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform sehen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformationen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und seiner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Legalisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimistische Schlußfolgerungen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Wirtschaftsreform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Voraussetzungen für diese geschaffen worden: “Zum einen das notwendige Vertrauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutioneller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum anderen die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturellen Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele gesellschaftliche Gegenreaktionen anschaulich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.