Editorial | Feminismus | Nummer 549 - März 2020

// ZEIT DER KRISE

Die Redaktion

Wir befinden uns in einer „Zeit der Krise“, heißt es in dem diesjährigen Aufruf zum 8. März, dem ersten gemeinsamen und grenzüberschreitenden Aufruf aus vielen Ländern Lateinamerikas. Weltweit, so der Aufruf, stehen wir vor einem historischen Wendepunkt, an dem sich die möglichen Wege gabeln. Einer ist geprägt vom rechten Backlash, an dessen Ende der wiederaufkeimende Faschismus steht. Ein anderer zeigt auf, was eine feministische, transnationale und antirassistische Kraft bisher erschaffen konnte. Am Anfang dieses Weges steht der Entschluss, sich der Gewalt in all ihren Formen entgegenzustellen, an seinem Ende der gemeinsame Wunsch nach einem solidarischen, gemeinschaftlichen Leben.

Die Metapher der Weggabelung in dem Aufruf beschreibt das, was unsere Zeit heute prägt, dort wie hier: eine Situation, in der Dinge passieren, die gestern noch unvorstellbar waren. Progressive Entwicklungen und Errungenschaften stehen dabei auf der einen Seite: die gesellschaftlichen Aufstände der letzten Monate, die feministische Massenbewegung, Hambi bleibt, Ende Gelände oder die Enteignungsdebatte. Auf der anderen Seite stehen die Trumps, Bolsonaros und AfDs dieser Welt, die Angriffe auf als sicher scheinende Freiheiten und Rechte, der tödliche Hass und der zerstörerische Neoliberalismus. All diese Entwicklungen lassen viele verschiedene Szenarien einer Welt in fünf oder zehn Jahren offen, die ebenso möglich wie unmöglich vorstellbar sind. Wie die Welt tatsächlich aussehen wird, hängt davon ab, welche der beiden Richtungen wir an der Weggabelung einschlagen.

Die Verfasser*innen des diesjährigen lateinamerikanischen Aufrufs zum 8. März stehen an der gleichen Gabelung. Im sechsten Jahr der neuen feministischen Welle in Lateinamerika ist die Euphorie etwas getrübt. Gekämpft wird an vielen Fronten: Kirche und Rechte versuchen den Tag, der den arbeitenden Frauen gehört, mit eigenen Demonstrationen für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Spaltungen und Grabenkämpfe gehen durch viele Bewegungen. Was aus dem Süden aber auch kommt, ist die Hoffnung, dass Rebellionen doch möglich sind. Dass die Zeit, aufzustehen und sich zu widersetzen, endlich gekommen ist. Es ist das erste Mal, dass es einen kollektiven Aufruf gibt, in einer gemeinsamen Skype-Konferenz unter vielfältiger Beteiligung und trotz Differenzen ausgehandelt. Aus dem feministischen Epizentrum Lateinamerika kommend hat dieser Aufruf einen transnationalen und grenzübergreifenden Anspruch, ist erschreckend und zugleich logischerweise nah an dem, was auch hier bewegt: der Bedrohung zur Rückkehr des Faschismus etwas entgegenzusetzen. Der Aufruf handelt von der Notwendigkeit, feministische und antirassistische Kämpfe zusammen zu kämpfen.

Nicht zuletzt der Anschlag von Hanau hat wieder gezeigt, wie eng Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus miteinander verknüpft sind und wie tödlich diese Mischung ist. Auf fünf Seiten seines Bekennerschreibens offenbarte der Attentäter seinen Hass auf Frauen. Frauenhass ist oftmals der Auslöser für eine Radikalisierung nach rechts sowie einer der zentralen Bestandteile rassistischen Terrors und der Ideologie, die dahinter steht. Sexualisierte, patriarchale und politische Gewalt sind verschiedene Formen der Unterdrückung, hängen aber zusammen. Eine dieser Formen zu bekämpfen, bedeutet notwendigerweise auch, die anderen zu bekämpfen.

Deswegen zielt der Aufruf zum diesjährigen 8. März auch auf die in diesen Zeiten so bitter notwendige Einheit grenzüberschreitender Kämpfe ab: Kämpfe wider der Gewalt gegen Körper und Territorien, gegen Feminizide und Extraktivismus, gegen Militarisierung und Ausbeutung, gegen skrupellosen Neoliberalismus und gegen den totalitären Rechtsruck. Sie sind mehr als der Abwehrkampf gegen die Zumutungen unserer Zeit, sie verpflichten sich einem solidarischen Leben, für das wir Grenzen überschreiten müssen. Ein solidarisches Leben, in der die Aufhebung der Gewalt gegen Einzelne zur Voraussetzung für das bessere Leben aller wird.

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