Chile | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Zentralchile kämpft

Eine Reportage aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten

Drei Monate nach dem Erdbeben und dem Tsunami in Zentralchile leben noch immer Menschen in Zelten. Ein Besuch in den betroffenen Gebieten zeigt: Das Land, das sich gerne als Musterknabe Südamerikas sieht, tut sich schwer mit der Katastrophenbewältigung.

Romano Paganini

Chiles Zukunft hängt an den Bäumen von Talcahuano. Die Kinder des Fischereistädtchens am Pazifik haben auf dem Gemeindeplatz Zeichnungen aufgehängt, die Hügellandschaften zeigen oder das Meer mit Schiffen. Auf einem der Bilder schreibt ein Mädchen: „Kämpfe Talcahuano, damit du wieder auf die Beine kommst.”
Es ist 10.30 Uhr, und der Tag in Talcahuano beginnt nur schleppend. Wie eigentlich jeder Tag seit dem 27. Februar. Zwischen den Kinderzeichnungen bauen VerkäuferInnen ihre Stände auf und bieten an, was sie früher in ihren Läden in der Innenstadt feilboten: Kleider, Blumen, Brillen, Bücher, Werkzeuge, Haarschnitte. Am Nachmittag wird eine Militärkapelle spielen und für ein bisschen Erheiterung sorgen.
Der 49-Jährige Ramón Tapioblete hat seinen Internet-Shop in zwei Containern eingerichtet, wenige Meter von seinem früheren Haus entfernt, das wie ein Großteil der Häuser in der Innenstadt abgerissen wird. „Es ist zwar nicht viel, was wir hier anbieten können”, sagt Ramón, „aber dafür arbeiten wir mit viel Liebe“. Die Konkurrenz habe ihre Läden ins Landesinnere verlegt, Tapioblete ist geblieben. Man könne diese Stadt nicht einfach aufgeben. „Wichtig ist, dass die Menschen wieder Vertrauen fassen – ins Leben, in die Politik und in die Firmen.”
Vertrauen fassen – das versuchen alle BewohnerInnen Zentralchiles. Genauso wie sie sich bemühen Alltag in ihr Leben zu bringen, einen Alltag nach dem „27/F”, wie chilenischen Medien den Tag der Katastrophe abkürzen. Zwar sind in Chile im Vergleich zum Erdbeben in Haiti verhältnismäßig wenige Menschen ums Leben gekommen – die Regierung spricht von 521 Toten und rund 60 Vermissten – doch das Ausmaß der Katastrophe wurde erst im Laufe der vergangenen Woche ersichtlich. Es ist, was den Schaden betrifft, größer als zunächst angenommen. Nach Regierungsangaben wurden durch das Beben der Stärke 8,8 und dem anschließenden Tsunami rund 370.000 Wohnungen, 200 Brücken, 73 Krankenhäuser und die Hälfte der rund 8.000 Schulen zerstört.
Seit Wochen bauen Militär, Hilfsorganisationen und Freiwillige in der ganzen Region Notunterkünfte auf. Tausende Familien werden die nächsten zwei bis drei Jahre in einer dieser 18 Quadratmeter großen Holzhütten leben.
Was zunächst landesweit als einfache und würdige Wohnmöglichkeit betrachtet wurde, löst seit Beginn der Regenzeit immer mehr Kritik aus. Die BewohnerInnen klagen über wenig Platz und undichte Dächer. Mitte Mai wurde sogar eine Notunterkunft in Brand gesteckt – aus Protest.
Hinzu kommt, dass der Verband der chilenischen Gemeindeverwaltungen bereits vor Wochen warnte, dass nicht wie von der Regierung postuliert 45.000 sondern das Doppelte an Notunterkünften gebaut werden müsse. Und die Verantwortlichen der Organisation „Ein Dach für Chile” (Techo para Chile), die zusammen mit der chilenischen Regierung für den Bau der Hütten verantwortlich ist, kritisierten die teils unzureichende Bauweise.
Nun hat die Regierung veranlasst, die Unterkünfte zusätzlich mit Kunststoffwänden zu isolieren und vor allem winterfest zu machen – in Zentralchile herrscht seit Wochen am Morgen Bodenfrost.
Der Frust über die teilweise schleppende oder mangelhafte Hilfe führte bereits an verschiedenen Orten zu Demonstrationen, bei denen eine bessere Koordination der Hilfsmittel gefordert wurde. Zudem wird der Ruf nach mehr Eigenständigkeit für die Dörfer und Städte immer lauter. Der Zentralismus Santiagos ist seit Jahren Diskussionsthema in Chile, vor allem im wirtschaftlich starken Süden des Landes. Die Katastrophenbewältigung, so lokale PolitikerInnen, hätte durch mehr finanzielle Autonomie der Kommunen schneller koordiniert werden können.
Grund für die Verzögerung der Hilfsleistungen war auch der Regierungswechsel von Mitte März. Nach zwanzig Jahren Regierung des Mitte-Links-Bündnisses Concertación, hat mit Sebastián Piñera erstmals seit Ende der Pinochet-Regierung ein Präsident der Rechtsallianz das Amt übernommen. Der 61-Jährige Multimillionär ist in den ersten Wochen seiner Amtszeit vor allem durch eine enorme Medienpräsenz aufgefallen – und durch einige unerwartete Entscheidungen bezüglich des Wiederaufbaus. So sollen durch temporäre Steuererhöhungen für große Unternehmen und teure Immobilien vor allem reiche ChilenInnen zur Kasse gebeten werden.
Piñera betonte allerdings, dass er nicht nur der „Erdbeben-Präsident” sein wolle. Sein Ziel sei vor allem die Umsetzung der im Wahlkampf angekündigten Versprechungen. Dabei dürfte das wirtschaftliche Wachstum des Landes im Vordergrund stehen. Chile ist beliebtes Ziel ausländischer Großunternehmen. Da überrascht es nicht, dass in Regierungskreisen derzeit darüber gesprochen wird „zur Finanzierung des Wiederaufbaus” die staatlichen Anteile an der Elektrizitätsfirma Edelnor zu verkaufen.
Am Geld sollte es in Chile nicht liegen, sagte Zentralbankpräsident José de Gregorio gegenüber der Zeitschrift Ercilla. 2010 werde „trotz der Katastrophe wirtschaftlich gesehen ein gutes Jahr,” so Gregorio. „Egal, welche Anstrengungen wir für den Wiederaufbau unternehmen müssen.” Für 2011 rechnet der Finanzminister bereits wieder mit einem Wachstum von sechs Prozent.
Wenn man sie im Zeltlager von Chiguayante liest, klingen solche Äußerungen zynisch. Hier, in einem Vorort von Concepción, leben nach wie vor Dutzende Familien in Zeltsiedlungen. Sie stehen nur wenige Meter von den Wohnblocks entfernt, die nach dem Erdbeben abgerissen werden müssen. Die Sprecherin der Kommune, Cecilia Varga, hofft, dass die Regierung bald etwas unternimmt – sagt es und putzt sich die Nase. Sie hat sich erkältet, wie viele BewohnerInnen. Einzelne Familien würden wegen der Kälte nach wie vor in ihren Wohnungen übernachten – trotz Einsturzgefahr.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren