Musik | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Zollfreier Künstler-Hafen in Rio

Lenines zweites Soloalbum Falange Canibal

In seinem zweiten Album Falange Canibal führt der aus Recife stammende Musiker Lenine verschiedenste Musiker und Musikrichtungen zu einer spannenden Mischung zusammen.

Laurissa Mühlich

In den späten achtziger Jahren traf sich eine kleine Gruppe von Leuten, die ihren künstlerischen Ideen Ausdruck verleihen wollten, einmal die Woche auf einer kleinen Bühne in der Gegend von Arcos da Lapa, der nicht gerade schicksten Kneipengegend von Rio de Janeiro. KünstlerInnen und ZuschauerInnen verbrachten begeistert schlaflose Nächte in dem kleinen Raum, sogen Musik, Poesie und allerlei spontane Darbietungen in sich auf. Dabei wurde kompromisslos und ohne Regeln spontan erfunden, experimentiert und improvisiert, dass sich die Bühnenbretter bogen. Der kleine Laden hieß Falange Canibal – frei übersetzt vielleicht „menschenfressende undurchdringliche Widerstandsreihe oder Menschenmenge“. Falange Canibal war eine offene Bühne, ein Raum für Freie Kunst, ein „freies Transitgebiet“ für jeden Trend, eben ein zollfreier Hafen für jeden, der dort einlaufen wollte. „Falange Canibal ist die musikalische Versammlung verschiedener Freunde, Trends und Nationen. Es ist das direkte Produkt unseres musikalischen Austausches“, beschreibt Lenine den so entstandenen Titel des neuen Albums.
Bereits sein letzter großer Erfolg, das vor drei Jahren erschienene Album Na Pressão, verkörperte genau diese breite Mischung aus Stilen, Trends, Ideen und Musikern. Das weltoffene Erscheinungsbild, das der aus Recife stammende Lenine sich gibt, hat sich also nicht verändert – der musikalische Inhalt wirkt jedoch an einigen Stellen des Albums wesentlich glatter als zuvor. Lenine hat sich nämlich mittlerweile als Songwriter, sowohl für bekannte Stars wie Maria Bethânia, als auch für brasilianische Telenovelas wie O Clone einen Namen gemacht. O Silêncio das Estrelas ist beispielsweise so ein Lied aus O Clone, das auch zum insgesamt eingängigeren Charakter des Albums beiträgt.
Die auf Falange Canibal veröffentlichten Songs sind überwiegend mit Freunden Lenines aus dem alten Falange, der kleinen Bühne, entstanden: Bráulio Tavares, Lula Queiroga, Ivan Santos, Dudu Falcão – diese Namen bekannter „Komplizen“, wie Lenine sie nennt, tauchen immer wieder auf. Eingespielt wurde die CD Ende letzten Jahres mit einer illustren Runde internationaler MusikerInnen unter anderem aus der Ukraine, Madagaskar, USA und Kuba aber auch mit bekannten KünstlerInnen aus Brasilien, wie Henrique Portugal und Haroldo Ferreti von Skank oder der würdigen alten Garde der Mangeira Samba Schule aus Rio.
Trotz der bunten Mischung der Gäste ist dem Album die Handschrift Lenines – seine Art, Gitarre zu spielen, seine Art Rhythmus und Gesang zu kombinieren und die treibenden Beats – natürlich anzumerken. Besonders im letzten Lied, O Homem dos Olhos de Raio X (Der Mann mit den Röntgenaugen) und in Lavadeira do Rio (Rios Wäscherin) hört man die bekannten Eigenschaften Lenines Musik. Zu Lavadeira do Rio sagt er selbst: „Das ist rohe Musik, eine große Tradition von Straßensamba-Gruppen wie Suvaco de Christo, Monobloco und anderen.“Auch die Handschrift der beiden Musiker von Skank ist dem Ohrwurm deutlich anzumerken. In O Homen dos Olhos de Raio X vertonte Lenine hingegen einen Roger-Corman- Klassiker aus den frühen sechziger Jahren mit der Band Living Colour. Beide Songs sind also mal wieder eine für Lenine beispielhafte reizvolle Mischung aus ganz unterschiedlichen Stilen und Musikepochen. Außerdem finden sich auch hier interessante Wortspiele, wie zum Beispiel in Rosebud (o verbo e a verba), zu dem er selbst sagt: „Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei uns allen sehr bekannten Charakteren: Dolores und Dollares“ ebenso wieder wie die kleine traditionelle Samba und die typisch brasilianische Batucada, die er in Caribantu, mit entsprechender Lautsprache einrahmt
Sein Markenzeichen, die gewagten Kombinationen, setzt Lenine in Falange Canibal also fort, durchsetzt das Album jedoch diesmal mehr mit klaren stilistischen Abschnitten wie einer kleinen „naiven“ Samba oder einem eher osteuropäisch anmutenden Intro, einem Streichorchester oder einer eher technisch aufgezogenen Einleitung. Das schadet dem Hörvergnügen und der Tanzbarkeit jedoch nicht – im Gegenteil…

Lenine: Falange Canibal, BMG, ISBN 74321893512

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