Kultur | Nummer 196 - September 1990

Zukunftswerkstatt Kontinent – Volkserziehung in Lateinamerika

Veit Hannemann

Die Autoren und Herausgeber Trudi und Heinz Schulze setzen sich schon seit Jahren mit dem Thema Volkserziehung auseinander und haben es in der Bundes­republik schon durch frühere Veröffentlichungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Mit diesem Band legen sie nun eine Sammlung von Beiträ­gen vor, die für jeden, der sich mit Fragen der Volksbildung und Basisorganisa­tionen in Lateinamerika auseinandersetzen will, unerläßlich ist. In erster Linie, weil hier grundlegende Erkenntnisse maßgeblicher Theoretiker der educación popular in übersichtlicher und leicht verständlicher Form zusammengefaßt wurden. In zweiter Linie, weil dabei einer kritischen Selbst-Hinterfragung ihrer theoretischen Aussagen und der Volksbildungs-Praxis der letzten zehn Jahre besondere Bedeutung beigemessen wurde.
Natürlich steht zunächst die Arbeit einer Persönlichkeit im Vordergrund: Die des Brasilianers Paulo Freire, der in verschiedenen Ländern des Kontinents sowie in Guinea Bissau lange Jahre hindurch Erfahrungen in der Volkserziehung sammelte. In den 70er Jahren wurden einige seiner Beiträge auch ins Deutsche übersetzt. “Erziehung als Praxis der Freiheit”, richtete sich als Kritik gegen die bestehenden hierarchisch organisierten und sozial diskriminierenden formalen Bildungssysteme. Auf der anderen Seite wies sie den Weg der Selbstorganisation und Bildung der armen Massen und damit den ihrer Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.
Seit damals hat Freire seine Arbeit mehrfach kritisch hinterfragt und vor allem sein Konzept der “conscientizaçâo”, der Bewußtseinsbildung der Massen, revi­diert. Er selbst kann als Beispiel für jemand gelten, der immer wieder in der Pra­xis der Volkserziehung seine Rolle als Intellektueller hinterfragt hat, um seinem eigenen theoretischen Anspruch an einen “organischen Intellektuellen” gerecht werden zu können.
In mehreren Beiträgen wird das urspünglich gramscianische Konzept des organi­schen Intellektuellen aufgegriffen. So erläutert Carlos Nuñez, der in Mexico in der Volkserziehung tätig ist, die Aufgaben des Intellektuellen als Koordinator, Promoter und Erzieher. Als “externer Agent” kann er nicht, wie es die klassische Rolle des Lehrers zuweist, dozieren und fertige Inhalte vermitteln, sondern er muß in erster Linie versuchen, die Interessenorganisation zu stärken, damit sie die von ihr selbst gesetzten Ziele erreichen kann. Erste Voraussetzung dafür ist zuallererst, daß er die soziale Wirklichkeit seines Arbeitsfeldes tatsächlich kennt. Mit allen avantgardistischen Positionen, die bis heute noch oft linke Politik in Lateinamerika bestimmen, wird hier hart ins Gericht gegangen.
In einem Beitrag der argentinischen Bildungsforscherin Adriana Puiggros werden zudem nicht nur bürgerliche Bildungskonzeptionen, sondern gerade auch die lange Jahre aufrechterhaltene linke Kritik daran kritisiert. Wer Erzie­hung nur als ideologischen Staatsapparat definiert, verstellt gerade die Perspek­tive, sie auch als politisch-ideologische Kampfplattform begreifen zu können. Den gerade für das Freiresche Konzept der Volkserziehung wesentlichen Aspekt hat diese Kritik nie richtig berücksichtigt: Daß das Ziel von Volksbildung eben nicht nur Wissensvermittlung (z.B. die Alphabetisierung) oder Vermittlung ideologischer Inhalte sondern selbst schon der Weg der Befreiung ist. Im Beitrag von Gianotten und de Witt werden systematisch Schwächen der Volkserziehung und, wie sie sie in Anlehnung an Freires Begriff bezeichnen, linken Bankierser­ziehung aufgezeigt.

Aber das Buch bietet mehr als reine Theoriediskussion. Die Methodologie der Volkserziehung wird an Beispielen aus der Praxis erläutert. Die Beiträge von Oscar Jara, Koordinator des Mittelamerikanischen Zentrums für Volkserziehung (ALFORJA), und von Carlos Nuñez, der in Mexiko ebenfalls im Rahmen von ALFORJA arbeitet, verweisen auf die politische Dimension der educación popu­lar und auf ihre Bedeutung im Rahmen der Gemeinwesenarbeit. “Welche Risiken liegen in der Einflußnahme von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Par­teien und Gewerkschaften, vermittelt über die educación popular, auf die Basis­organisationen?”, ist eine der wesentlichen Fragen, der in weiteren Beiträgen nachgegangen wird.
In Länderberichten zu Brasilien und Chile werden auch historische Erfahrungen mit der Volkserziehung beleuchtet. Der Beitrag zu Kuba bietet dagegen bedauer­licherweise kaum einen Einblick in die reale Situation der Volkserziehung. Ein gerade heute spannendes Thema, wenn es darum geht festzustellen, welche Fort­schritte in 30 Jahren Revolution und sozialistischer Erziehung erzielt worden sind.
Beispiele aus der Praxis, von Frauenorganisationen, der Alphabetisierungsarbeit, Volkstheater bis zu Volksbüchereien runden die Beiträge zur “Zukunftswerkstatt Kontinent” ab.

Trudi und Heinz Schulze (Hg.): ZUKUNFTSWERKSTATT KONTINENT – Volkserziehung in Lateinamerika, München 1989. Erschienen in der Reihe: AG SPAK-Publikationen, Adlzereiterstr. 23, 8000 München 2. ISBN 3-923126-57-3.

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