Brasilien | Nummer 475 - Januar 2014

Zum Schlafen in den Knast

Der Oberste Gerichtshof bestätigt das Mensalão-Urteil des vergangenen Jahres und schickt ehemalige Parteigrößen der PT in den halboffenen Vollzug

In Brasilien wurden im November die Urteile aus dem vergangenen Jahr gegen mehrere ehemalige Regierungsvertreter_innen der Arbeiter_innenpartei PT im sogenannten mensalão-Korruptionsskandal bestätigt. Trotz hoher Haftstrafen empört sich die Öffentlichkeit über die angebliche „Luxushaft“ der Verurteilten. Zugleich versuchen rechte und konservative Kräfte im Vorwahljahr politischen Nutzen aus dem Skandal zu ziehen und von eigenen Verfehlungen abzulenken.

Niklas Franzen

Von einem „historischen Jahrhunderturteil“ sprachen zahlreiche Medien nach der Verkündung des Gerichtsentscheids. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs STF aus dem vergangenen Jahr ist rechtskräftig. Die Angeklagten in der Strafsache 470 – besser bekannt als mensalão, zu deutsch in etwa der „große Monatslohn“ (siehe LN 462) – müssen ihre Haftstrafen antreten. Die Richter_innen des STF sahen es somit als erwiesen an, dass die Angeklagten zwischen den Jahren 2003 und 2005 Abgeordnete mit hohen monatlichen Zahlungen (daher mensalão) von bis zu 12.000 US-Dollar für die Zustimmung zu Regierungsprojekten bestochen hatten. Der Korruptionsskandal war im Jahre 2005 nach einem Bericht des Magazins Veja aufgeflogen und beschäftigt seither die brasilianische Politik und Öffentlichkeit. Erst sieben Jahre nach der Aufdeckung des Skandals kam es im vergangenen Oktober zu den ersten Verurteilungen. Der Unternehmer Marcos Valério, einer der operativen Drahtzieher des mensalão-Schemas, wurde in mehreren Punkten für schuldig gesprochen und zu über 40 Jahren Haft verurteilt. Nun bestätigte der Oberste Gerichtshof die Urteile gegen einige der prominentesten Mitglieder der damaligen Regierung von Präsident Lula da Silva, darunter ehemals hochrangige Regierungsvertreter_innen und Minister. Insbesondere der damalige PT-Präsident José Genoíno, Schatzmeister Delúbio Soares und José Dirceu, Kabinettschef und enger Vertrauter von Ex-Präsident Lula, stehen im medialen Fokus des Skandals.
Die drei ehemaligen Funktionäre der PT erhielten allesamt Haftstrafen, können jedoch von einer Eigenart im brasilianischen Strafrecht Gebrauch machen. Diese sieht vor, dass Haftstrafen von unter acht Jahren in Korruptionsfällen im halboffenen Vollzug verbüßt werden können. Konkret heißt das, dass Genoino, Soares und Dirceu nur nachts hinter Gitter müssen. Doch nicht alle Richter_innen des STF teilten die Ansicht der Mehrheit des Gerichts. Der Verfassungsrichter Luís Roberto Barroso kritisierte die Entscheidung scharf und sprach von einem „fast kastenmäßigen Klassensystem“: „Wir haben tausende Verurteilte im Gefängnis, verurteilt wegen Besitz kleiner Mengen von Marihuana, aber nur wenige wegen großer Vergehen. Um in Brasilien ins Gefängnis zu gehen, muss man arm sein und eine schlechte Verteidigung haben.“
Medien berichten unterdessen von einem Arbeitsvertrag, den der Verurteilte Dirceu, der als Kopf des komplexen Korruptionsschemas gehandelt wird, mit einem 4-Sterne-Hotel in Brasília abgeschlossen haben soll. Demnach könnte Dirceu schon bald tagsüber als Geschäftsführer in dem Hotel arbeiten, bevor er seine Nachtschicht im Gefängnis antreten muss. Der Verdienst des Mitbegründers der PT soll sich auf monatlich rund 20.000 Reais (über 6.000 Euro) belaufen. In der Öffentlichkeit reagierten nicht wenige empört auf die Enthüllungen und spotteten über „Dirceu’s Palace Hotel“. Hinzu kommt die Frage der Ungleichbehandlung von Gefängnisinsass_innen. Nach Protesten erklärte ein Gericht in Brasília die Sonderbehandlung der Inhaftierten des mensalão-Prozesses als unzulässig. Bislang konnten die prominenten Häftlinge auch außerhalb der offiziellen Besuchszeiten Gäste empfangen und sich Pizzen von Polizeibeamt_innen liefern lassen.
Dem öffentlichen Aufschrei und der medialen Ausschlachtung des Korruptionsskandal der PT wohnt jedoch auch eine klare politische Dynamik inne. So entlarvt sich das Verhalten konservativer Kräfte als Kalkül. Im Vorwahljahr scheint jedes Mittel recht, um die regierende PT als Korruptionspartei zu stigmatisieren und politischen Nutzen aus dem Skandal zu ziehen. Dass sich eine vermeintliche Bekämpfung der Korruption auch zum politischen Zugpferd der konservativen Opposition wandeln lässt, zeigten die Massenproteste, die Brasilien im Juni diesen Jahres förmlich überrollten. Dort waren auch Rechtgesinnte auf die Straße gegangen (siehe LN 469/470) und versuchten, mit populistischer Stimmungsmache gegen korrupte Politiker_innen Punkte bei der empörten Bevölkerung zu sammeln. Darüber hinaus dient der Blick von rechts auf den PT-Skandal auch dazu, von eigenen unsauberen Machenschaften wie dem mensalão-tucano-Skandal aus dem Jahre 1998 abzulenken. Die Parteifarben der PSDB sind blau und gelb, wie die Farben der Spechtvogelart Tukan, daher rührt ihr Spitzname. Bei diesem auch unter dem Namen mensalão-mineiro bekannten Skandal handelte es sich um ein Korruptionssystem, bei dem der damalige Gouverneur des Bundesstaat Minas Gerais, Eduardo Azeredo von der PSDB, versuchte, seine Wiederwahl mit Bestechungen in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar zu sichern. Im Skandal der PSDBZ kam es bislang nicht zu einer Verurteilung. Nicht ganz zu Unrecht sprach José Dirceu daher nach dem gegen ihn gesprochenen Richterspruch von einem „politischen Prozess“ gegen die PT.
Korruption ist fester Bestandteil brasilianischer Politik und zieht sich durch alle politischen Lager. Dass nun in einem öffentlich geführten Prozess Haftstrafen verhängt wurden, ist jedoch ein Novum. Die Verurteilungen dürfen allerdings nicht losgelöst von den politischen und gesellschaftlichen Realitäten des Landes betrachtet werden. In einem Klima, in dem ein Großteil der Medien eine Verurteilung förmlich herbeiredete und Richter_innen, die der Anklage kritisch gegenüber standen, sogar tätlich angegriffen wurden, darf an der Unabhängigkeit des Urteils gezweifelt werden.
So hat der mensalão-Skandal zwar Spuren hinterlassen, aber bislang nicht die von der rechten Opposition gewünschten Ergebnisse erzielt. Der Ex-Gewerkschaftsführer Lula, dem von nicht wenigen Mitwissenschaft vorgeworfen wird, wurde trotz des Skandals bei den Wahlen im Jahre 2006 in seinem Amt als Präsident bestätigt. Der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff gelang es, sich als Anti-Korruptionspolitikerin zu profilieren und aus diesem Grund bietet sie wenig Angriffsfläche. Auch im letzten Jahr zeigte der live im Fernsehen ausgestrahlte Prozess gegen einen großen Teil der ehemaligen Führungsriege der PT keine Konsequenzen auf die zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen. Die Partei konnte sogar in 71 Kommunen Stimmen hinzugewinnen und das enorm wichtige Bürgermeisteramt der Megacity São Paulo zurückerobern. Es liegt nahe, dass die jüngsten Verurteilungen sich nicht weiter auf die Parlamentswahlen im nächsten Jahr auswirken werden. Eines jedoch ist bereits jetzt sicher: der mensalão-Skandal wird auch weiter die brasilianische Politik beschäftigen. So steht der Teil des Prozesses gegen Genoíno, Soares und Dirceu wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung noch aus und wird im kommenden Jahr verhandelt. Dann wird sich auch entscheiden, ob die drei ehemaligen Spitzenpolitiker nicht nur ihr Nachtlager im Gefängnis einrichten müssen.


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