Kolumbien | Nummer 320 - Februar 2001

Zweites Loch im kolumbianischen Käse

Entmilitarisierte Zone für ELN rückt in greifbare Nähe

Die Pastrana-Regierung übt den Partnertausch. Während der Friedensprozess mit der FARC seit November wieder einmal eine Krise durchläuft, haben die Gespräche mit der kleineren ELN eine ungeahnte Dynamik entwickelt. Sollte nichts dazwischen kommen, werden den Guerilleros einige Tausend Quadratkilometer für die seit langem geplante Nationalkonvention zugestanden. Ein Skandal für die Rechte samt Paramilitärs, die verschärfter denn je auf Krieg setzen.

Tommy Ramm

Zur Abwechslung kamen die Weihnachtsmänner diesmal in Grün. Kurz vor der Bescherung am 23. Dezember ließ die ELN (Nationale Befreiungsarmee) 42 Geiseln aus dem Sack. Polizisten und Soldaten, die seit Monaten gefangen gehalten wurden. Als Geste des guten Willens und um ihre Bereitschaft zu bekunden, dass man es ernst meint mit dem Friedensprozess. Zuvor trafen sich auf Kuba Vertreter der Guerillagruppe und der Hochkommissar für den Frieden, Camilo Gómez, um an dem Abkommen für eine Nationalkonvention zu feilen (siehe LN 291/292; 312). Dieses wurde bereits im Frühjahr letzten Jahres ausgehandelt, endete jedoch permanent in einer Sackgasse, da paramilitärische Offensiven oder Meinungsverschiedenheiten mit der Regierungskommission die Beziehungen belasteten.
Geplant ist eine Spezialzone in den Landkreisen Cantagallo und San Pablo im Süden des Departments Bolívar, aus denen sich das Militär für neun Monate zurückziehen soll, um die „Volksversammlung” mit der ELN zu ermöglichen. Allerdings hält diese dem Vergleich mit der bereits seit zwei Jahren existierenden FARC-Zone kaum stand. Während diese zehn Mal so groß ist und zurecht „Farclandia” genannt wird, muss die ELN mit Staatsvertretern in unklarer Mission leben. So soll dem kolumbianischen Geheimdienst DAS der Zugang nicht verwehrt werden. Eine zivile Sonderpolizei soll deutlich machen, dass man dieses Gebiet nicht der Guerilla preisgibt und die öffentlichen Staatsautoritäten handlungsfähig bleiben. Schließlich ist die funktionierende FARC-Justiz in San Vicente den staatlichen Gesetzeshütern schon seit langem ein Dorn im Auge.
Ein weitaus größeres Problem stellt sich der ELN in Gestalt der Paramilitärs dar, die bereits seit Jahren in dieser Gegend wüten und scheinbar unabhängige Organisationen gegen eine Verhandlungszone mobilisieren. Seit Bekanntwerden der Pläne mit der ELN haben die Truppen um Carlos Castaño,Chef der Paramilitärs, eine groß angelegte Offensive in den nördlichen Landesteilen gestartet, die seit Wochen eine verheerende Gewaltwelle in Gang setzt. Um jeden Preis wollen die AUC (Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens) verhindern, dass die Zone und folgende Verhandlungen zustandekommen.

Brennende Ölmetropole

Blutiger Mittelpunkt dieses Krieges ist seit Dezember die Erdölmetropole Barrancabermeja, die zentral am Magdalena-Fluss liegt. Einige Kilometer stromabwärts an der anderen Uferseite soll die Konventionszone entstehen. Castaño kündigte zuvor an, Ende 2000 einen Kaffee im Nordosten der Stadt trinken zu wollen, nachdem er die Guerilla, die traditionell in den Arbeitervierteln verwurzelt ist, dort vertrieben hat.
Gesagt, getan. Am 22. Dezember überquerten mehr als 100 Paramilitärs mit Booten den Fluss. „Wir sind jetzt da, ihr kleinen Guerilleros. Jetzt werden wir mit euch abrechnen”, riefen die Paras den verschlossenen Häuserfronten der Stadtteile „1. Mai” und „Simon Bolívar” entgegen, an denen Bilder von Che Guevara, Camilo Torres und José Martí prangen.
Seit diesem Tag fanden unablässig Scharmützel in den Straßen statt. Die Paras besetzten Häuser und vertrieben die Eigentümer. Die Guerilla rief die Bewohner auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Denn wenn die Paras aufkreuzten, machten sie kurzen Prozess. Allein in der ersten Januarwoche starben in der 400.000-Einwohnerstadt 24 Menschen.
Dass es die Paramilitärs offensichtlich sehr einfach haben, sich in der militarisierten Stadt zu bewegen, verstärkt die mehrfach belegten Verbindungen mit Armee und Polizei. Noch am 14. Januar meinte der zuständige Polizeikommandeur, ihm sei nicht bekannt, dass sich Bewaffnete in der Stadt befänden. Unterdessen kletterte die Zahl der Toten auf über 30.
Kurz darauf kündigte das Militär an, um die ELN-Zone einen Sicherheitsring von drei Bataillonen zu legen, damit, so die Argumentation, die Nationalkonvention vor paramilitärischen Übergriffen geschützt werde. Dass sich diese ereignen könnten, lässt sich bei deren Stärke nicht ausschließen.
Viel wahrscheinlicher ist aber ein anderes Szenario: Sollte sich kein Erfolg einstellen, wäre die ELN mit einer militärischen und paramilitärischen Offensive konfrontiert und läge diesmal womöglich in ihren letzten Zügen. Denn diese sitzt dann in einem Kessel, der sich die nächsten Monate zuziehen könnte. Bisher gibt man sich aber in der Serranía San Lucas noch optimistisch und lässt guten Willens die letzten Geiseln frei, die man noch in der Gewalt hat.

Anno 1886

Verbale Schützenhilfe für die Paramilitärs kommt aus rechtskonservativen Kreisen in Politik und Wirtschaft, die die bisherige Friedenspolitik ad absurdum führen wollen. Bei einem Treffen der Vereinigung der Viehzüchter (Fedegán) im November nutzten die Großgrundbesitzer ihren Einfluss, um eine Forderung aufzustellen, die einen klaren Rechtsruck in der Politik einführen und das Ende der Friedensgespräche einläuten sollten. In einer hetzerischen Rede drosch deren Präsident Jorge Visbal Martelo auf die FARC und den bisher erfolglosen Friedensprozess ein, geißelte eine mögliche ELN-Zone und forderte allen Ernstes eine Legalisierung von Nationalmilizen.
Diese Form der Landsicherung durch bewaffnete Milizen war bereits in der alten Verfassung von 1886 festgeschrieben, wurde in der neuen Anfang der neunziger Jahre allerdings getilgt, da sich diese Gruppen den Paramilitärs wie ein Ei dem anderen ähnelten. Ein Unterschied liegt lediglich darin, dass die Nationalmilizen offiziell von der Armee trainiert und unterstützt wurden.
„Diese Deklaration der Fedegán ist die Ansicht vieler hoffnungsloser Kolumbianer. Mit Grund. Schließlich fehlen Ergebnisse (im Friedensprozess)”, sagte der Kongress-Präsident Mario Uribe Escobar, der an dem Treffen teilnahm. Dabei griff er tatsächlich die pessimistische Stimmung in der Bevölkerung auf. Allerdings schürt er damit die sich verbreitende Ansicht, dass man dem Konflikt nur noch mit harter Waffengewalt begegnen könne.
An seine Seite gesellten sich ähnlich hochkarätige Personen wie der Verteidigungsminister Luis Fernando Ramírez und Ex-Gouverneur und Rechtsaußen-Präsidentschaftskandidat Mario Uribe Vélez. „Die FARC-Zone ist das reinste Desaster”, äußerte Letzterer. Auf keinen Fall dürfe man den gleichen Fehler mit der ELN machen.
Dieser Vorstoß ist kein Zufall. Viele Kongressabgeordnete bemühen sich seit geraumer Zeit, dem allgemeinen Rechtsruck im Land weiter Vorschub zu leisten, den Paramilitärs in den Verhandlungen die Türen zu öffnen und ihnen den heiß ersehnten politischen Status zu gewähren. Ein Punkt, den die Guerilla vehement ablehnt, da diese Gruppen außer bezahlter Massaker und Vertreibungen keine politischen Ziele verfolgen.

Flaute in San Vicente

Zudem scheint das paramilitärische Projekt reibungslos zu funktionieren. Sie sind mit 5-8.000 Kämpfern so stark wie nie zuvor, machen mittlerweile in fast allen Landesteilen mobil und sind den Rechten der gewünschte Stein im Getriebe des Friedensprozesses, der den schleppenden Verlauf vollends zum Stehen bringen könnte.
Doch nicht nur im Sur de Bolívar nehmen die Paramilitärs das Schikksal des Friedensprozesses in die Hand. Während dort nun geschäftiges Treiben auf allen Seiten herrscht, ist seit dem 14. November in der FARC-Zone im Süden des Landes Ruhe eingekehrt, nachdem die Verhandlungen ausgesetzt worden sind. Beinahe das Einzige, was dort seit zwei Jahren mit Regelmäßigkeit zelebriert wird. Die Guerilla forderte nach den genannten politischen Annäherungsversuchen an die Paramilitärs ein entschiedenes Vorgehen gegen diese. Solange die Pastrana-Regierung nichts handfestes unternimmt, gebe es keine Verhandlungen mehr.
Von September bis Dezember bekam die Bevölkerung zudem einen Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn der Plan Colombia richtig entfaltet wird. Im Department Putumayo an der Grenze zu Ecuador, wo mit 56.000 Hektar allein über die Hälfte des Koka angebaut wird, vollzogen die FARC eine 83 Tage währende bewaffnete Blockade. Ziel war die Vertreibung der sich dort festsetzenden Paramilitärs, die seit Bekanntwerden des so genannten Antidrogenplans offenbar ertragreiche Pläne für das Land schmieden, sobald die Kokabauern vertrieben sind. Denn vermutet werden umfangreiche Ölvorkommen, die laut einem ehemaligen US-Armeeausbilder in Kolumbien die Hauptmotivation für die Einmischung der USA in dieser unerschlossenen Zone sind.
Während der Blockade waren die BewohnerInnen der Dörfer eingeschlossen. Lebensmittel mussten mit Transport-Flugzeugen der Armee in die Orte gebracht werden. Als die Situation auszuufern drohte, schickte die Regierung Armeeverstärkung in den Putumayo – was auch geplant war.
Im Januar machten daraufhin die Gouverneure der südlichen Provinzen Druck auf die Regierung. Die Situation sei unhaltbar und man fordere eine Änderung der Drogenbekämpfungspläne. Und von ihnen ging nun ein neuer Impuls für die Verhandlungen mit der FARC aus. Bisher fand der Dialog ausschließlich zwischen der Zentralregierung und der Guerilla statt, ohne die betroffenen Departments einzubeziehen. Jetzt wollen sie, sofern der Prozess wieder aufgenommen wird, daran mitwirken.
Und danach sieht es aus, nachdem der Prozess bereits als tot galt. Noch vor Ende Januar wollen FARC und Regierung einen Gefangenenaustausch durchführen. Zudem kündigte die Guerillagruppe an, eine unbestimmte Anzahl weiterer Geiseln freizulassen. In einem Schreiben an die Regierung stellte FARC-Chef Manuel Marulanda Mitte Januar allerdings elf Punkte auf, die teils Zugeständnisse, teils Forderungen sind. Demnach wären die FARC bereit, internationale Beobachter der Zone zuzulassen.
Desweiteren wird in dem Schreiben eine Kommission zur Bekämpfung des Paramilitarismus gefordert, die die tatsächlichen staatlichen Anstrengungen beobachtet und leitet. Selbst in diesem Punkt scheint sich die Regierung jetzt langsam zu bewegen, nachdem sie dieses Thema jahrelang ignorierte. Ob außer politischen Lippenbekenntnissen mehr herauskommt, wird sich zeigen.
Doch zunächst steht die bisher wichtigste Entscheidung noch aus: Wird die FARC-Zone nach dem 30. Januar weiter verlängert oder nicht? Sollte der Friedensprozess vorher wiederbelebt werden, steht dies wohl nicht mehr zur Debatte, und die Rechte im Land würde vorerst die Initiative verlieren – bis zur nächsten Krise. Wenn diese Verlängerung aber nicht verabschiedet wird, käme das einer offenen Kriegserklärung gleich.

Kasten: Panorama der Gewalt

Nach dem schweren Erdbeben in El Salvador bestellte Präsident Francisco Flores 3.000 Särge. Nicht etwa aus einem der nahe liegenden Länder wie Guatemala oder Mexiko, sondern aus Kolumbien. Vielleicht ist es einfach nur die Qualität oder die Gewissheit, dass dort genug dieser Holzkästen zur Verfügung stehen. Die Funerarias sind derzeit wohl die zufriedensten Einzelhändler in Kolumbien.
Denn an Kunden mangelt es nicht: Laut Polizeiangaben starben in dem 40-Millionen-Einwohnerland im letzten Jahr 26.250 Menschen durch Mord. Das sind acht Prozent mehr als 1999. 85 Prozent dieser Todesfälle geschehen durch Schusswaffen, wobei jedes fünfte Opfer ein Kind ist. Im Schnitt wird alle 20 Minuten jemand ermordet. Glück hatten nur weitere 238.277 Menschen, die einem „unnatürlichem Tod” verletzt entkommen konnten.
Die höchste Steigerung in dieser Quote erfuhren die Massaker. Offiziell wurden 205 verübt, bei denen 1.226 Menschen starben. 32 Prozent mehr als 1999.
Unter „nur” zehn Prozent verbucht die Polizei den Anteil an politischen Morden. Darunter befinden sich neben Bürgermeistern und Journalisten über 90 Gewerkschafter, die durch sicarios mundtot gemacht wurden.
Auch an lebenden Opfern mangelt es nicht: 3.029 Menschen wurden entführt, 432 gelten aus politischen Gründen als vermisst. Kolumbien verzeichnet außerdem knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge. Laut der Menschenrechtsorganisation CODHES verließen letztes Jahr 228.000 Menschen ihr Land oder wurden vertrieben. 93.216 aus klar politischen Gründen. Sollte in Zukunft die militärische Operation „Neuer Horizont_, stark verwurzelt mit dem Plan Colombia, im Department Putumayo zur Drogenbekämpfung beginnen, rechnet die Organisation mit 190.000 Flüchtlingen allein aus dieser Provinz. Das ist mehr als die Hälfte der ganzen dortigen Bevölkerung.
Wer es gar nicht mehr aushält, sucht den Weg ins Ausland. Laut einer Zeitungsumfrage wollen 41 Prozent der Bevölkerung Kolumbien verlassen. Wegen der anhaltend hohen Gewalt und der prekären wirtschaftlichen Situation: Kolumbien hat mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 21 Prozent die höchste auf dem ganzen Kontinent. Knapp 250.000 Menschen haben das Land dieses Jahr verlassen, in den letzten fünf Jahren über eine Million.
Der wohl Einzige, der das Jahr 2000 als „ein gutes Jahr” gesehen hat, war Präsident Pastrana.


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