Zwischen Unnachgiebigkeit und Selbstisolierung
Seit 20 Jahren gehen die Mütter der Plaza de Mayo
Auf der Plaza de Mayo, auf ihrem Platz, finden sich jeden Donnerstag die Mütter, Großmütter und andere Familienangehörige der während der Militärdiktatur (1976-83) “Verschwundenen” zusammen mit SympathisantInnen ein. Es ist eine zum Symbol für Menschenwürde gewordene halbe Stunde – Donnerstag für Donnerstag, von halb vier bis vier Uhr. Es ist ein andächtiges Gehen über die Pflastersteine, auf die alle paar Meter das weiße Kopftuch gemalt ist. Das weiße Kopftuch als Symbol für den Frieden und gegen den Terror. Gegen das Vergessen des Terrors.
Am 30. April 1977, während der blutigsten Zeit der argentinischen Militärdiktatur, trafen sich einige Mütter zum ersten Mal auf dem Hauptplatz von Buenos Aires, der in Erinnerung an die Revolution vom 25. Mai 1810 “Maiplatz”, Plaza de Mayo, heißt. Enttäuscht angesichts der vergeblichen Suche nach ihren “verschwundenen” Kindern, ohne Auskunft auf den Polizeistationen, im Innenministerium oder an anderen Stellen.
Einige Mütter entschieden schließlich, zusammen nach ihren Kindern zu suchen. Bei den teilweise bestehenden Menschenrechtsgruppen fühlten sie sich nicht gut aufgehoben, “es gab immer einen Schreibtisch zwischen uns, es hatte immer etwas Bürokratisches”, wie die Präsidentin der Vereinigung Mütter der Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, sagt. “Aber auf dem Platz, da waren wir gleich, allen haben sie Kinder weggenommen, alle waren wir auf der Suche, alle gingen wir zu den selben Stellen. Deshalb haben sich die Mütter zusammengefunden. Bald wurde der Donnerstag festgelegt, halb vier Uhr auf dem Platz. Mitte Juni 1977, als wir so 60 bis 70 Mütter waren, kam ein Polizist und sagte, daß der Ausnahmezustand bestehe und wir uns hier nicht versammeln könnten. Wir müßten zumindest gehen. Und so fingen wir an, um die Maiensäule zu gehen.”
Als eine Mutter einmal verhaftet wurde, gingen die anderen mit zu dem Polizeigebäude und verlangten, eingesperrt zu werden. Eine Mutter, alle Mütter. So verhinderten sie immer wieder längere Verhaftungen. Als damals der US-amerikanische Regierungsvertreter Terence Todman nach Argentinien kam, protestierten die Madres als einzige öffentlich. Soldaten umstellten die Mütter und forderten sie auf, den Protest aufzulösen. Als sie sich weigerten, sagte der Befehlshaber “Anlegen!”. Und die Madres riefen “Feuer!” Das erregte bei den anwesenden internationalen MedienvertreterInnen Aufmerksamkeit. Sie kamen von der Casa Rosada herüber und wurden so auf den Protest aufmerksam. Immer wieder nahmen die Madres an Jubelfeiern oder Demonstrationen für die Militärregierung teil, um anderen mitzuteilen, was im Land vorging.
In der Welt bekannt – zu Hause verschwiegen
Und im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 nahm die Repression eneut zu. Das Land sollte sich von “seiner besten Seite” zeigen, weswegen das sportliche Großereignis auch mit der Olympiade 1936 in Berlin verglichen wurde. Die Armenviertel, die an den Wegen lagen, auf denen sich die ausländischen Besucher bewegten, wurden mit Bolldozern plattgemacht, die dort lebenden Menschen verjagt. Die Mütter wurden bei ihren wöchentlichen Protesten geschlagen und immer häufiger festgenommen. Am schmerzlichsten war, so Hebe de Bonafini, daß die Jubelorgie von der Bevölkerung mitgetragen wurde, daß die argentinischen Medien kein Wort über die Diktatur verloren. Dafür kamen verstärkt ausländische Medien ins Land, von denen einige auch über die Madres berichteten. Die holländischen Nationalspieler gingen sogar ganz bewußt zur donnerstäglichen Manifestation, um ihre Solidarität zu bekunden. Und nicht umsonst wurde bald in Holland das erste Solidaritätskommittee gegründet. Während die Madres längst in der ganzen Welt bekannt waren, nahm die argentinische Gesellschaft erst gegen Ende der Militärdiktatur Notiz von dem seit Jahren währenden Kampf.
Das weiße Kopftuch, das Symbol der Madres: “Con vida se los llevaron, con vida los queremos – Lebend sind die gegangen, lebend wollen wir sie zurück.”
Erfolge und Spaltung
Die inzwischen politisch erfahrenen Mütter standen in der ersten Reihe, als es ab 1982 um die Art und Weise der Demokratisierung ging. Und sie haben nicht zuletzt dazu beigetragen, daß in Argentinien zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas die Militärs sich nachträglich vor einem zivilen Gericht verantworten mußten – und verurteilt wurden. Den Bericht Nunca Más! der CONADEP lehnten die Mütter ab. Er berichte zwar viel über die Opfer und über das System des Terrors, aber sage nichts über die Täter. Die nationale Kommision für die Verschwundenen CONADEP wurde 1983 von der Regierung Alfonsín eingerichtet.
In den 80er Jahren spalteten sich an der Frage des Umgangs mit der Vergangenheit durch die Alfonsín-Regierung auch die Madres. Eine Linie, die “Gründerinnen” (Línea Fundadora), sah es als durchaus legitim an, die vom Staat erkämpften Zugeständnisse zu akzeptieren. Besonders um die Fragen, ob Entschädigungen akzeptiert werden sollen oder nicht, ob Ausgrabungen und die Identifikation der Leichen zugelassen werden sollen, ob Verhandlungen mit der Regierung Sinn machen, entbrannte der Streit. Einige meinten, daß das eine individuelle Entscheidung sein müsse, Entschädigungen und Ausgrabungen zu befürworten. Andere argumentierten, daß erst die Täter benannt und verurteilt werden müßten. Die Annahme von Geld und die Untersuchung der Überreste gehe darüber hinweg und akzeptiere Tatsachen.
Ein schmerzhafter Prozeß begann, der schließlich zur Trennung der Mütter in zwei verschiedene Organisationen führte. Auf der einen Seite die Línea Fundadora, die Gründerinnen, die individuelle Entscheidungsmöglichkeiten offen lassen wollen. Auf der anderen Seite diejenigen mit der unnachgiebigen Position in der Asociación Madres de Plaza de Mayo um Hebe de Bonafini, die öffentlich präsenter und in der Regel als Madres bekannt sind.
Auch die Großmütter der Kinder von Verschwundenen, die Abuelas de Plaza de Mayo, hatten sich organisiert. Viele Gefangene hatten kleine Kinder oder waren gar schwanger und gebaren vor ihrer Ermordung. In vielen Fällen adoptierten Militärs die Säuglinge. Auch andere Familienmitglieder schlossen sich in den 80er Jahren zusammen, um für die Aufklärung des Schicksals ihrer verschwundenen Verwandten zu kämpfen.
Die Mütter sind heute ein Symbol für Menschenrechte in aller Welt. Sie selbst sind natürlich alt geworden. Ihre Kinder waren damals Mitte/Ende der 70er Jahre selbst mindestens 15 Jahre alt. Hebe de Bonafini ist zweifellos der politische und intellektuelle Kopf der Madres. Zwei Söhne und eine Schwiegertochter von ihr sind “verschwunden”, und sie sagt von sich, daß sie durch den Verlust ihrer Kinder erst geboren wurde. Erst damals sei sie politisiert worden und trage die politischen Überzeugungen ihrer Kinder weiter.
Die Madres der Asociación haben ein politischeres Verständnis von Geschichte, während die Gründerinnenlinie sich eher als “klassische” Menschenrechtsgruppe versteht und ihre legitimen Rechte einklagt. Die Mütter der Asociación kämpfen nicht nur gegen das Vergessen, sondern gegen einen gesellschaftlichen Zustand, der das Vergessen zuläßt. Gegen die ständige subtile Drohung, daß endlich Ruhe einkehren müsse, um die Mörder nicht wieder zu provozieren. Sie spielen im Kampf gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit neoliberaler Politik und des globalen Marktes, denen sich offenbar alles zu unterwerfen hat, eine wichtige Rolle. Sie beziehen sich wie viele andere Gruppen auch auf die kollektiven Erfahrungen, die zu Beginn der 70er Jahre gemacht wurden: Daß nämlich eine breite Politisierung und demokratische Organisierung die herrschenden Strukturen durchaus in Frage stellen können. Diese Möglichkeit, die in Zeiten großer Mobilisierungen und umfassender Lernprozesse besteht, mußte physisch vernichtet werden. Das war die Essenz des Militärputsches von 1976.
Aber an einer Erfahrung kommen auch die Madres nicht vorbei: Daß nämlich nicht nur sie allein aufgrund ihrer Erfahrungen die politischen Strategien und Kampfformen bestimmen können, daß sie nicht allein festlegen können, was Radikalität in Zeiten des Neoliberalismus heißt.
Zwischen Instrumentalisierung und Selbstisolierung
Das Dilemma zwischen der politischen Bedeutung der Madres und der Unnachgiebigkeit ihrer Positionen wurde zum 20. Jahrestag des Putsches offenbar. Der 24. März 1996 fiel auf einen Sonntag und ein breites Bündnis von über 200 politischen, sozialen und Menschenrechtsgruppen, von linken Parteien und unabhängigen Gewerkschaften rief zu einer Kundgebung auf, an der über 100.000 Menschen auf der Plaza de Mayo teilnahmen. Die Madres der Asociación besetzten bereits am Donnerstag vorher den Platz und veranstalteten eine dreitägige Manifestation. Zum abschließenden Rockkonzert Samstagnacht kamen ähnlich viele und junge Menschen, die größtenteils auch am Sonntag wieder da waren. Samstagnacht hielt die Präsidentin Hebe de Bonafini eine mitreißende Rede gegen das Vergessen und gegen die Art der Aufarbeitung der Vergangenheit. Am Sonntag dagegen war die Asociación nicht unter den aufrufenden Gruppen zur Großdemonstration. Das politische Spektrum sei ihnen zu breit gewesen, viele aufrufende Gruppen würden sich nur pro forma anhängen und hätten ansonsten keine radikale Position in Sachen Menschenrechte. Die anderen Frauen der Plaza de Mayo, die Mütter der Gründerinnenlinie, die Großmütter, die Familienangehörigen, sie alle riefen mit auf. Und: Kaum jemand hat es bemerkt. Fast alle wähnten die Mütter der Asociación dabei, nahmen deren Selbstisolierung nicht wahr.
Gegen die Vereinnahmung
Manche schieben diese Art der Politik auf die ziemlich resolute Hebe de Bonafini, andere auf die Enttäuschung über die Entwicklungen in den letzten zehn Jahren. Das Dilemma besteht aber auch darin, daß die Madres sich immer wieder gegen Versuche der Vereinnahmung und Instrumentalisierung wehren mußten. Eine der weltweit bekanntesten und integersten Menschenrechtsgruppen, mit der sich die Mächtigen gerne mal publikumswirksam ablichten lassen und das Wort Menschenrechte im Mund führen. Aber, so die Kritik vieler, Bündnisse führen ja nicht zur Aufgabe der eigenen politischen Positionen.
Menschenrechtspolitik ist in der Tat nicht gleich Menschenrechtspolitik. Wenn die Mütter bis heute Aparición con Vida (etwa: Sie sollen lebend zurückkommen) auf dem großen Transparent bei Demonstrationen vor sich hertragen, dann bedeutet das vor allem die Infragestellung “des Systems”. Das System, das nicht nur in einer bestimmten Zeit gefoltert und gemordet hat, sondern das heute mit anderen Mitteln Menschen tötet, das Hunger und Armut vor allem bei Kindern erzeugt – wogegen schon die eigenen Kinder der Madres gekämpft haben – hängt mit der grundlegenden sozialen und politischen Verfaßtheit Argentiniens und der Welt zusammen. Das ist die Botschaft. Und politisch folgt daraus, Widerstand dagegen zu organisieren. Deshalb akzeptieren die Mütter der Asociación vom “System” weder Entschädigungen, noch Verhandlungen mit der Regierung, weder Ausgrabungen der Leichen zu ihrer Identifikation, noch die Begnadigung der Militärs.
Die kämpferischen Mütter werden nicht so schnell zur Geschichte gehören, sondern weiterhin einen schmerzenden Stachel der Vergangenheit im heutigen Argentinien bilden. Doch wenn Radikalität den Blick für Bündnisse und demokratische Politik verliert, stellt sich sie sich selbst in Frage. Die Mütter verschenken damit vielleicht eine wichtige Rolle, indem sie sich zu stark von Bündnissen ausschließen und zu sehr von anderen Gruppen die Übernahme ihrer Positionen fordern. Ihre politische Unnachgiebigkeit verstehen auch viele derjenigen nicht, die sich den Müttern solidarisch verbunden fühlen. Ob die Madres um Hebe de Bonafini solch einen Lernprozeß nochmal durchmachen werden, ist fraglich. Was jedoch den Respekt vor dem zwanzigjährigen Kampf mit einem sehr radikalen Verständnis von Menschenrechten nicht mindern sollte.