Editorial | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Allende, Farías und LN

Linke Mythen entlarven. Fakten liefern. Die unbequeme Wahrheit aussprechen. In diesem Tenor inszenierte der chilenische Literaturwissenschaftler und Philosoph Víctor Farías Anfang Mai hierzulande seine jüngste wissenschaftliche Publikation über Salvador Allende. Die „unbequeme Wahrheit“, die er der Welt und vor allem der Linken zu überbringen hatte: Salvador Allende sei seit seinen Studentenjahren und bis zu seinem Tod während des Militärputsches 1973 ein brutaler Rassist und Antisemit, ja sogar Nazi gewesen. Fast die gesamte Presse übernahm unkritisch Farías‘ Darstellungen und sprach vom „Ende einer linken Ikone“. Inzwischen ist der Fall Allende allerdings eher zum Fall Farías geworden. Einer näheren Prüfung hält seine zentrale These der Kontinuität nicht stand.

Ein abschließendes Urteil über die medizinische Doktorarbeit des jungen Allende von 1933 wollen und können wir an dieser Stelle nicht fällen. Kritisch gegenüber dem biologistischen und eugenischen Gedankengut seiner Zeit war er sicherlich nicht. Das herausgearbeitet zu haben, ist Farías‘ Verdienst. Klar und viel wichtiger aber ist: Weder Allendes Regierungspolitik vier Dekaden später noch das kollektive sozialistische Projekt der Unidad Popular (UP) trugen irgendwelche rassistische oder antisemitische Züge.

Höchst problematisch an Farías‘ Verunglimpfung der Person Allende ist aber gerade die Kurzschließung von Person und Projekt nach dem Motto „Große Männer machen Geschichte“. Ein Phänomen, das sich in der Presse in Form von Rufen nach der Notwendigkeit, die Geschichtsbücher umzuschreiben und Straßen umzubenennen wiederholte, während gleichzeitig die chilenische Geschichte in den Berichten merkwürdig abwesend war. Ob hier die Lust nach plakativen, sensationsheischenden Schlagzeilen ausschlaggebend war oder die Lust an der Abrechnung mit linken Bewegungen, sei einmal dahin gestellt. Dass auch die konservative Presse solch ein großes Interesse an Farías‘ Publikation fand, lässt auch Letzteres vermuten.

Politisch noch schwerwiegender ist allerdings, dass es Farías mit seinem Rassismusvorwurf um viel mehr geht, als um den vermeintlichen Rassismus und Antisemitismus Allendes. Ein Blick auf die Interviews, die Farías gegeben hat, lässt das deutlich zu Tage treten. In denen wurde er nämlich nicht müde, darauf zu pochen, dass das sozialistische Projekt ein selbstmörderisches Verbrechen war, weil es unweigerlich einen Putsch von rechts provozieren musste. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eine differenzierte historische Analyse beziehungsweise ein Rückblick auf Fehler und Naivitäten der eigenen linken Vergangenheit sieht anders aus.

Seine begrüßenswerte Absicht, mit seiner wissenschaftlichen Forschung der Heroisierung historischer Persönlichkeiten entgegen zu wirken, gerät in eine Schieflage, weil Farías sich selbst als einsamen Helden stilisiert, der es auf sich nimmt, der Welt die bittere „Wahrheit“ zu überbringen. Gegenüber WissenschaftlerInnen, die verkünden, die einzige, weil objektive Wahrheit über die Geschichte zu besitzen und jenseits von politisch-ideologischen Färbungen einfach nur neutrale Fakten zu liefern, ist Vorsicht geboten. Denn beides sind selbst Ideologien.

Die Lateinamerika Nachrichten haben sich als Chile-Nachrichten aus kritischer Solidarität mit dem emanzipatorischen Projekt der Unidad Popular für eine gerechte und selbstbestimmte Gesellschaft 1973 kurz vor dem Militärputsch gegründet. Sie verabschieden sich nicht von diesem Teil ihrer Geschichte. Im Gegenteil, unsere kritische Solidarität gehört auch mehr als dreißig Jahre später emanzipatorischen Bestrebungen wie denen der UP. Ihnen und keinen Einzelpersonen sieht sich unsere Berichterstattung verpflichtet. Helden brauchen wir dafür keine.

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