Editorial Ausgabe 198 – Dezember 1990
Wieder einmal hat uns beim Erstellen der LN die unerträgliche Nähe des Hier-Seins eingeholt: Während wir über die Zukunft des Sozialismus nachdenken wollten, bereitete ein bürgerkriegsmäßiges Polizeiaufgebot besetzten Häusern in Ostberlin ein Ende. Als in Berlin aktives politisches Kollektiv halten wir es für notwendig zu diesen Ereignissen Stellung zu beziehen.
Die mit militärischen Mitteln durchgeführte Räumung mehrerer besetzter Häuser in Ostberlin stellt einen Angriff auf von uns selbst bestimmte Lebensformen dar. Sie richtet sich gegen jede/n die/der versucht eigene Formen des Zusammenlebens – arbeitens und -denkens gegen die vorherrschende politische Stimmungslage durchzusetzen. Bei der Lösung der gerade begonnenen Konflikte wurde von vornherein auf die kompromißlos harte Linie gesetzt. Die praktizierte Eskalationsstufe stellte die von der CDU bekannte und gewohnte Linie in den Schatten: Die Räumung wurde mit Hilfe des Bundesgrenzschutzes, Sondereinsatzkommandos, scharfen Schüssen, Gummigeschossen, Brandsätzen, riesigen Räumpanzern und aus dem Bundesgebiet zusammengezogenen Polizeikräften durchgesetzt.
Seit dem Frühjahr 1990 sind im Ostteil Berlins über 110 Häuser besetzt worden, um den auch dort bestehenden Leerstand offenzulegen. Gleichzeitig war dieses Mittel eine praktische Folge der Wohnungsnot. In den folgenden Monaten haben sich dort politische Projekte entwickelt, die eine alternative Wohn- und Lebenskultur praktisch werden ließen. Seit der Besetzung gab es unterschiedlichste Verhandlungen der im BesetzerInnenrat zusammengeschlossenen Häuser mit Magistrat, Verwaltung etc.. Das Ergebnis dieser Bemühungen waren Hinhaltetaktik und Spaltungsversuche. Das Thema selbst wurde nicht angegangen mit dem Konzept, das diese “Angelegenheit” ohnehin anders gelöst werden würde. Frech und unverfroren log Berlins Bürgermeister Momper mit der Unterstellung der Nicht-Verhandlungsbereitschaft der BesetzerInnen in die Kamera und will sich im Wahlkampf damit profilieren, “Ruhe und Ordnung zu schaffen”. Dabei scheut er nicht davor zurück, HausbesetzerInnen als angeblich rücksichtslose GewalttäterInnen zu kriminalisieren.
Ziel des militärischen Vorgehens der politisch Verantwortlichen ist es, jetzt und hier keine politische Aktionen und Lebensformen, die eine Alternative zu dem vorherrschenden politischen und ideologischen Geist der Zeit darstellen, zuzulassen. Wir halten es für notwendig, durch Präsenz auf der Straße und offensives Vorgehen unmittelbaren Druck auszuüben, um weiterhin unsere Freiräume zu behaupten. Dazu gehört die Forderung nach Rückgabe der geräumten Häuser und Stop der gewalttätigen Räumungs- und Einschüchterungspolitik.
Vor einem Jahr hatten wir – nach dem Fall der Mauer – ein Editorial recht trotzig mit “Sozialismus – was sonst!” überschrieben. Natürlich war und bleibt es richtig, daß der Kapitalismus in Lateinamerika wenig überzeugende Ergebnisse zeigt. Dennoch – die Frage, wie heute noch eine Alternative zum Kapitalismus vorstellbar und vor allem politisch machbar sein könnte, muß neu gestellt werden. Wir versuchen in diesem Heft, den Diskussionsprozeß der lateinamerikanischen Linken aufzugreifen.