Editorial | Nummer 234 - Dezember 1993

Editorial Ausgabe 234 – Dezember 1993

Eine Bananenschale schwimmt in einer kleinen Pfütze, die der Tankwagen hinter-lassen hat. Einmal die Woche bringt er Wasser. Ein Luxusgut -zu Wucherpreisen. Hütten, konstruiert aus Strohmatten und ein paar Ziegelsteinen. Obendrauf Dächer aus Wellblech und immer wieder Fernsehantennen. Das penetrante Knattern des Stromgenerators ist zu hören. Ein kollektiver Seufzer aus vielen tausend Bäuchen überflutet die Poblacion. 20.59 Uhr.
Gerade eben hat Maria beschlossen, die Untreue ihres Geliebten Jorge mit Flucht zu bestrafen. Der anschließende Werbe- block geht in einer vieltausendstimmigen Diskussion unter. Zweifel, ob sie Jorge nicht noch eine weitere Chance hätte geben sollen, schwirren noch lange über den Dächern Villa EI Salvadors, Lima, Peru. In Villa E1 Salvador wurde der Fernseher unter großen Mühen über den informellen Markt organisiert. Kein fließend Wasser, aber in vielen Hütten ein Fernseher …
Wenn von Medien in Lateinamerika die Rede ist, dominiert in den Köpfen vieler Europäerlnnen die romantische Vorstellung von Indios im brasilianischen Dschungel, die mit hypnotisiertem Blick ein quäkendes Transistorradio beäugen. In etwas weniger klischeehafter Form gibt es natürlich immer noch dieses “Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen “. Doch in wachsendem Ausmaß globalisiert sich die Medienkultur.
Es ist viel über die Kolonisierung der Köpfe geredet und geschrieben worden, über die sexistischen und rassistischen Botschaften der Medienbilder. Von Donald Duck bis Dallas reichte die Palette der Exportschlager, die in Lateinamerika von der Kulturkritik so richtig auseinander- genommen wurden. Alle Hoffnung lag auf einer authentischen, lateinamerikanischen Medienkultur, die nach dem Sieg über den medialen Yankee-Imperialismus beginnen sollte. Heute ist Ernüchterung eingekehrt. Wenn, wie es Thomas W. Fatheuer in “lch glotz TV ” beschreibt, kein Ereignis Brasilien so sehr beschäftigt wie die letzte Folge einer Telenovela, muß neu nachgedacht werden. Ist die Telenovela das lateinamerikanische Derivat der Volksopiate? Gila Klindworth zeigt in “Der Telenovela-Streit “,wie kontrovers die Diskussionen in der Novela-Fabrik Mexiko verlaufen.
Die Welle der Kommenialisierung hat Lateinamerika erfaßt. Radio Venceremos und Radio Farabundo Martí, die einstigen Guerillasender der FMLN in EI Salvador, kämpfen nun um Werbegelder, wie Reimar Paul in “Kommerzialisierung ohne Aus-verkauf” zeit. Mehr denn je produzieren Lateinamerinerlnnen heute für Lateinamerikanerlnnen. Trotzdem sind Bereiche wie der einstmals starke lateinamerikanische Film in großen Schwierigkeiten -Bettina Bremme beschreibt den “Gerupften Vogel”. In den USA boomt derweil das spanischsprachige Fernsehen. Eine “Grenzenlose Zukunft ” bei “Begrenzten In-halten” hat Martin Ziegele entdeckt, als er sich durch die Programme zappte.
Der Neoliberalismus schlägt sich auch im Mediensektor in einer beispiellosen Welle der Deregulierung und Privatisierung nieder. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Alternativmedien in diesem Tohuwabohu veranschaulicht Deidre McFa-dyen’s “Rein in die öffentliche Debatte”. Die “Vernetzung lateinamerikanischer Nachichtenagenturen” könnte eine Antwort darauf sein; “ein schwieriges Unter-fangen” meint Andreas Behn. Wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen mutet der Kampf der kommunalen Radios in Chile gegen die neue Radiogesetzgebung an -das “Recht des Stärkeren” hat Joachim Göske dort gefunden.

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