Editorial Ausgabe 395 – Mai 2007
Venezuela und Bolivien erhalten Gesellschaft. Über 80 Prozent der ecuadorianischen WählerInnen haben sich am 15. April entschieden, den Weg für eine Verfassunggebende Versammlung frei zu machen. Das „Sí“ gibt Präsident Rafael Correa Rückenwind für sein Projekt: einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie er ihn ein halbes Jahr vor seinem Wahlsieg im Juni 2006 angekündigt hatte. Wie schon in Venezuela und in Bolivien soll nun die ecuadorianische Gesellschaft auf eine neue Grundlage gestellt und „die Republik neu gegründet“ werden.
Dabei hat Ecuador mit Verfassungen reichlich Erfahrung: Die kommende wäre die 21. Verfassung Ecuadors seit 1830. Doch neu ist nicht gleich neu. Bei dem Vorhaben von Correa handelt es sich um ein echtes Novum. Es geht nicht wie bis dato darum, politische Aushandlungsprozesse innerhalb der Oberschicht zu verrechtlichen. Die neue Qualität liegt darin, die bisher – vor allem ökonomisch und rassistisch – ausgegrenzte Bevölkerungsmehrheit an der Macht im Staat zu beteiligen. Dies wiederum impliziert eine Entmachtung der (weißen) Oberschicht, die sich in dem postkolonialen Nationalstaat die Herrschaft über die staatlichen Institutionen und Ebenen bis heute sichern konnte. Nichts weniger als das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und das Selbstverständnis der Nation stehen also auf dem Spiel.
Dass innerhalb von wenigen Jahren schon das dritte Land Lateinamerikas eine Verfassunggebende Versammlung einberufen will, ist kein Zufall. Denn „von oben“ verschärfte der neoliberale Staatsumbau auf dem Subkontinent seit den 1980er Jahren Armut und Exklusion. Zugleich formierten sich in diesen Ländern bei allen Unterschieden „von unten“ Protestbewegungen der Ausgeschlossenen, die die Legitimität des herrschenden Staats- und Gesellschaftsmodells in Frage stellen. Sei es als Protest gegen korrupte Politikerklassen, gegen Privatisierung von Gemeinschaftsgütern oder als Angriff auf rassistische Gesellschaftsordnungen.
Ein Anfang ist gemacht, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In Ecuador beabsichtigt Correa, die Stellung des Präsidenten gegenüber dem Parlament zu stärken, um die korrupte partidocracia – Parteienherrschaft – zu entmachten. Ein Konzept, das nur dann die Demokratie stärken wird, wenn wie beabsichtigt auch die Bürgerrechte vormals politisch marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen gestärkt und die Partizipation der Bevölkerung ausgebaut wird. In Venezuela ist schon seit März 2000 eine neue Verfassung in Kraft, die genau diese Schritte vollzogen hat und zudem die Privatisierung zahlreicher öffentlicher Güter verbietet. In Bolivien soll die Asamblea Constituyente die Institutionen demokratisieren, die Gleichstellung aller ethnischen Gruppen gewährleisten, Landverteilung sowie Ausbeutung der natürlichen Ressourcen regeln und das Verhältnis zwischen Zentralstaat und Bundesstaaten neu verhandeln.
Schöne Vorsätze. Doch jede Verfassung spiegelt zuerst einmal das gesellschaftliche Kräfteverhältnis und das anvisierte Staatsprojekt zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift wider. Weder ihre Lebensdauer noch die konkrete Auslegung und Ausübung des Rechts ist vorherzusehen. Die Kräfteverhältnisse haben sich in Ecuador, Bolivien und Venezuela eindeutig verschoben, was daraus wird, ist ein offener Prozess nicht frei von Widersprüchen.
Die neue Verfassung Venezuelas, die in vielerlei Hinsicht Pate für die noch zu schreibenden Gesellschaftsverträge in Bolivien und Ecuador steht, wurde 1999 unter breiter gesellschaftlicher Partizipation erarbeitet. Heute genießt die „bolivarische Verfassung“ eine Popularität und Akzeptanz, die das alte Vertragswerk von 1961 wohl zu keinem Zeitpunkt für sich beanspruchen konnte.
Das Beispiel Venezuela zeigt aber auch, wie schnell sich die „Krise der Repräsentation“ anderweitig verschärfen kann. Der eingeleitete „bolivarianische Prozess“ ist ohne die Figur Hugo Chávez nicht denkbar. Trotz aller partizipatorischen Fortschritte kann die Lösung nicht darin bestehen, die Repräsentation auf eine Person zuzuspitzen. Auch Correa stärkt zunächst seine eigenen Machtbefugnisse. Aber er betont, kein Modell importieren zu wollen und selbst nur Mittel zum Zweck zu sein, um den Ausbau politischer Mitbestimmung und Teilhabe
voranzutreiben. Daran wird er zu messen sein.